10.Kapitel
04.08.1997.
Die Klinik.
Ich
sitze verwaist und unbeholfen da. Nachdem man mich herumgeführt, aufgeklärt und
ausgefragt hat.
Erschreckend
viele Jugendliche hier. Ich dachte, was mir passiert, das passiert wenigen
Menschen. Hier erlebe ich das Gegenteil.
Werden
mich diese jüngeren und viel jüngeren Menschen akzeptieren? In Deutschland
scheint eine Kluft zwischen alt und jung zu herrschen, dass es einem Angst und
Bange wird.
Das
Zimmer ist geräumig. Außer meinem, sind noch zwei Metalbetten drin. Eines davon
ist schon besetzt. Meine Gegenüberbettnachbarin ist nicht besonders gesprächig.
Eigentlich gar nicht.
Ich
habe Hunger. Habe heute kaum was gegessen. Zehn Minuten muss ich bis zum
Mittagessen ausharren.
Dann
wird es uns im Zimmer serviert.
Meine
Nachbarin verschwindet und ich atme auf. Wenigstens kann ich ungestört mein
Essen verzehren.
Ich
gehe auf und ab im Zimmer. Es ist sauber, nur fällt es mir auf, wie schmutzig
die Fenster sind.
Rundgang
durch den Garten. Es ist ein größeres Grundstück mit einer Biowiese im
Mittelpunkt. Bäume und Sträucher wachsen am Zaun entlang. Hinten entdecke ich
eine überdachte Terrasse. Da stehen Liegen. In einer nicke ich vor lauter
Langeweile ein.
Ich
finde einfach keine Ruhe. Kein Mensch da, um zu reden.
Meine
Nachbarin, ich nenne sie Tusnelda, bis sie sich mir mal vorstellt, mir wenigstens auf eine Frage antwortet, wie lange sie schon da sei.
"Drei Monate". Mehr spricht sie nicht.
Ich
kann mich nicht beherrschen. Weine, schluchze, fühle mich einsam.
Tusnelda
eilt davon.
In
Rumänien hätte mich meine Nachbarin gefragt, was mit mir los ist und hätte mir
ihrerseits ihr Herz ausgeschüttet. Egal wie schweigsam sie gewesen wäre.
Das
Einzige, was mich tröstet, sind die Scheiben. Ich putze sie und freue mich
danach, dass sie sauber sind.
Telefoniere
mit Lora, mit Tanja, wo Lora sich meist aufhält, mit Uschi, die nun allein im
Märkischen Viertel wohnt.
Im
Zimmer werfe ich einen Blick über das Buch auf Tusneldas Tischchen. Kafkas
"Urteil". Wenn ich so dreinschauen würde wie Tusnelda, würde ich was
anderes lesen. Trotzdem, sie wächst in meinen Augen.
Gegen
Abend taut sie auf. Sagt mir ihren richtigen Namen. Den vergesse ich gleich.
Es
fällt mir auf, dass sie einen Blick hat, der mich leicht gänsehäuteln lässt.
05.08.1997.
Sechs Uhr morgens. Ich bin schon bereit und drehe eine halbe Stunde Runden um
den Garten. Eine Runde, das sind 280 Schritte. Dauert drei Minuten.
Tusnelda,
ach so, Rosina sagt, ich schnarche nachts. Weiß ich auch, dass ich das kann.
Ich verschweige ihr, dass sie ständig herumschaukelt, wimmert, stöhnt und mir
das Blut in den Adern frieren lässt. Wenn sie sich beruhigt, dann schnarcht
sie auch. Bessergesagt, sie schnurchelt.
Hatte
nachts Kopfschmerzen. Da mir alle Medikamente abgenommen wurden, musste ich um
eine Kopfschmerztablette betteln.
Dann
lag ich da. Als die Schmerzen am schlimmsten waren, wimmerte und stöhnte Rosina
erbärmlich. Manchmal schien es mir, sie tut es an meiner Stelle, um mich zu
entlasten. Als meine Schmerzen sich legten, beruhigte sie sich. Es war mir
unheimlich.
Nun
ist sie nicht viel gesprächiger, aber zugänglicher als gestern. Sie kann sogar
ein Lächeln skizzieren. Sage ich was, sagt sie "toll", wenn es ihr zu
gefallen scheint.
Dachdecker
machen einen Höllenlärm. Das kommt mir bekannt vor.
Rosina
fragt mich, welche Farbe das Leben hat.
"Bunt",
sage ich.
"Toll!"
Meine
Frage, wie sie das Leben sieht, überhört sie geschickt.
Visite
kommt, Visite geht. Putzfrau kommt, Putzfrau geht.
Wie
lange dauert ein Monat?
8:
30. Frühstück ist da. Brot mit zwei Leberwurstscheiben.
Wir
sitzen zusammen am Tisch.
Rosinas
Arme sind verstümmelt. Sie merkt, dass ich betroffen bin.
"Das
mache ich nicht mehr", sagt sie leise.
"Was
machst du nicht mehr?"
Sie
begreift, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.
"Habe
mich früher mit Rasierklingen verletzt", sagt sie lakonisch. Ich höre das
erste Mal von Selbstverstümmelung. Kann es mir nicht vorstellen, wie man sich
eigenhändig Schmerzen zufügen kann.
Meine
Fernsehsucht, meine Fresssucht, sind die nicht auch ein
Sichselbstzerstörenwollen?
Obwohl
ich noch Fragen hätte, ziehe ich vor, zu schweigen. Wenn sie will, wird sie mir
später mehr erzählen.
Habe
ein Zweitgespräch mit dem Klinikleiter. Bekomme eine Menge Fragebögen, wo ich
nur Antworten ankreuzen muss. Bis ich alles durchgelesen habe, stellen sich
erneut Kopfschmerzen ein.
