9.Kapitel
17.01.1995.
Noch ganze 45 DM sind auf unserem Konto. Prima! 45 DM- damit kann selbst der
größte Sparer einen Monat hindurch nicht auskommen. Erst ich!
Seit
Tagen sitzen wir nun hier herum und warten auf Frau Wiener. Sie will Karls
Mietsvertrag vorbeibringen. Wäre an der Zeit.
Mich
peinigen Existenzängste.
18.01.1995.
Hilda ist verstorben. Mein Onkel ist gefasst und ruhig. Zeit hatte er ja genug,
sich an ihren Tod zu gewöhnen. Sicherlich werden die Tage danach erst den
Verlust begreifbar machen.
Er
bezahlt mir die Fahrt. Ich soll zur Beerdigung kommen, denn ich bin die einzige
Verwandte seinerseits, die kommen könnte.
1983
war ich für zwei Wochen bei ihm auf Besuch. Kulturschock. Ich hatte zwei Wochen
lang nur einen Knoten im Hals. In unseren Geschäften in Rumänien gab es nichts
zu kaufen und in Österreich zeigte mir mein Onkel importierte rumänische
Lebensmittel, von denen ich keine Ahnung hatte, dass sie überhaupt existieren.
Und noch in dieser guten Qualität. Ich war maßlos enttäuscht. Ich konnte es
nicht fassen, dass man ein Volk hungern lässt und alles, was produziert wird,
dem Ausland in den eh zu vollen Rachen schiebt.
Als
ich nach Hause kam, brach ein Donnerwetter über mich herein. Selbst die
Nachbarn nannten mich eine Närrin, dass ich die Gelegenheit bekam, ins Ausland
zu gehen und nicht daran dachte, auch dort zu bleiben.
Ich
konnte mich nur schwer in der allzu grauen rumänischen Realität wiederfinden.
Und das nach nur zwei Wochen.
Jetzt
kann ich Wien nochmals sehen. Es wäre schön gewesen, wenn unter anderen
Umständen. Aber das ist nun mal das Leben.
19.10.1995.
Habe mich bei so einem Telefondienstdingsda beworben. Ist in der Querstraße.
Mal sehen, was draus wird. Könnte bis zu 500 DM im Monat verdienen. Das wäre
schön!
20.01.1995.
Ekelhafte Rückenschmerzen.
Kann
nicht putzen gehen. Karl will Paul helfen, meine Arbeit zu machen. Doch mir
gefällt das nicht. Er hat es schon versucht, aber er wischt ja nicht, er
verschmiert nur alles. Danach sieht es noch schlimmer aus als vorher. Aber sein
Eifer ist so groß, dass ich ihn nicht bremsen kann. Werde eben morgen
nachsehen, wo ich was ausbessern kann.
21.01.1995.
Putztag in der 2.
Dass
es etwas noch "Schreiberiges" geben kann als die alte Frau Schreiber
hätte ich nicht gedacht.
Paul
ist mir mit den Eimern die fünf Etagen voraus gestiegen. Ich bin noch unten,
als ich eine keifende Stimme höre: "Judenpack, Polen….". Dazwischen
Pauls kleinlaute Einwände.
Ich
bin entsetzt. Denke der Wörtermüll gilt Paul. Als ich aber oben ankomme,
streiten sich hier zwei Nachbarinnen. Paul hat sogar einen 20-er bekommen und
die Schimpfwörter gelten nicht ihm. Aber ich bin nicht mehr fähig an was
anderes zu denken. Das nennt man, denke ich, fremd schämen. Wie kann man einem
anderen Menschen seine Herkunft vorwerfen? Keiner von uns konnte es sich
auswählen, innerhalb welcher Grenzen er zur Welt kommen möchte. Und Menschen
verschiedener Herkunft sind nun mal auf der ganzen Welt verteilt, weil wir
Menschen eben im Inneren noch Nomaden sind. Und es zieht uns dahin, wo wir
meinen, besser leben zu können. Das war schon immer so und wird immer so
bleiben.
Ich
kann manche Menschen auch verstehen, wenn sie anderen Volksgruppen gegenüber
Vorbehalte haben. Das kommt aber meist daher, dass sie Missverständnisse
nichtmal versuchsweise mit normaler Kommunikation angehen.
23.01.1995.
Hätte noch staubsaugen müssen. Keine Energie dazu. Bin in Gedanken schon in
Wien. Dass ich Lora für Tage allein lassen muss, beunruhigt mich kaum. Ich weiß
sie ja in guten Händen bei Paul, Bruder und Schwägerin.
Abends
mit einem Taxi zum Bahnhof Lichtenberg. Schaurige Gestalten hier. Gut, dass
Karl mich begleitet. Wozu hat man einen Bruder? Paul hätte ja eh ein trübes
Gesicht gehabt, wenn er mich hätte begleiten müssen.
Schlafwagenplatz.
Wohlige Wärme. Der Schaffner bekommt 10DM und erklärt mir, wie ich die Tür
sichern kann, damit ich keine unangenehmen Besuche bekomme. In Tschechien sei
man nie sicher.
Als
ob man irgendwo in der Welt sicherer wäre.
In
einem so himmlischen Bett habe ich schon lange, vielleicht noch nie,
geschlafen. Mein Rücken hat sich seit langem nicht mehr so wohl gefühlt. Erst
jetzt merke ich, welch fürchterliche Schlafstätten wir zu Hause haben. Dass
sogar der Schlafwagen mich wohlig erschauern lässt.
24.01.1995.
Franz hätte mich am Bahnhof erwarten sollen. Keiner da. Ich warte eine
zeitlang. Dann nehme ich mir ein Taxi.
Ich
staune, wie bekannt mir alles auch nach zwölf Jahren erscheint. Und damals
meinte ich, wegen des Kulturschocks, dass ich nichts registriert hätte. Wie
pedantisch aber das Unterbewusstsein alles registriert, ohne dass wir es
praktisch wahrnehmen…
Ich
stehe noch eine Weile vor dem Haus, in dem Franz wohnt. So perplex wie vor
zwölf Jahren bin ich nicht mehr. Deutschland, Berlin haben mich in der
Evolution vom Steinzeitmenschen zum Großstadtbürger eine Stufe höher gebeamt.
Franz
kommt an und macht mir Vorwürfe. Ich hätte auf ihn warten müssen. Er stand im
Stau.
Die
Wohnung scheint mir zu kalt und etwas unfreundlich zu sein. Obwohl sie genau so
akribisch aufgeräumt wie früher ist.
Franz
ist gefasst und Hilda ist kaum ein unangenehmes Thema. Er spricht sehr sachlich
über die Jahre mit ihr. Auch wenn ich weiß, dass sie recht dominant war, bin
ich enttäuscht, dass meine so kluge Trostrede ausbleiben muss.
Franz
ist alt geworden. Und etwas trottelig. Mein Onkel, der einst so schöne Franz.
Als
ich abends neben ihn ins Ehebett steigen muss, sträuben sich alle zu sträubende
Sachen an und in mir.
25.01.1995.
Herbstliche Atmosphäre. Es nieselt. Die nasse Kälte dringt mir durch Mark und
Bein. Ich bin zu dünn gekleidet. Merke es nur zu spät.
Marmorne
Halle, heller Sarg, Kerzen und Lichter. Leute schütteln uns beileidig die
eisigen Hände. Ein Weinen übermannt mich plötzlich.
Hilda
war, bei all ihren Eigenheiten, für uns in Rumänien der gute Engel gewesen. Die
Besuche, immer mit all den wundersamen Gaben aus dem Ausland…Sie brachte mit
ihrer Schönheit und Selbstsicherheit auch immer ein wenig Träumen ins Haus.
Ade,
Hilda. Oder auf Wiedersehen? Wer weiß das schon?
Im
Restaurant. Ein Tee, den ich nicht mag. Aber er wärmt. Und Topfenstrudel. Neben
mir ein Verwandter von Hilda. Ein selbstgefälliger, arroganter Geselle. Ich
empfinde die Kälte verschärft. Auch die Wiener sind nicht alle die
gemütlichsten.
26.01.1995.
Ein herrliches Frühlingswetter. Konnte das gestern nicht auch sein?
Wir
fahren zum Südbahnhof. Fahrscheine lösen, weil ich schon am Abend zurück will.
Dann geht's zur alten Donau, wo Franz ein Weekendhäuschen stehen hat. Alles ist
mir unheimlich vertraut. Als wäre ich gestern hier gewesen.
Zu
Hause sehe ich mir dann die alten Dias an. Sie sind auf der ganzen Welt
herumgeschippert. Entdecke ein Dia von meiner geliebten Oma. Hatte nie ein Foto
von ihr. Franz schenkt es mir.
Er
sagt, sie hätten mich schon als Kind adoptieren wollen. Meine Eltern wollten es
nicht.
Ich
glaube, er möchte mich auch jetzt noch adoptieren. So fühlt es sich an. Aber
ich habe meine Enkelin zu versorgen. Paul spielt keine große Rolle, aber Lora
kann ich nicht verlassen. Jeder von uns deutet nur ansatzweise auf seine
Optionen hin. Ein offenes Gespräch ist was anderes.
Die
Wohnung bedrückt mich. Franz mit seinen unausgesprochenen Erwartungen bedrückt
mich. Wenn ich gewusst hätte, warum er mich eigentlich nach Wien bestellt hat,
wäre ich nicht gekommen. Ich liebe Wien und es wäre schön hier zu leben. Aber
ich kann mein Leben in meiner jetzigen Situation nicht in andere Bahnen lenken.
Er
drückt mir 600DM in die Hand. Dann fahren wir, zwei Stunden früher, zum
Bahnhof.
Damals,
vor 12 Jahren, als der Zug gen Rumänien fuhr, weinte ich bitterlich. Ich dachte
mir, nie wieder werde ich Wien oder überhaupt das Ausland sehen. Damals mussten
noch die ausländischen Verwandten Geld schicken, damit wir außer Land reisen
durften. Und ich durfte damals reisen, weil ich, wegen meinen
Nervenzusammenbrüchen nicht mehr angestellt war.
Jetzt
weine ich nicht. Aber mein Herz ist schwer. Weil ich weiß, dass ich Franz'
Erwartungen nicht gerecht werden kann.
Im
Zug funktioniert die Heizung nicht. Es ist eine kalte ungemütliche Nacht.
27.01.1995.
Mit dem Taxi durch halb Berlin. Ich habe den Eindruck, der Fahrer benutzt alle
Umwege, die er nur erreichen kann. Ich könnte ihn würgen. 45DM muss ich zahlen.
Ich weiß, er hat mich betrogen. Aber ich bin zu müde und unsicher, um mich zu
wehren.
Meine
Wohnung ist mir in den drei Tagen fast fremd geworden. Aber ich finde sie
schöner als beim Weggehen. Jedenfalls ist sie freundlicher, als die in Wien.
Bin
müde zum Umfallen. Aber es zieht mich, mal ordentlich sauber zu machen. Erst am
späten Nachmittag bin ich fertig mit dem Putzen und Schrubben.
Karl
ist mittlerweile schon halb in die neue Wohnung gezogen. Zwar haben sie mich
nicht sonderlich gestört, aber es wird schön sein, wieder mehr Platz zu haben.
Scheinbar
müsste ich öfter vereisen, damit ich merke, wenn ich wieder zurück bin, wie
schön ich es habe.
1.2.1995.
Hab es mit diesem Callcenter versucht. Das wird wohl nichts! Ich bekam volante
Seiten aus einem Telefonbuch vorgelegt. Musste da reihenweise fremde Menschen
anrufen. Sie bequatschen. Ihnen was vormachen. Hätte ich gewusst, was mich
erwarte, hätte ich den Job nicht angenommen. Doch gut, dass ich keine Träume in
ihn investiert hatte. Ein Verlust, der mich nicht ärmer macht. Aber ruhiger.
Na, dann mal alles mit der Ruhe.
2.2.1995.
Die Chefin aus dem Callcenter hat mich überredet, es erneut zu versuchen. Ich
versuche es also nächste Woche nochmals.
Habe
heute alleine geputzt. Bin zwar ermüdet, aber zumindest bin ich sicher, dass
alles ordentlich gemacht wurde. Die Männer schlampen nur.
6.2.1995.
Habe die mühsam ersparten 1800DM vom Sparkonto aufs Girokonto überweisen
lassen. Ich will keine Schulden. Weder bei der Sparkasse, noch sonst wo. Wie
lange wird es dauern, bis ich wieder 1800DM beisammen haben werde?
War
mit Karl bei der Anmeldestelle.
Dann
versuche ich es wieder mit dem Telefonieren. Aber ich sitze da mit einem
hochroten Kopf und wahnsinnigen Hemmungen vor jedem Telefonat. Ich soll jedem,
der ans Telefon geht, denselben Text vorlesen und dieselbe Überzeugungstaktik
aufbringen. Dabei fühle ich mich nach jedem Anruf unsicherer und erbärmlicher.
Das ist nichts für mich. Ich gebe definitiv auf.
Am
Nachhauseweg habe ich den Eindruck, mein Gesicht wird bersten. Alles Blut
scheint sich als Schamröte in meinem Kopf angesammelt zu haben.
7.2.1995.
Bin mit Karl bei der Sparkasse. Für ihn ein Konto eröffnen. Dann bei der
Krankenkasse. Hier haben wir leider keinen Erfolg. Muss telefonisch seine
Unterlagen aus dem Lager anfordern. Eine Menge Korrespondenz für ihn erledigt.
Landesamt, Rentenkasse, Rundfunk, Kabelanschluss, Strom anmelden.
Einzugsermächtigungen überallhin. Der ganze Tag geht so dahin mit Telefonieren
und Schreiben. Und da höre ich ihn noch zu seiner Frau sagen:
"
Das ist nicht mehr normal, die sitzt den ganzen Tag über am Telefon."
Da
meine Nerven eh schon überstrapaziert sind, trifft mich diese Bemerkung wie ein
Schlag. Ich erwarte keine Dankbarkeit. Ich empfinde das was ich mache als
selbstverständlich. Diese abwertende Bemerkung aber treibt mir die Tränen in
die Augen.
9.02.1995.
Ach ist das heute ein schöner Tag. Zwei Häuser auf einmal hab ich geputzt. Bin
zwar hundemüde. Aber voller Genugtuung.
Wally
fühlt sich unwohl. Kein Wunder bei dieser Krankheit. Es tut mir so leid.
10.2.1995.
Mit Karl am Sozialamt. Auch das haben wir endlich geregelt. Dienstag neuer
Termin. Mir graut es schon davor. Sozialamt ist für mich das Schlimmste, das
einem passieren kann. Es ist der einzige Ort, wo es drunter und drüber geht.
Stundenlang warten. Das reinste Chaos. Für mich demütigend. Gut, dass ich
persönlich damit nichts mehr zu tun habe.
11.2.1995.
Paul sieht mich seit Tagen böse an. Was ich so groß verbrochen habe, weiß ich
nicht. Es kränkt mich riesig, dass ich nicht weiß, was er hat. Er spricht aber
nicht mit mir, wenn ich danach frage. Mit Karl sitzt er stundenlang im Keller.
Vielleicht klagt er ihm ja sein Leid. Schön wäre es nur, wenn er zu mir auch
etwas mehr Vertrauen hätte.
12.2.1995.
Nasenbluten. Aber ordentlich. Was soll das bedeuten? Nasenbluten eben.
Paul
steckt schon wieder in der Küche. Ich bin arbeitslos. Ich hasse diese Sonntage.
Ich kann ihm die Küche nicht ab streitig machen. Leider muss ich jedes Mal eine
Grundreinigung vornehmen, wenn er fertig ist.
Das
Nasenbluten scheint doch zu etwas gut gewesen zu sein. Es sieht mich aus den
Augenwinkeln schon etwas freundlicher an. Spricht sogar mit mir.
Merkwürdig,
wie man Jahrzehnte hindurch miteinander, aneinander vorbei leben kann.
Seelischen haben wir fast keine Tangenten. Trotzdem ist es schwer, sich ein
Leben ohne dem Partner vorzustellen. Es gibt sicherlich noch mehr Exemplare
unserer Art auf dieser Welt. Ich hätte nicht unbedingt dazugehören wollen.
13.2.1995.
Wally muss ins Krankenhaus. Sie kann kaum noch atmen.
Karl
hatte es nicht leicht mit ihr. Sie war überhaupt nicht häuslich. Ordnung war
auch nicht ihre Stärke. Doch mir gefällt es nicht, dass er sich ihr gegenüber
gerade jetzt so unfair verhält. Richtig ungehalten und arrogant. Sie hat vielleicht
noch paar Monate zu leben. Da könnte er sich doch ein wenig zusammenreißen. Ihr
die paar Tage, die ihr noch geblieben sind, versüßen. Da bewundere ich Paul,
dass er sich so rührend um sie bemüht, ihr alles kauft, auf was sie Appetit
hat. Ihr sogar das Essen in mundgerechte Happen schneidet.
Vielleicht
sind es gerade diese Seiten an ihm, die mich faszinieren. Mit Hilfsbedürftigen
kann er unheimlich sacht umgehen. Ich habe den Eindruck, er wurde geboren, bloß
um allen Menschen um ihn herum zu helfen.
Nur
ich fühle mich aus diesem Kreis immer wieder ausgeschossen. Die Erklärung dazu
fehlt mir.
15.2.1995.
Wally fühlt sich heute besser. Sie hatte Wasser in der Lunge. Das wurde
abgepumpt, sagt sie. Sie atmet wieder frei. Hat einen riesigen Appetit. Doch
wie lange wird das dauern?
Sie
spricht zwar über den Tod, doch ich habe den Eindruck, sie glaubt nicht so
richtig, dass sie bald sterben könnte. Sie hat Hoffnung, dass sie es überstehen
wird. Vielleicht geschieht ihr ein Wunder. Ich wünsche es aus ganzem Herzen.
Karl
ist auf mich angewiesen, wenn er etwas zu erledigen hat. Die meiste Zeit aber
verbringt er mit Paul zusammen. Das beruhigt mich. So haben sie beide einen
Ansprechpartner. Das ist doch schön.
16.2.1995.
Als wir heute Wally besuchen, ist sie grau im Gesicht. Sie fühlt sich den
ganzen Tag nicht wohl. Spricht über den Tod wie über die natürlichste Sache der
Welt. Ich bekomme das Grauen. Kann man im Angesicht des Todes so gleichgültig
sein? Kommt diese Stärke in der Nähe des Todes zu Stande? Weiß Gott, ich fände
es nicht angenehmer, wenn sie weinen und jammern würde. Aber natürlicher.
Trotzdem, Hut ab vor ihr.
18.2.1995.
Putztag. Zwei Häuser wieder sauber. Bin müde, müde, müde. Jedes Atom in mir
schmerzt.
20.2.1995.
Fühle mich miserabel.
Telefonieren
mit meiner Nichte in Rumänien, Telefonieren mit meinem Neffen in Rumänien,
Telefonieren mit meinem Neffen in Stuttgart, Telefonieren mit meinem Sohn,
Telefonieren mit dem Onkel. Ich soll alle verständigen, dass es mit Wally
abwärts geht Ich habe mal wieder einen hochroten Kopf. Dann noch
Krankenhausbesuch. Dadurch fühle ich mich auch nicht besser.
Das
war kein schöner Tag. Dabei schmerzt mir die Ferse am rechten Fuß stark.
23.02.1195.
Müde. Unendlich müde. Karl muss Wally alleine aus dem Krankenhaus abholen.
Heute
habe ich einen faulen Tag eingelegt. Kein putzen, kein säubern, kein kochen,
waschen oder bügeln. Ich balge mich mit Lora herum. Wir blödeln und lachen.
Nachmittags
dann Telefonterror. Alle fünf Minuten klingelt es zweimal, dann wird aufgelegt.
Bis ich irgendwann am ganzen Körper zittere. Ich bin unwahrscheinlich traurig.
Warum kann es nicht immer schön sein in dieser Welt. Immer wieder muss etwas
passieren. Irgendwann ziehe ich den Stecker aus der Dose.
24.2.1995.
Ich bin wahnsinnig aufgewühlt. Wie schon lange nicht mehr. Immer wieder das
Klingeln des Telefons. Ich bekomme wildes Herzklopfen. Wer kann das sein?
Verdächtige die eine oder andere Person im Haus. Aber das bringt mir nichts.
25.2.1995.
Jetzt weiß ich, wer mich in den Wahnsinn getrieben hat. Es war Wally. Sie
wollte mich immer anrufen, doch weil ich nicht gleich ans Telefon ging, legte
sie auf. Sie lernt erst jetzt, mit dem Telefon umzugehen. Weil mir ein großer
Stein vom Herzen fällt, verzeih ich ihr auch. Zum Glück hat sich dieses Rätsel
gelöst. Sonst wäre ich durchgedreht.
27.2.1995.
Karls Töchter aus Rumänien sind hier. Habe sie schon viele Jahre nicht mehr
gesehen. Ich führe sie aus. Auf den Kudamm, durch das KaDeWe. Die Mädels sind
platt vor Verwunderung.
Habe
riesig große Schmerzen in der rechten Ferse. Schon seit Tagen.
28.2.1995.
Ich spiele schon wieder Fremdenführerin. Mit Rita und Gerda laufen wir bis zum
Zoo. Dann mit dem 100- er Bus entlang an Schloss Bellevue, dem Reichstag,
Brandenburger Tor, Berliner Dom, Alexanderplatz. Am Fernsehturm steigen wir aus
und spazieren zu Fuß bis zum Dom. Dabei entdecke ich auch noch so viele Sachen,
die ich vorher nie gesehen hatte. Aus dem Dom wollen die Mädels gar nicht raus.
So begeistert sind sie.
Leider
werden die Schmerzen im Fuß immer größer. Irgendwann kann ich nicht mehr
laufen. Wir müssen den Bus nachhause erreichen. Zuhause bin ich dann
festgenagelt. Kann fast nicht mehr bis ins Bad gehen.
1.3.1995.
Heute klappt es mit meinem Fuß gar nicht mehr. Ich kann nicht mal das Wichtigste
erledigen. Müsste dringend zu einem Arzt. Leider hat der Orthopäde heute keine
Sprechstunden. Jedenfalls meldet sich keiner in unserer Nähe am Telefon.
Trotz
aller Schmerzen gelingt es mir, Gastgeberin für ein Abendessen zu sein. Die
Mädels finden den Tisch traumhaft schön gedeckt. Und mich freut es, dass sie
für alles eine solche Begeisterung aufbringen.
2.3.1995. Aus Versehen habe ich den 30.2.1995 geschrieben. Der erste 30. Februar auf diesem
Planeten.
Muss
trotz meiner Schmerzen mit Karl zur Krankenkasse. Das ist der schlimmste Weg
meines Lebens. Zum Überfluss wird es mir auch noch schlecht in der S-Bahn.
Abends
bei Karl gibt es Grillhähnchen. Eine schöne familiäre Stimmung. Familie ist
doch etwas Schönes. Allerdings, wenn die Familie nicht in streitsüchtiger Laune
ist.
3.3.1995.
Das mit meiner Ferse wird nicht besser. Trotzdem begleite ich die Mädels zum
Bahnhof. Halte mich heroisch. Fühle mich aber sehr unwohl und es ist mir, der
Schmerzen wegen vor allem, zum heulen zumute. Abschiednehmen ist immer etwas
Trauriges. Besonders in diesem Fall wissen wir alle, dass diese zwei Frauen
ihre Mutter nie wieder sehen werden. Auch wenn Wally stirbt, wird es weder
hüben, noch drüben Geld genug geben, um diese Reise zu wiederholen.
4.3.1995.
Lora ist mit den Schönbergs irgendwo auf dem Lande. Die haben dort ein Häuschen
gekauft. Mit Garten und allem Drum und Dran. Mir tut es unheimlich gut, mal
wieder sorglos zu sein. Mich nicht um Lora kümmern zu müssen. Bei aller Liebe
zu ihr, ist es erleichternd, wenn ich auch mal ausspannen darf.
Paul
putzt die "Außenposten". Ich versuchte mich hier im Haus. Schaffe
leider nur zwei Etagen. Mein Fuß macht nicht mit.
5.3.1995.
Mutters Sterbetag. Wally erinnert mich daran. Ich hätte ihn fast vergessen.
Fünf Jahre sind vergangen, seit meine Mutter nicht mehr ist. Wenn ich das Foto
der Eltern betrachte, wie sie in ihrer alten Wohnung friedlich nebeneinander
sitzen, ist es, als sei nie etwas geschehen. Vater und Mutter leben in mir
weiter. Wir sind nur durch Zeit und Raum getrennt.
Vater
mochte keine Kerzen. Ich auch nicht. Trotzdem zünde ich zwei an. Warum, weiß
ich selbst nicht.
7.3.1995.
Bezirksamt. Mit dem Taxi hin. Mit dem Taxi zurück. Direkt zum Arzt. Fersensporn
heißt der Quälgeist. Auch jetzt, wo das Ding einen Namen hat, kann ich mich
damit nicht befreunden. Höllische Schmerzen. Zuhause kann ich keinen Schritt
mehr tun. Habe sogar Pauls Geburtstag vergessen. Es ist wieder Wally, die mich
darauf aufmerksam macht.
8.3.1995.
Heute das zweite Mal Ultraschall bekommen. Ich habe den Eindruck, es hilft. Ich
weiß nicht warum, heute muss ich sehr intensiv an das Ehepaar Gerstl denken.
Egal was ich tue, sie sind ständig in meinem Kopf. Obwohl ich ihn kaum, sie gar
nicht gekannt hatte.
9.3.1995.
Meinem Fuß geht es schon besser. Obwohl er nach jeder Behandlung etwas mehr
schmerzt, legte es sich später. Vielleicht ist nur der Weg bis zum Arzt
beschwerlich. Nächste Woche habe ich die nächste Behandlung. Ich hoffe, dass es
bis dahin schon viel besser ist.
10.3.1995.
Mache mir Sorgen um Karl. Er hat am ganzen Körper ekelhafte Ausschläge. Es
juckt ihn wahnsinnig. Das schlimme ist, dass die Krankenkasse ihm seine Karte
noch immer nicht geschickt hat. Sein linkes Auge ist binnen drei Tagen total
blind geworden. Ob es gar irgendwelche Zusammenhänge gibt zwischen Ausschlägen
und Blindheit?
13.3.1995.
Eine schlaflose Nacht hinter mir. Wally schreckt uns mit einem Anruf aus dem
Schlaf. Karl bekommt keine Luft. Die Feuerwehr bringt ihn ins Krankenhaus. Doch
nach einer Stunde ist er wieder zuhause. Es geht ihm schon besser.
Vormittag
sitze ich stundenlang am Telefon. Versuche für Karl die Geschichte mit der
Krankenkasse zu entwirren.
Seit
zwei Tagen hat Frau Müller ihre Rollläden nicht mehr hochgezogen. Ich rufe die
Polizei. Die Frau liegt tot in ihrer Wohnung. Ich bekomme ihre zwei
ausgehungerten Wellensittiche zur Pflege.
Karl
ist verbissen, aufgebracht. Er scheint mir die Schuld daran zu geben, dass er
nicht im Krankenhaus behalten wurde, dass er den Arzt bezahlen muss, dass ihn
sein Juckreiz verrückt macht. Ich verstehe ihn voll und ganz. Aber die Worte,
die er wählt, verletzen mich. Es ist nicht das erste Mal. Er kann so richtig
boshaft sein. Jahre hindurch stand er in meinem Herzen auf Rang eins. Er war
der beste große Bruder der Welt. Ein Halbgott. Wenn Wally sich über ihn
beschwerte, hörte ich nur mit halbem Ohr hin. Die Jahre, in denen wir uns nur
selten gesehen hatten, haben ihn total verändert. Wenn Wally stirbt, wird
einiges auf uns zukommen. Mir graut schon jetzt davor. Ein Glück, dass Paul
mittlerweile etwas erträglicher geworden ist. Zwei verrückte Männer um mich
herum, das wäre zu viel gewesen.
16.3.1995.
Lora hat sich von der kleinen, bockigen Göre zu einem netten, lieben Mädchen
entwickelt. Sie hat ein so bezauberndes Lächeln, dass die Sonne aufgeht, wenn
sie es lächelt. Sie scheint auch strebsam geworden zu sein. Mag sein, dass es
nur eine Phase ist. Aber ich genieße es.
Nachts
träume ich, ich stehle Schokolade und will ein Paket nach Rumänien schicken.
Morgens gehe ich dann ins Geschäft, beichte meine Sünde und bezahle die
Schokolade. Als ich aufwachte, ärgere ich mich. Habe ich sogar im Traum immer
nur Schuldgefühle? Es wäre so schön gewesen, diese Schokolade einfach zu
behalten, ohne sie zu bezahlen. Wenigstens im Traum. Einmal so ganz böse und
selbstsicher sein.
26.3.1995.
Die Sonne scheint zwar, aber der Wind ist recht kalt. Wäre gerne spazieren
gegangen. Mein Fuß schmerzt noch immer etwas. Bis in den Tiergarten hätte ich
es wohl nicht geschafft.
Dass
wir alt werden, merke ich auch daran, dass Paul öfter jammert. Früher hatte er
das nie getan. Jetzt ist er oft müde und seine Beine schmerzen. Das beunruhigt
mich mehr als meine eigenen gesundheitlichen Probleme.
2.7.1995.
Lange Zeit mehr kein Tagebuch geschrieben. Wahrscheinlich hat mich nicht vieles
berührt, dass mir widerfahren ist.
Wir
sind in Rumänien auf Besuch. Robert hat uns die Reise bezahlt.
Die
Reise an sich war fürchterlich. Schon die Schwüle in Berlin hat mich fast
umgebracht. Dann sind wir eingestiegen in einem völlig überfüllten Zug. Es
waren derart viele Menschen, dass ich Paul einfach verloren hatte. Ich wusste
gar nicht, ob er es in den Zug geschafft hatte. Die Hitze im Waggon war
unerträglich. Es wurde mir übel. Erst nach einer halben Stunde fand ich Paul
wieder. Wir mussten einen Waggon weiterziehen. Ein tschechischer Waggon, sagte
die Zugbegleiterin stolz. Egal ob tschechisch oder nicht, er war richtig
dreckig.
Das
eintönige Rattern, trostlose Landschaften, fortwährend plappernde rumänische
Mitreisende, das war etwas viel auf einmal. Dabei knöpfte uns ihn Ungarn ein so
genannter Beamter, ich denke es war ein Betrüger, 60 DM ab. Wir bekamen keine
Belege für die 20 DM pro Kopf, die wir zahlen mussten, weil der Zug angeblich
eine andere Route als ursprünglich genommen hatte. Ich bekomme jetzt noch einen
Wutanfall, wenn ich daran denke, wie blauäugig wir waren.
Als
der Zug am Grenzübergang von Ungarn nach Rumänien hielt, wurde die Hitze im Zug
unerträglich. Die Kontrolle der Zollbeamten schien nicht mehr enden zu wollen.
Mein Gesicht brannte wie Feuer, ein Hitzekollaps drohte. Zum Glück ließen mich
die Beamten aussteigen. Obwohl es an der Luft auch nicht viel besser war.
Adrian
war nicht am Bahnhof, wie erwartet. Wir nahmen ein Taxi. Der Wagen dreckig,
Benzingestank ohne Ende. Die hinteren Sitzplätze lagen so tief, dass ich vom
Weg überhaupt nichts mitbekam. Vielleicht auch gut so. Denn das, was ich
gesehen habe, war so niederschmetternd, dass ich am liebsten umgekehrt wäre.
Wir
kamen abends an. Viel konnte ich von meiner Umgebung nicht erkennen, aber was
ich sah, war alles vertraut. Als wäre ich nie weg gewesen.
Den
ersten Schock bekam ich, als ich das Badezimmer betrat. Ein halbes Vermögen hab
ich in die Sanierung dieses Badezimmers gestreckt, bevor wir von hier wegzogen.
Alles war sauber und blitzblank gewesen. Was ich jetzt vorfand, war das reinste
Desaster. Ich staune nur, wie man in drei Jahren alles so gründlich
kaputtmachen kann. Bin von meinem Sohn und meiner Schwiegertochter enttäuscht.
Ich kannte sie beide als fleißige Menschen. Früher waren sie sich nie zu
schade, Hand anzulegen, wenn es darum ging, im Hause zu helfen. Das hier hätte
ich nie erwartet. Das Haus ist im Allgemeinen sehr vernachlässigt. Eine solche
Enttäuschung!
Erst
jetzt am Morgen bietet sich mir das ganze in der tatsächlichen
Ungeheuerlichkeit dar. Es gibt keine Ecke in dieser Wohnung, in der ich mich
gerne aufhalten möchte. Die Wände sind teils nass und verschimmelt. Die Fenster
wurden wahrscheinlich seit drei Jahren nicht mehr geputzt. Die einstmals so
schönen Gardinen sind grau.
Ich
kann verstehen, dass man kein Geld hat, nichts neu streichen kann, weil man
keine Farbe kaufen kann. Ich kann verstehen, dass man keine Putzmittel kaufen
kann. Aber Wasser und einen Lappen findet man überall auf der Welt.
Ich
schluckte meine Tränen hinunter.
Wir
werden überall freudig empfangen, gefeiert. Selbst die Verwandten meines
Mannes, die mir die 30 Jahre hier in diesem Haus recht oft ganz schwer gemacht
hatten, sind so freundlich wie noch nie. Was es doch ausmacht, dass wir aus
Deutschland kommen. Solange ich hier lebte, hat mich kaum einer von ihnen
wahrgenommen. Jetzt bin ich plötzlich der Mittelpunkt. Müsste ich eigentlich
genießen. Aber ich kenne die Menschen ja und mache mir nichts vor.
Egal
wo ein Gespräch beginnt, es endet immer beim Geld, bei illegalen Geschäften und
beim allgemeinen Selbstmitleid. Waren wir früher auch so? Können drei Jahre
Menschen so sehr verändern?
11.7.1995.
Das Gefühl, unter Menschen zu weilen, mit denen man viele Jahre zusammengelebt
hatte, hat mir gut getan. Trotzdem habe ich etwas wie Heimweh nach Berlin. Ich
weiß, ein Teil meines Herzens wird immer hier bleiben. Aber ich weiß, in Berlin
erwartet mich das, was mir auch wichtig ist. Unabhängigkeit und Ordnung im
Privaten, wie im Allgemeinen. Was ich hier nur teilweise haben könnte.
Hier
wird enorm viel gebaut. Früher lagen weite Gärten zwischen den Häusern. Als man
hörte, dass die Gärten verstaatlicht werden sollen, versuchte jeder schnell,
die Gärten in möglichst kleine Grundstücke aufzuteilen und sie zu verkaufen.
Jetzt stehen die Häuser dicht gedrängt nebeneinander. Nach hinten hinaus gibt
es ein Stück Hof, ein Stück Garten. Nach der Revolution, löste sich die
landwirtschaftliche Genossenschaft auf. Das Vieh wurde an die Bevölkerung
verteilt. Jetzt hat jeder in seinem Hof einen improvisierten Stall für
Schweine, für eine Kuh, für sonstige Haustiere. Das Resultat stinkt zum Himmel.
Urin sickert ins Grundwasser und Fäkalien werden irgendwo hinten im Garten
übereinander gehäuft. Man kann keine Fenster öffnen, weil es so stinkt. Vor
allem nach Schweinen.
Fliegen
gibt es zu tausenden in Haus und Hof. Ich könnte hier nicht mehr leben. Ich
glaube, wenn das so weitergeht, bricht eines Tages irgendeine Seuche aus. Von
den Grundregeln der Hygiene gibt es hier keine Spur.
Die
Menschen arbeiten wie Ameisen den ganzen Tag hindurch. Von morgens früh bis
abends spät auf den Beinen, kämpfen sie um ihr Dasein. Nur etwas mehr Köpfchen
könnte schon dahinter stecken. Aber die viel zu vielen Jahre des Fremdbestimmens
haben fast der ganzen Bevölkerung den gesunden Instinkt für das genommen, was
sie nun zur Selbstbestimmung brauchen. Die, die zur einstigen kommunistische
Nomenklatur zählten, sind jetzt weit vorne. Sie müssen es nicht mehr lernen,
wie man überleben kann. Die Wege, die sie früher gegangen sind, sind ihnen noch
immer offen und sie kommen auch jetzt noch voll auf ihre Kosten.
14.7.1995.
Es ist schön, Schwester und Bruder, Freunde und Bekannte wieder zu treffen.
Gefällt mir nicht, dass sie alle finden, ich hätte recht viel zugenommen. Aber
wir sehen viel jünger aus, behaupten sie.
Selbst
Marie, Pauls Cousine, die, die mich kaum angesehen hatte, wenn sie bei ihrer
Mutter auf Besuch weilte, ist plötzlich wie ausgewechselt.
Als
ich hierher ins Haus gezogen war, war ich für sie und ihrer Schwester Kathi ein
Vorbild. Sie waren beide Kinder und ich half ihnen bei den Hausaufgaben,
spielte mit ihnen, ging mit ihnen spazieren. Und bügelte ihrer Mutter die
Wäsche für vier Personen weg.
Sie
waren damals, trotz unschätzbarem Reichtum des Vaters, schlecht gekleidet und
richtige Dorfkinder. Von mir guckten sie sich später ab, wie man sich kleidet
und dezent schminkt. Bei mir holte sie sich Tipps, was ihnen gut stand und was
sie lieber sein lassen sollten.
Wenn
Kathi bodenständig und noch die sympathischste der Verwandten geblieben ist, so
wurde aus Marie eine hochnäsige, arrogante "Snobin", die alles dran
setzte, überall unangenehm aufzufallen. In Eleganz war sie mir nun weit voraus.
Man sah ihr den Reichtum und die guten Verbindungen zu Vermarktern
ausländischer Kleidermarken an. Ihr Vater, Gastwirt im Dorf, scheffelte
Millionen mit krummen Geschäften. Mit skrupellosem Abzocken, wenn es ums liebe
Geld ging. Hatte in jedem Parteibonzen einen Freund gefunden und musste sich
diese Freundschaften auch etwas kosten lassen, um mit seinen dunklen Geschäften
nicht aufzufliegen. Das ganze Dorf hasste und beneidete diese Familie.
Und
jetzt lädt Marie uns sogar zu sich nach Hause ein. In ein schönes, großes Haus
in einem Randviertel mit Einfamilienhäusern.
Viele
teure Kunstgegenstände, die wild durcheinander präsentiert werden. Dabei eine
Menge, wie ich es empfinde, geschmackloser Sachen, die zwar eine anheimelnde
Atmosphäre verbreiten, aber sich eher auf dem Trödelmarkt wohl fühlen würden.
Jedenfalls ist es ein rarer Moment, wo ich die allgemeine Misere vergesse.
Im
Hof viele Blumen. Auch meine Lieblingsblume. Die Wunderblume, mit den bunten
duftenden Blüten, die früher meinem Hof etwas paradiesisches verleihen. Eine
Hollywoodschaukel.
Das
fehlt mir in Berlin. Ein Hof, in dem ich mein eigenes Paradies schaffen kann.
Das werde ich wieder schmerzlichst vermissen.
15.7.1995.
Meine Schwester.
Fleißig
und wuselig wie immer. Sie kocht, als wollte sie ein Regiment verköstigen. Ich
genieße das gute Essen. Es sind wieder diese bekannten wundervollen Gerüche da
und das Essen schmeichelt meinen Geschmacksnerven. Wie früher. Diese Gerüche
der Küche und dieses Schmecken kann man nicht vergessen. Und das vermisse ich
in Deutschland. Da hat alles einen Geschmack, als wäre es in einer
Kunststofffabrik hergestellt worden.
Paul
ärgert sich zwar über meinem Schwager Andreas, weil der bei jedem Bissen
erzählt, wie teuer dieser gerade war, aber wir fühlen uns sehr wohl hier bei
ihnen.
16.7.1995.
Adrian hat sich frei genommen. Wir fahren nach Reschitza. Ich möchte zum Grab
meiner Eltern.
Einen
Teil des Weges zum Friedhof müssen wir hügelauf zu Fuß bewältigen. Die Sonne
brennt gnadenlos.
Am
Wegrand stehen einige Häuser. Ich bitte eine alte Frau, mir aus ihren
Gartenblumen einen Strauß zu binden. Sie bringt mir einen, lieblich
unordentlich gebundenen. Wird sich mein Vater sicherlich freuen. Ich drücke ihr
10DM in die, von schwerer Arbeit gezeichneten Hand. Sie flippt aus, küsst den
Geldschein und bedankt sich, als hätte ich ihr eine Ecke im Paradies gepachtet.
Ich
bedauere, dass wir nicht zuerst zu meinem Bruder gefahren sind. Wäre er
mitgekommen, hätte ich das Grab finden können. So nicht.
Das
Gras sprießt überall in Kniehöhe. Adrian, Paul, Ghita und ich suchen
vergeblich. Wir durchziehen alle Reihen, aber das Grab lässt sich nicht finden.
Ich weine haltlos. Aber ich bin mir sicher, mein Vater versteckt sich, weil er
es nicht mag, dass so viele Menschen auf ihn zukommen. "Was soll der
Quatsch?" wird er zu Mutter gesagt haben. "Die sollen mich endlich in
Ruhe lassen, wie ich es angeordnet hatte. Über mein Grab Gras wachsen lassen.
Keinen Stein und keine Kerzen, bitte."
Mit
schrecklichen Selbstvorwürfen, weil ich die Sonne nicht länger ertrage, gehen wir
zurück. Am Hauptweg sind die Gräber alle gepflegt und wir sind schockiert, wie
viele Kinder und Jugendliche hier begraben liegen. Ein Horror.
Zu
Hause, bei meinem Bruder, ist alles wie früher. Bloß einen neuen Teppich und
neue Gardinen hat er sich gekauft.
Ich
gehe nur zögerlich ins hintere Zimmer. Da, wo meine Mama alleine sterben
musste, weil ich im anderen Zimmer vor Erschöpfung eingeschlafen war.
Willy
und ich, wir hatten schon paar schlaflose Nächte mit ihr verbracht. Meist ließ
ich ihn schlafen, weil er ja am nächsten Tag arbeiten musste. In dieser Nacht
waren wir beide müde. Mutter wollte ins Bad und wir versuchten mit allen
unseren Kräften, sie aus dem Bett zu bekommen. Sie war so schwer, dass diese
Kräfte nicht reichten. Sie bestand aber starrsinnig darauf, selbst auf die
Toilette zu gehen. Mir kam die Idee, sie vom Bett irgendwie auf den Sessel zu
hieven. Mit größter Anstrengung gelang es uns. Doch der Sessel ließ sich nicht,
wie ich es mir vorgestellt hatte, bis zum Bad schieben. Also Mutter wieder ins
Bett bringen, Teppich unter den Sessel ausbreiten, Mutter zurück in den Sessel
zerren und dann mit vereinten Kräften am Teppich ziehen, bis wir den Sessel
samt Mama an der Badezimmertür hatten. An der Tür versuchte sie dann die zwei,
drei Schritte bis zur Toilette selbst zu bewältigen. Dann stand sie plötzlich
still und schrie: das Meer, das Meer, es kommt immer näher.
Sie
hatte das Meer nie gesehen und jetzt machte es ihr Angst. Wir konnten sie nur
schwer beruhigen.
Als
sie wieder im Bett lag, waren wir am Ende unserer Kräfte. Es war um Mitternacht
herum und der Körper wollte nicht mehr. Willy sank erschöpft ins Bett und ich
versuchte den Kopf meiner Mutter höher zu legen, weil sie nur noch schwer atmen
konnte. Sie war unruhig, aber das war sie auch in den anderen Nächten.
Ich
wollte nur wenigstens eine Viertelstunde schlafen. Länger würde sie es auch
nicht aushalten und schon meinen Namen rufen.
Ließ
die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen stehen und legte mich im Wohnzimmer auf die
zwei, aneinander geschobenen Sesseln, die seit meinem Hiersein meine
Schlafstätte waren. Ich schlief sofort ein.
Als
ich aufwachte, wusste ich nicht, wie viel Uhr es ist. Aber ich ahnte, dass ich
lange geschlafen hatte. Es war so unheimlich still, so totenstill, dass ich fast
sicher wusste, meine Mutter ist nicht mehr.
Drei
Wochen hindurch hatte ich überhaupt keine Gefühle. Nicht wie bei Vater. Da war
ich vom Tag seiner Beerdigung bis nach einem Jahr, als er mir im Traum seine
Fingernägel in den Arm drückte und mich hasserfüllt anblickte, täglich und
stündlich mit den Gedanken und mit meiner Trauer bei ihm. Den Traum hielt ich
für ein Zeichen, dass es ihm reicht, dass ich endlich loslassen muss.
Bei
meiner Mutter kamen erst drei Wochen nach der Beerdigung die schrecklichen Schuldgefühle
hoch. Ich war Schuld an ihrem Tod. Ich hätte wissen müssen, dass es ihre letzte
Nacht ist und hätte nicht schlafen dürfen. Ich hätte da sein müssen, um ihre
Hand zu halten und ihr über die Schwelle hin zum Licht helfen müssen.
Erst
die Ausreise nach Deutschland ließ mich alles vergessen und jetzt beschlichen
mich wieder diese Gefühle.
Das
Zimmer steht jetzt leer. Nur an den Wänden hängen Bilder meines Bruders, die
von seiner letzten Ausstellung übrig geblieben sind.
Ich
schließe leise die Tür hinter mir, mit einem kleinen Schmerzgefühl in der
Herzgegend. Und versuche auch die Tür zu den Erinnerungen zu schließen.
20.1.1996.
Mein Tagebuch habe ich längst vergessen. Seit wir in Rumänien waren, habe ich
wohl der Enttäuschungen wegen, nichts mehr aufgeschrieben. Wozu auch? Im
Tagebuch muss ich mir Rede und Antwort stehen. Ich will mich niemandem mehr
mitteilen. Ich will meine eigenen Gedanken nicht zweimal denken müssen. Ein
Tagebuch ist nur gut, wenn man das Bedürfnis hat, sich irgendjemandem zu öffnen.
Doch ich bin oft so durcheinander, dass ich gar keinen klaren Gedanken fassen
kann. Alles was mir in einem Moment wichtig erscheint, verliert im nächsten
Moment seinen Wert.
Dieses
Tagebuch schreiben, scheint mir manchmal das Lächerlichste der Welt zu sein. Ich
muss mir dabei selbst zuhören. Und ich höre mich nicht mehr gerne. Ich sehe
mich nicht gerne. Ich weiß überhaupt nicht, ob es jemanden gibt, der mich gerne
sieht oder hört. Alles scheint so sinnlos zu sein. Meine Existenz mehr denn je.
Wer braucht mich noch? Wenn ich mich selbst nicht mehr brauche.
Meine
Ärztin hat mich aufgegeben. Psychosomatik, sagt sie.
Aha,
denke ich. Psychosomatik sind also Symptome, die bei Ärzten auftreten, wenn sie
nicht mehr weiter wissen.
Sie
hat mich zu einer Psychiaterin geschickt. Zur gleichen, bei der ich schon
freiwillig einmal war. Fünf Minuten durfte ich reden. Dann stand ich wieder vor
der Tür. Die Ärzte lieben nun mal immer ihren "Nächsten".
Einen
Psychiater, denn Psychologen gab es ja keine, hatte ich in Rumänien schon
erlebt. Bin freiwillig zu ihm gegangen. Habe dafür auch noch bezahlt. Er fragte
mich, was ich von Beruf bin. Ärgerlicherweise war das seine erste und letzte
Frage. "Lohnbuchhalterin", sagte ich. Es war meine erste und letzte
Antwort.
"Na
ja," meinte er "es ist ja klar. Warum kommt nie euer Chefbuchhalter
oder der Direktor vorbei. Immer nur ihr kleinen Beamten, die ihr Euer Leben
nicht im Griff habt. Der Direktor ist für einige tausend Leute verantwortlich
und hat keine Zeit mehr, an sich selbst zu denken. Der hat Erfolgserlebnisse,
der braucht keinen Psychiater. Bring dein Leben erst in Ordnung, dann wird es
dir auch besser gehen."
Und
er warf mich schon raus. Mit der schriftlichen Bemerkung, ich erzähle ihm nur
Subjektives und als ich die Türklinke schon in der Hand hatte, sagte er noch zu
seiner Assistentin,
"Der
Schwachsinn, der neuerdings von Amerika auf Europa herübergeschwappt ist, mit
Psychosomatik und dergleichen Unfug, hat diese armen Schweine auch schon
infiziert."
Fachidiot,
dachte ich mir, als ich enttäuscht aus der Praxis taumelte. Mein Direktor ist
nicht ausgeglichen, weil er Direktor geworden ist. Er ist Direktor geworden,
eben weil er ein ausgeglichener Mensch ist. Er war es wohl schon im Mutterleib.
Ich nicht. Ich habe sicherlich ein minderwertiges Erbgut mitbekommen. Aus mir
hätte nie ein Direktor werden können. Behandle mich nicht wie einen
verpfuschten Direktor, sondern wie einen Menschen, der keine Schuld an seinem
Elend trägt. Der es eben nicht besser weiß.
13.2.1996.
An manchen Tagen fühle ich mich miserabel. Da bräuchte ich einen Arzt. Oder
sonst eine Hilfe. Doch weil es mir so schlecht geht, kann ich keinen Termin
wahrnehmen. Wenn es mir dann besser geht, wozu zum Arzt gehen? Der kann mir ja
auch nicht helfen.
Nichts
was ich einnehme, nichts was ich tue, bringt mich irgendwie weiter.
5.3.1996.
Hätte einen Termin bei einer Psychologin in der Nähe. Bin aber so aufgeregt,
dass ich schon ungezählte Male auf dem Kaiserfußweg war. Herzrasen,
Gefühlschaos. Ich muss meinen Termin absagen. Versuche vergeblich, mich zu
überwinden. Ich schaffe es nicht.
Ich
rufe die Psychologin an und teilte ihr mit, dass ich nicht kommen kann. Sie
meint, ich hätte eine uneingestandene Angst vor dem Gespräch gehabt.
Soweit
ich das beurteilen kann, ist das völliger Quatsch. Ich habe nicht vor dem
Gespräch Angst, ich habe Angst aus dem Haus zu gehen. Egal welchen Termin, egal
welche noch so positive Aussichten ich gehabt hätte, es wäre das Gleiche
gewesen. Selbst wenn mich der Tenno zum Tee gebeten hätte, wäre es nicht besser
gewesen. Ich und Angst vor einem Gespräch…!
Das
ist mal wieder etwas, wovon ich logischerweise bei einer Psychotherapie
zurückschrecke. Dass man mir die Wörter im Mund verdreht und dass man mir
Sachen einredet, die ich nicht gebrauchen kann. Dass man Geister
heraufbeschwört, die ich dann nicht mehr loswerde.
Ich
bin völlig durcheinander. Mein Kopf spricht eine Sprache, meine Seele eine
andere und mein Unterbewusstsein quatscht dazwischen.
Ob
ich aus diesem Chaos herausfinde, steht in den Sternen.
16.3.1996.
Vergangene Woche hat mich Tanja Schönberg, die Mutter einer Kollegin von Lora,
in einen Specksteinkurs mitgenommen. Ich hatte noch nie einen Speckstein in der
Hand. Ich wusste gar nicht, was ich damit anfangen soll. Habe ihn hin und her
gedreht. Irgendwann, dachte ich, wird er mit mir sprechen und sagen, was er
werden möchte.
Dann
begann ich ihn zu foltern. Nach anderthalb Stunden hatte ich einen
wunderschönen Fisch in der Hand. Die anderen staunten nicht schlecht, als sie
mein Erstlingswerk sahen. Ich war riesig stolz und unsagbar froh, dass ich
endlich auch ein solches Erfolgserlebnis habe. Wollte das nächste Mal
wiederkommen.
Zwar
hat mir die Arbeit an diesem Stein gut gefallen, doch die ganze Nacht hindurch
konnte ich vor rheumatischen Schmerzen nicht schlafen. Meine Arme taten mir so
höllisch weh, dass ich bis morgens meine Augen nicht schließen konnte.
Aus,
mein Traum mit den Specksteinfiguren.
Egal
was ich anfasse, alles richtet sich gegen mich.
24.3.1996.
Morgen habe ich wieder einen Termin bei der Psychologin. Bin schon riesig
gespannt, ob ich es aus dem Haus schaffe. Ob ich je bei der Psychologin
ankommen werde.
Alles
in mir brodelt. Mein Kopf ist das reinste Purgatorium. Ich möchte meine
Gedanken kalt denken. Gefühllos sein. Was ich alles möchte!
Ich
würde so gerne einen Menschen treffen, der bei mir von Anfang an einen
positiven Eindruck erweckt. Ich weiß, dass ich das Zeug dazu habe, ein
zumindest normales Leben zu führen. Nur schaffe ich das alleine nicht. Ich
könnte mich ändern, wenn ich mich für einen anderen Menschen ändern sollte.
Wenn ich diesem Menschen blind vertrauen könnte.
Mich
nur meinetwegen zu ändern, das kann ich einfach nicht. Ich weiß nicht mal,
welche Eigenschaften ich besitzen müsste, um mir selbst zu gefallen. Ich weiß
nur, wie ich sein könnte, um anderen Menschen zu gefallen.
Sollte
heute auch noch zu einem Psychiater gehen. Um bei der Psychologin ein Gutachten
zu präsentieren. So'n Schwachsinn. Dieser Mensch kennt mich nicht. Soll aber
ein Gutachten erstellen. Er ist überraschend freundlich und entgegenkommend.
Ein perfekter Techniker wahrscheinlich.
Was
ich brauche, ist ein Zauberer.
25.3.1996.
Bevor ich zur Psychologin gehe, muss ich noch rüber zur Hausverwaltung. Dann
überwinde ich meine Angst vor dem Keller und bringe meine Wäsche zum Waschen
runter. Dann muss ich wieder rüber zur Firma, Putzmittel holen. Zwar habe ich
etwas zittrige Beine, aber ich schaffe es sogar bis zur Psychologin. Eigentlich
sehe ich mich schon in der Normalität angekommen. Ich brauche gar keine
Psychotherapie. Ich bräuchte nur eine Aufgabe außerhalb des Hauses. Ich würde
es schaffen.
Eine
sehr geräumige Praxis. Weiße Sessel, weiße Couch, viel Grünzeug, bunte Steine,
warme Lichtquellen, mystische Gegenstände. An den Wänden eingerahmt allerlei
Urkunden, Diplome. Viele aus Amerika. Beeindruckend. Frau Patken hat ihr Leben
gemeistert. Jetzt müsste sie es nur noch schaffen, in das meine auch ein wenig
Ordnung zu bringen. Die ersten Eindrücke lassen in mir den Gedanken aufkommen,
meine Seele sei schon gerettet.
Ich
muss mich auf eine Matte legen. Werde an irgendeinen Gerät angeschlossen. Mit
bunten Seidentüchern zugedeckt. Ich bekomme einen zu kleinen Kopfhörer
aufgedrückt. Leise Meditationsmusik umschmeichelt mich. Lichtreflexe werden
durch den Raum gesandt.
Ich
frage mich, bin ich bei einer Psychologin oder beim Orakel von Delphi? Ich kann
mich zwar etwas entspannen, aber ich brauche eine Aktivität. Ich brauche Leben
um mich. Ich will von der Energie, von der guten Laune, von der Normalität um
mich herum angesteckt werden.
Ich
sage nicht die Wahrheit, als ich gefragt werde, was diese Maschine bei mir
ausgelöst hat.
Ich
komme bloß bis zum Wittenbergplatz. Die ganze Welt dreht sich. Ich muss mir ein
Taxi rufen. Angstgefühle im höchsten Grade. Ist das eine normale Wirkung der
Therapie? Die Psychologin würde sicherlich sagen, ja. Könnte ich ihr das
glauben? Mir wird immer schwindelig, wenn ich lange am Rücken liegen muss.
Ich
rufe sie an. Sie beruhigt mich, wie vorausgesehen. Dieser anxiöse Zustand sei
eine ganz normale Antwort des Körpers auf die neuen Impulse. Impulse die im
Gehirn vor sich gehen. Die Angst wird jetzt nicht dann kommen, wenn sie es
möchte, sondern sie wird einfach auf Kommando hervorgerufen und ich muss
lernen, sie zu verarbeiten.
Ich
fürchte, egal ob die Angst aus freien Stücken kommt, oder ich einen Antrag
einreichen muss, damit sie mich mal wieder unsicher macht, wir beide werden es
miteinander noch sehr schwer haben. Meine Angst beginnt mir leid zu tun. Ich
kann sie doch nicht so schnöde hintergehen. Sie ist doch ein Teil von mir.
Jetzt wird sie mich mal freiwillig besuchen, mal bekommt sie den Befehl, mich
zu piesacken. Schöne Aussichten.
Das
einzig Konkrete, dass ich nach diesem Telefongespräch erreiche, ist, dass ich
stundenlang heule. Das nicht auf Kosten der Krankenkasse.
27.3.1996.
Ein Leben lang habe ich mit meinen Beklemmungen, meinen Verklemmungen, meinen
Minderwertigkeitskomplexen und meinen kleinen Ängsten gelebt. Vorstellen kann
ich es mir kaum, ohne diese Gefühle zu leben. Aber träumen kann ich davon.
Frau
Patken versichert mir, dass ich aus diesem Teufelskreis entkommen kann. Ich
werde bald ohne Angst an meine Arbeit rangehen können, ohne Angst einkaufen
können, ohne Panik in Geschäfte hineingehen, in der U-Bahn gelassen sitzen
können. Auch wenn es heiß ist, werde ich keine Panikattacken bekommen.
Ist
das Gehirnwäsche?
Soll
mir egal sein. Egal wie man das Brimborium nennt, Zaubern, Hypnose, Hirnwäsche,
Therapie oder Voodoo. Hauptsache, ich fühle mich wohl dabei.
14.4.1996.
Bei der Psychotherapie habe ich das Gefühl, ich bin ein Pilot in einem hell
erleuchteten Flugzeug, der auf eine Landebahn zusteuern soll, auf der eine
höllische Finsternis herrscht. Ich höre zwar das Stimmengewirr der Lotsen, kann
aber kein deutliches Wort verstehen. Zwar sehe ich immer ein Lichtlein. Weiß
aber nicht, soll ich das Steuer nach links oder rechts reißen, um die Landebahn
nicht zu verfehlen. Und womöglich auch den Lotsen hinwegzufegen. Ein einziges
Lichtlein müsste noch aufgehen, nur ein einziges, damit ich zumindest die
gesunde Mitte erreichen kann.
Manchmal
habe ich Angst, dass ich unheilbar verrückt bin. Ich bin zerrissen von Euphorie
und Resignation. Es gibt Momente, in denen ich voll optimistisch bin. Dann
kommt ein Rückzieher. Manchmal erschreckt mich selbst mein Optimismus.
Ich
bin mehr als labil.
15.4.1996.
Was mir mal wieder auffällt, ich grinse jeden Menschen an, der mich anspricht.
Habe ständig eine chinesische Fratze. Bin ich das wirklich oder gehört das zu meinem
Gefallenwollen dazu?
Es
gibt Menschen, die verdienen mein Lächeln. Es gibt aber solche, die ich nicht
mag und ich grinse sie trotzdem an. Zwar kostet es mich nichts. Aber vielleicht
müsste ich aus Respekt vor mir selbst Unterschiede machen.
Oder
ist es wieder ein philosophischer Gedanke zu viel? Warum muss ich mir über so
Nichtigkeiten den Kopf zerbrechen? Wenn ich schon solche Gedanken habe, warum
erschrecke ich davor? Denken ist doch kein Verbrechen.
Ich
muss einen Totalschaden im Oberstüble haben.
16.
April 1996. Lora hat mich mit Ach und Krach bis zum Kudamm gebracht. Sie ist
enttäuscht, weil ich abwesend und ständig mit mir beschäftigt bin. Ich kann
mich keine Minute auf das Geschehen um mich herum konzentrieren. Bin immer noch
beschäftigt, mich zu observieren, jede meiner Regungen zu analysieren. Der Lärm
und die Hektik stören mich. Dieser Ausflug ist nichts für mich. Für Lora auch
nicht.
Ich
frage mich, wie ich zur Therapie bei Frau Patken stehe. Ich glaube, wenn ich in
mich hinein lausche, muss ich mir eingestehen, dass ich falsche Prioritäten
gesetzt habe. Ich will in erster Linie ihr beweisen, dass sich der Aufwand
gelohnt hat. Warum bloß? Frau Patken ist ein perfekt gesunder und normaler
Mensch. Ich muss ihr keine extra Zugeständnisse machen. Sie hat das überhaupt
nicht nötig. Hier, wie im düsteren Alltag, muss ich endlich für mich selbst die
Hauptperson werden.
So
was Ähnliches ging mir damals in Rom durch den Kopf. Als ich atemlos, voll
Verwunderung, vor Michelangelos Pieta stand. Drüben der grandiose Meister, das
weltbekannte Genie, hüben der unscheinbare Gaffer, der Träumer, der
Durchschnittsmensch.
Ich
fühlte mich so klein, so unscheinbar, so nichtswürdig.
Doch
welchen Wert hätten diese grandiosen Werke, wenn es keine durchschnittlichen
Gaffer gäbe? Welchen Sinn hätten sie, wenn es all die Neugierigen nicht geben
würde? Eins ohne das Andere hätte keinen Sinn. Jeder hat seine Berechtigung.
Jeder Mensch müsste sich seines Selbstwertes bewusst sein.
Ich
degradiere mich gerade wieder. Es wird mir bewusst, wie unscheinbar ich bin.
Ich
leide unter meiner Mediokrität. Ich möchte was Besseres sein. Oder stelle ich
mir vor, so ganz im Unterbewusstsein, dass ich was Besseres bin und komme damit
nicht zurecht, dass andere das nicht merken? Was Besseres im Vergleich zu wem?
Ich
würde so unsagbar gerne meine Gedankenmühle zum Stillschweigen bringen.
"Wenn
es nur einmal so ganz stille wäre,
wenn
das Zufällige und Ungefähre
verstummte
und das nachbarliche Lachen,
wenn
das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich
nicht so sehr verhinderte am Wachen…"
Rilke
müsste man sein. Das bin ich aber nicht.
Ich
müsste bloß die Naivität besitzen, darüber stolz sein zu können.
28.4.1996.
Ich glaube schon lange und fest, in mir ist ein Selbstzerstörungsmechanismus aktiviert.
Oft
habe ich den Eindruck, dass ich gegen mich selbst agiere. Mir ist bewusst bei
jedem meiner Schritte, welcher der Gute, welcher der Falsche ist. Doch ich
ignorierte das völlig. Oft habe ich den Eindruck, als hätte ich gar keine Macht
über meinen eigenen Körper. Als wäre ich ferngesteuert. Fremdfehlgesteuert.
Jetzt muss ich mir noch einreden, dass mich nachts Aliens entführen und dass
mir im Nacken ein Klingonenchip eingepflanzt wurde. Dann bin ich reif für die
Klapse.
Sucht
mein Körper die Zuflucht in die Angst? Sucht meine Seele vor meinem eigenen Ich
in den Panikattacken ihre Bleibe? Sind Angst und Panik eigentlich meinen
Beschützer? Meine Retter vor etwas Schlimmeren?
Hach,
jetzt drehe ich durch.
Marsch,
Lisa. Das Geschirrspülen wartet.
22.5.
1996. Überschwemmung in der 38. Ein Mieter ließ die Waschmaschine laufen, den
Schlauch am Boden liegen und verließ die Wohnung. Ich muss die Feuerwehr rufen,
denn das Wasser rinnt komischerweise bei der Nachbarin, eine Etage tiefer,
geradewegs aus der Decke, da wo die Leuchte angebracht ist.
Zuhause
angekommen, ein neuer Schock. Timo ist auf und davon. Uschi heult den ganzen
Tag. Ich habe sie schon dreimal angerufen. Sie droht mit Selbstmord. Ich rede
stundenlang auf sie ein. Vor kurzem sind sie in einen Neubau in den Speckgürtel
der Stadt gezogen. Jetzt sitzt sie mit der hohen Miete, mit einer Menge
Schulden alleine da.
Ich
schalte eine Anzeige zum Weitervermieten der Wohnung für sie ein. Kaufe
allerlei Zeitungen, um für sie eine günstigere Bleibe zu finden.
Unfassbar,
wie sich das Schicksal von jetzt auf gleich ändern kann. Du stehst morgens auf,
ahnungslos, und abends bist du ein am Boden zerstörter Mensch.
25.09.1996. Ein Stück Leben nicht verewigt und ich weiß auch nicht, was ich alles hätte aufschreiben können
Habe meinen Termin bei Frau Patken abgesagt.
"Sie
können inzwischen das Besprochene verarbeiten", sagt sie am Telefon.
Verarbeiten?
Wie macht man das? Alle sagen Ähnliches, aber keiner sagt, wie das
funktioniert. Ein Satz der Eindruck macht, aber nichts bewirkt.
Ich
habe keine Gefühle mehr, meine Gedanken liegen still. Wie die Hände eines
Goldgräbers, der seinen Sieb schon unendlich lange und vergeblich hin und her,
und hin und her geschüttelt hat. Nichts als Sand und Geröll. Kein Funkeln mehr.
Und was soll ich auch mit einem einzigen kleinen Goldkörnchen? Verarbeiten,
wozu?
Ich
bin müde, müde, müde…
9.10.1996.
Habe vergangenen Nacht kaum geschlafen.
Wegen
der ständigen Schmerzen im Nacken muss ich seit einiger Zeit zur Akupunktur.
Ich
denke mir tausende Ausreden aus, um nicht gehen zu müssen. Ich kämpfe
stundenlang mit mir selbst. Dann rufe ich ein Taxi. Um 11Uhr, 15. Um 11Uhr, 30
habe ich den Termin. Ich gehe nicht meinetwegen dahin. Ich gehe dahin, weil der
Arzt auf seine Patientin wartet. Glaube ich.
Nach
der Behandlung entscheide ich mich für den Bus.
Zwar
bewege ich mich auf dem Grat zwischen Gelassenheit und Angst, aber ich komme
gut zuhause an.
11.10.1996.
Morgens um 3Uhr, 30 bin ich wieder von einem Anflug von Schmerzgefühlen im
Nacken aufgewacht. Meine Ohren waren vom Rauschen meines eigenen Blutes
erfüllt. Es war, als wäre mein ganzer Körper nur noch Puls und Herzschlag.
Ich
sitze aufrecht im Bett und bleibe so bis um 4Uhr. Als Paul außer Haus geht,
habe ich das verlockende Verlangen, mich wieder hinzulegen. Ich weiß aber, dass
mir ein neues Einschlafen meinen ganzen Tag verdirbt. Dann tue ich es doch.
Als
ich aufwachte, bin ich wie erwartet, total benommen. Ich gehe wie gewohnt ins
Bad, räume die Wohnung auf, aber ich habe dabei ein Gefühl, als lebe ich einen
Albtraum. Die Realität scheint Fiktion zu sein. Und als Lora in die Schule
geht, kommt wieder diese schreckliche Angst hoch: ich bin allein zuhause!
Ich
leide schrecklich unter meinen Schuldgefühlen, dass Paul meine Arbeit
übernehmen muss. Dass ich nicht mehr fähig bin, mehr zu tun, als das, was in
der Wohnung möglich ist. Wenn ich Lora zum Einkauf schicken muss, bin ich
genauso unglücklich, wie dann, wenn Paul müde von der Arbeit kommt, und putzen
gehen muss.
13.10.1996.
Die Schmerzen im Kopf wollen einfach nicht weichen. Und diese schreckliche
Müdigkeit. Die Erschöpfung wie ein halber Tod.
Ich
muss mich hinlegen. Wenn ich einschlafe, fühle ich beim Aufwachen zuerst, dass
ich einen Kopf habe.
Es
gelingt Lora, mich zu einem Spaziergang in den Tiergarten zu überreden. Ich
bringe es zuwege, bis zum Tiergarten zu gehen. Kaum paar Schritte durch den
Park und schon fasst die Müdigkeit mit tausenden Fängen nach mir. Ich kann
meine Augen kaum offen halten. Muss mich gewaltig zusammenreißen, um bis
nachhause zu kommen.
Woher
soll ich noch Kraft schöpfen, um dieses Elends zu ertragen?
14.10.1996.
Ich will heute unbedingt hier im Haus sauber machen. Reiße alle meine Kräfte
zusammen und schaffte es, die sieben Etagen zu säubern. Doch nur der liebe Gott
und ich, wir wissen, wie. Ich frage mich, wann der Tag kommt, an dem ich von
der Treppe stürzte. Manchmal sehe ich vor lauter Schwindelgefühlen nicht mehr,
wohin ich trete.
Es
gibt Tage, da vergesse ich meinen Termin zur Therapie. Ich vergesse ihn, weil
ich ihn vergessen will. Heute habe ich mich zusammengerissen. Ich hatte mir ein
Diktiergerät gekauft und mir darauf selbst ermutigende Worte gesprochen. Beim
Weggehen halte ich das Diktiergerät an mein Ohr und höre meinen eigenen Worten
zu. Es scheint zu wirken.
Psychotherapeuten
haben auch mal einen schlechten Tag. Es kommt vor, dass sie mitten in einer
Therapiestunde gähnen müssen. Als ich aber meine Therapeutin gähnen sehe, ist
es wie ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Obwohl die Therapiestunde wie
gewohnt weitergeht, fühle ich mich fallen gelassen. Ich kann mich überhaupt
nicht mehr konzentrieren. Dieser nichtige Vorfall bringt mich total aus dem
Konzept.
Ich
habe meine Mitmenschen immer idealisiert. Eine kleine Geste aber, die mir nicht
gefällt, und ich bewege mich schon weg von ihnen, weil sie meinem Ideal in
diesem Moment nicht mehr entsprechen. Vielleicht bin ich im Grunde genommen
intolerant und stelle eigentlich an jeden hohe Ansprüche. Lächerlich hohe
Ansprüche.
18.10.1996.
Heute Morgen fühle ich mich wohl.
Ich
nehme mir vor, bis zur Sparkasse zu gehen. Fünf Minuten später renne ich schon
wieder auf die Toilette. Mir ist schwindlig. Es erwischt mich wieder das
beängstigende Bedürfnis, zu schlafen. Ich hüpfe wie eine Besessene durchs Haus,
ich tanze, ich singe, ich wasche meine Hände mal heiß, mal kalt, ich nehme ein
Stück Würfelzucker, ich trinke ein, zwei Schluck Kaffee, ich gehe an die Luft-
alles vergeblich.
Ich
müsste mich hinlegen. Aber ich weiß, wenn ich einschlafe, wache ich mit
Kopfschmerzen auf.
Ich
nehme meinen ganzen Mut zusammen und beschließe, zur Sparkasse zu gehen. Als
ich an der Ecke der Straße bin, kommt die erste Panikattacke. Ich kehre zurück.
Ich bekomme keine Luft mehr. Mein Herz rast. So schlimm hat es mich noch nie
erwischt.
Bis
nachhause, die paar Schritte, habe ich eine Panikattacke nach der andern.
20.10.1996.
Mit Lora haben wir uns entschlossen, in die Kirche zu gehen.
Dem
lieben Gott aber ist es egal, wie ich mich während des Gottesdienstes quälen
muss. Die Orgelmusik, das Mikrophon-ganz schwer zu ertragen. Ich falle fast von
der Bank. Habe keinen Schutzengel in meiner Nähe gespürt. Es ist schrecklich.
Ich
stehe auf und gehe nach hause. Der Pfarrer darf denken, was er will.
Anda wird heute 6Jahre alt. Ach, du meine Güte! Es liegt so viel Zeit und so viel Leid zwischen uns.
6.12.1996.
Da war mal eine Anzeige in der BZ. Toilettenfrau für exklusive Klos gesucht.
Ein Traumberuf! Ich dachte, ich beweise es mir und der ganzen Welt, dass ich
fähig bin auszubrechen.
Ich
rief an. Ja, selbstverständlich werde ich akzeptiert.
Bin
ich gut!
Erster
Arbeitstag heute.
Da
ich mir selbst nicht über den Weg traue, rufe ich ein Taxi. Selbstverständlich.
Der
Toilettenchef (das klingt ja noch schlimmer als Toilettenfrau) gibt seine
Anweisungen. Er ist mit mir allein anwesend. Erklärt mir das Allerwichtigste.
Als ob mir ein Mann erklären müsste, wie ich sauber machen muss.
Im
Raum, in der die Damentoiletten untergebracht sind, herrscht eine Hitze, die
mich vom ersten Augenblick an umwirft. Ich versuche mein Bestes, aber schon
nach der ersten Toilette habe ich Hitzewallungen und Herzrasen. Ich versuche
irgendein Fenster zu öffnen, aber es geht nicht. Die Fenster lassen sich nicht
öffnen.
Ich
sage dem Chef Bescheid, dass ich unter diesen Konditionen nicht arbeiten kann.
Ich bitte ihn, er möge eine seiner andern Angestellten anrufen, um mich
abzulösen.
Der
Chef hat keine andere Wahl. Es ist 8Uhr, 10 und um 9Uhr, 30 kommen die ersten
Kunden des Kaufhauses. Er muss mit anfassen.
Mit
seinem schneeweißen Hemd und seiner dunklen Krawatte sieht er lächerlich aus,
wie er an den Toiletten herumschrubbt. Ich verkneife mir einen Lachkrampf. Doch
die höllische Hitze setzt auch ihm zu. Da fällt es ihm ein, dass man ja die
Heizkörper abschalten kann. Warum ist diese Idee nicht mir zuerst gekommen?
Er
trieft vor Schweiß und ich glaube zu wissen, dass sein ganzer Stolz in kleinen
Tröpfchen dahinfließt.
Die
Metallwände und Türen der Toiletten sind arg verschmiert. Sie wurden zwar mit
Putzmittel bearbeitet, doch da wurde nie trocken nachpoliert. Der Chef ist
verzweifelt.
"Das
sieht schrecklich aus", jammert er.
Ich
erbarme mich seiner und weil es auch schon kühler geworden ist, poliere ich mit
Toilettenpapier die Wände nach. In einer halben Stunde ist alles blitzblank.
Der
Toilettenchef keucht wie ein Marathonläufer. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.
Ich
traue mich nicht mehr, fürs nächste meine Dienste anzubieten. Weil ich denke,
dass er diesen Putztag, den er mir zu verdanken hat, nie vergessen wird. Den er
mir immer ankreiden würde. Aber ich hege eine innige Schadenfreude. Der Mann
wird ab jetzt seine Angestellten vielleicht mit anderen Augen betrachten. Wer
weiß, vielleicht kriegen sie auch eine Gehaltserhöhung. Etwas hat er mir
kleinlaut angedeutet.
So
sehr mich dieser Vorfall auch erheitert hat, beim Weggehen habe ich einen
Knoten im Hals. Stundenlang. Wäre mir die Idee mit den Heizkörpern früher
gekommen, hätte ich meine Stelle noch gehabt. Vielleicht hätte ich mich auch so
durchsetzen können, nochmal akzeptiert zu werden, wenn ich ein wenig gekämpft
hätte.
Ich
kann mich nur trösten, wenn ich an das blütenweiße, schweißgetränkte Hemd des
Klochefs denke.
14.5.1997.
Angst, Verzweiflung, Selbstmitleid. Es ist nicht weniger geworden.
Um
5 Uhr bin ich aus den Federn. Paul ist aufbruchsbereit.
"Geht
es dir nicht gut?" fragt er besorgt.
Doch
es geht mir gut. Wozu ihm den Tag verderben?
Es
hat geregnet. Die Luft ist frisch. Wohlfühltemperatur, Vogelgezwitscher. Erste
Lebenszeichen auf der Straße. Normaler Maimorgen.
Ich
spreche alleine. Tröste mich selbst, es wird schon wieder.
Wie
unsinnig, wenn man sich selbst nicht genügt. Wenn man sich selbst zu belügen,
zu übertölpeln versucht.
Das
Leben ist schön. Positiv denken.
Über
Nacht hatte ich mir einen Rosenkranz umgehängt. Weil ich keine Kraft gefunden
hatte, um zu beten.
Wo
bist du Gott? Wie lange muss ich das alles noch ertragen? Gib mir ein Zeichen.
Zeige mir einen Weg. Ich wälze die Verantwortung nicht auf dich ab. Ich will
nur ein kleines Zeichen. Einen Wegweiser. Die Sterne können weiterhin dort oben
hängen bleiben. Aber wenn du bist, kommt mir ein wenig näher. Zeige mir deine
Güte. Ich brauche dich.
Den
Rosenkranz in der Hand, bete ich -zig Male. Das Vaterunser rauf und runter.
Um
11 Uhr kommt die Sonne durch die Wolken. Nach tagelangem Weinkrampf der Natur
die Erlösung.
Ich
fühle mich plötzlich froh und frei. Ist es das Wetter? Ist Gott das Wetter? Ist
das Wetter Gott?
15.5.1997.
Heute hat sich der liebe Gott wieder hinter Wolken versteckt. Ist ihm wohl zu
warm. Wie mir auch.
Ich
bitte die Ärztin, mir einen Klinikplatz zu suchen.
17.5.1997.
Ich liege unter einem Mühlenstein. Kann mich kaum entschließen, etwas zu tun.
Selbst meine Lippen sind zwei Bleiplatten, die ich nur mühsam bewegen kann.
Paul stolziert in seinem neuen Jogginganzug um mich herum. Ein seliges Lächeln
um die Lippen. Ich neide es ihm. Er hat gut lachen. Und merkt nicht, wie ich
leide.
28.5.1997.
Habe mich in ein Abenteuer gestürzt. Bin mit dem Fahrrad bis zur Firma
gefahren, um das Geld für die Waschmaschine abzuliefern.
Dann
will ich noch zum Briefkasten bis zur Potsdamer fahren. Plötzlich wickelt sich
mein Hosenbeinsaum um die Pedale. Ich stürze.
Schmerzen
im ganzen Körper. Ich weiß gar nicht, wie ich bis nachhause gekommen bin.
29.5.1997.
Angstgefühle in der Wohnung.
Lora
ist ins Ferienlager gefahren. Paul bei der Arbeit. Bin allein zu Hause.
Ich
stehe vor dem Spiegel. Bemale mein Gesicht. Grell und grotesk. Mit Lippenstift
und Kajal.
Ich
hasse dieses Spiegelbild. Ich hasse mich, pummelig, ungepflegt, lächerlich.
Kein Wunder, dass ich alleine mit mir Angstgefühle habe. Ich fürchte den Teil
von mir, der im Dunkeln meiner Existenz liegt und immer mehr Oberhand gewinnt.
Den Teil, den ich noch nicht kenne und der all mein Bemühen, die Beste, die
Schönste, die Gütigste, die…zu sein, zunichte macht.
Ich
nehme Loras Zeichenblock und ihre Farbstifte. Male meine dunkle Seite auf, wie
sie aus meinem Kopf kriecht und mich mit dürren Armen umschließt.
Ich
nenne sie Samantha. Jetzt hat sie einen Namen. Einen viel zu schönen Namen.
Vielleicht taufe ich sie mal um.
"Ich
kenne dich kaum, Samantha. Ich will dich auch nicht kennenlernen. Bleib dort,
wo du all die Jahre warst. Bitte!"
Dann
gehe ich und wasche sie mir erst aus dem Gesicht.
Wenn
ich sie mir schon nicht aus dem Leib reißen kann.
30.5.1997.
Ich fresse alles in mich hinein, was ich finde. Den Hunger, quatsch, das
Hungergefühl kann ich überhaupt nicht mehr zügeln.
Paul
bringt immer vier, fünf Tafel Schokolade mit. Vollnuss. Zwar hab ich ihn
gebeten, es nicht mehr zu tun, aber er hört überhaupt nicht, was ich sage.
Lange bleibt die Schokolade nicht im Schrank.
Wenn
er merkt, dass nichts mehr da ist, gibt es Streit. Doch am nächsten Tag ist die
Schokolade wieder im Schrank. Ich weine und esse sie.
Ich
möchte von jemandem in den Arm genommen werden. Ich möchte mich an einer
Schulter ausweinen können. Ich bin unglücklich.
Paul
kann mich nur für die Zeit seines tierischen Aufflackerns in den Arm halten. Zu
mehr reicht es nicht. Das ist nicht genug. Nicht für mich.
Die
Zweisamkeit mit ihm ist noch immer eine völlige Einsamkeit.
01.6.1197.
Lange nicht gehört! Ein Presslufthammer rattert auf der Straße.
Ich
fühle wie mein Herz zu rasen beginnt. Der Lärm hört nicht auf. Ich flüchte in
Loras Zimmer und drücke Kissen auf mein Ohr. Das Hämmern aber dringt durch.
Ich
stehe unsicher vor der großen Spiegeltür von Loras Kleiderschrank. Mache das
Radio an und tanze vor dem Spiegel einen grotesken Ablenkungstanz. Nilpferd in
Ekstase.
Die
Sonne wirft lächerliche Schattenfiguren auf den Teppich.
Der
jetzt in Funktion tretende Bagger, reißt mir schier die Schädeldecke aus ihren
Fugen.
Ich
versuche mich mit allerlei Sachen abzulenken. Meine Augen und Ohren schicken
Hilferufe an mein Gehirn, das sich mächtig anstrengt, mich am Leben zu
erhalten.
Plötzlich
Stille. So still, dass ich dem nicht so recht traue.
Ich
sinke erschöpft auf die Couch. Schlafe ein.
Bin
in Rumänien. Die Wohnung ist so voller Müll, dass ich im Traum weine. Ich
versuche Ordnung zu machen, doch ich komme nicht voran. Und ich muss bald
abreisen. Ich finde meinen Ausweis nicht, die Fahrscheine nicht. Ich werde
meine Wohnung in Berlin verlieren, den Job.
Schweißgebadet
werde ich wach. Das Getratsche einiger Frauen unter meinem Fenster hat mich,
Gott sei Dank, aus dem Schlaf gerissen.
20.7.97.
Meine Wohnung ist meine Gruft. Ich sitze, wenn ich allein bin- und das bin ich
oft- mit heruntergezogenen Rollläden. Vermeide es, zur Tür zu gehen, wenn es
klingelt. Der Fernseher ist mein Fenster zur Welt und Lora und Paul sind die
dünnen Fäden zur Realität.
Samantha
begleitet mich. Lautlos und doch so präsent. Wenn ich Selbstgespräche führe,
hört sie mir zu, ohne dass ich sie großartig beeindrucken könnte.
Ich
frage mich, fängt Wahnsinn so an?
Ein
Funken Hoffnung ist die Zusage, in eine Klinik für Psychosomatik aufgenommen zu
werden. Es ist das Einzige, das mich noch wach hält, das mir ein Lichtblick
ist.
Und
ich habe mich alleine dazu durchgerungen. Ein gutes Zeichen?