Um
punkt 19 Uhr gehe ich duschen. Kämpfe mit den Hitzewallungen. Und mit dem
Wunsch, dass mich Rosinas Schaukeln nachts nicht wiederholt aus dem Schlaf
reißt. Bis dahin sind es noch drei Stunden.
Ich
gehe in den Park hinaus. Hier wimmelt es von Patienten. Sie sitzen um einen
Tisch herum, spielen irgendein Brettspiel, plaudern. Ein junger Mann klimpert
auf der Gitarre.
Ich
spaziere in den entgegengesetzten Teil des Gartens. Da, wo aus einem
künstlichen kleinen Hügel, mit Felssteinen übersät, ein Bächlein zum
Gartenteich plätschert.
Der
Park, naturgeschützt, schön, aber nicht überwältigend.
In
28 Tagen wird er mir zum Halse heraushängen, oder er wird mir fehlen.
Ich
müsste drüben sitzen, mitreden. Vielleicht in 28 Tagen.
Tanja
beklagt sich am Telefon, dass Lora zu wenig isst. Als ich Paul anrufe, lacht der
schadenfroh. Sie isst zuhause genug.
Zwei
Spinnen habe ich auf dem Gewissen. Gott hab sie selig. Ich sollte sie an den Beinen
fassen und zum Fenster hinauswerfen, meint Rosina. Ich, Spinnen anfassen! Meine
Pantoffeln tragen deutliche Spuren meiner Mordlust.
Dr.
Eichinger scheint enttäuscht zu sein, als er hört, dass der Klinikleiter mich
dem Herrn Hermann zugewiesen hat.
Bei
seinen zerknitterten Klamotten! Er war mir sympathisch und mir tut es leid,
dass ich nicht mit ihm arbeiten darf.
6.8.1997.
Bin um 6 Uhr an der Terrassentür zum Garten. Zu früh. Erst eine halbe Stunde
später wird geöffnet. Drehe dreißig Minuten lang meine Runden.
Später
schaue ich mir ein Buch über Specksteigestaltung an. Das wäre auch was für
mich.
Eine
Neue ist da. Birgit heißt sie. Gesprächig wie eine Schnattergans. Das Gegenteil
von Rosina. Bisschen spießig kommt sie mir vor. Ich muss gestehen, im Vergleich
zu ihr, ist Rosina mir schon ans Herz gewachsen.
Um
11Uhr habe ich meinen ersten Termin bei Herrn Hermann. Scheint arrogant zu
sein. Lässt kein Selbstmitleid aufkommen. Wo ich doch schon seit langem auf ein
wenig Mitgefühl hoffe.
Ich
bekomme wieder Kopfschmerzen. Höllenlärm auf dem Dach.
Ich
flehe verzweifelt um ein Medikament. Man will mir keines geben.
Ich
möchte fliehen. Das tue ich auch. Hinauf zu Hermann. In zehn Minuten habe ich
meine Schmerztabletten. Eine halbe Stunde liegen. Schmerzen geschrumpft bis auf
ein Minimum. Nur die Angst ist in mir, die große Angst, er könnte wiederkehren.
Die
Angst ist es komischerweise, die mich auf die Straße treibt. Ich muss mit ihr
vor dem Schmerz fliehen. Ich umkreise die Klinik, entferne mich, gehe Treppen
zögernd nach irgendwohin, lande in einem Waldstück. Hier fühle ich mich
aufgehoben. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir vorstellen, zuhause in
Rumänien zu sein.
Nach
einer Weile beginnt mein Herz intensiver zu schlagen. Mein Gefühl, zuhause zu
sein, weicht einer Befürchtung, ich habe mich verlaufen. Den Weg zurück finde
ich vor einer Panikattacke nicht. Schweißausbrüche. Wie ein Fisch auf dem
Trockenen irre ich, nach Luft ringend, von einer Straße in die andere. Endlich
der Hafen in Sicht.
Ich
habe meine Angst überwunden, stolz aber bin ich nicht auf meine Leistung. Stolz
werde ich sein, wenn ich diesen Weg bald mit stoischer Ruhe gehen kann.
Birgit
hängt sich an mich wie eine Klette. Sie erzählt viel, wir haben Spaß
miteinander, doch sie lästert ständig gegen die Therapie. Sie bestärkt mich
nicht in meiner Motivation. Zwar bin ich auch voller Zweifel, nur habe ich mir
vorgenommen, alles an mich heranzulassen, solange ich das Gefühl habe, dass ich
darin gut aufgehoben bin.
Ganz
plötzlich entscheidet Birgit, sie geht morgen nachhause. Ihr Mann ist krank und
sie kann sich nicht auf sich selbst konzentrieren.
7.8.1997.
Kopfschmerz, Kopfschmerzen.
Nach
vier Tagen endlich den kaiserlichen Fußweg nehmen können. Die Kopfschmerzen
sind weg.
Das
zweite Gespräch bei Hermann. Ich ziehe mein "arrogant" zurück. Er ist
ein aufmerksamer Zuhörer.
Nach
der Sprechstunde entschließe ich mich zu einem Spaziergang. Eigentlich ist es
meine erste Hausaufgabe. Ich versuche die Ruhe um mich, die Schönheit der
Villen, der Gärten aufzusaugen. Zur Ablenkung und für spätere Tage, wenn ich in
den Alltag zurückkehre.
Heute
klappt es mit dem Spaziergang. Ich bin froh darüber, mache mir aber keine
Illusionen. Es wird nicht immer so gut laufen.
Wo
ist der Bus, die U-Bahn? Es wartet noch ein harter Kampf mit mir selbst. Es
gilt noch eine Herausforderung zu bewältigen, eine Aufgabe.
Birgit
ist weg. Sie war wie ein Komet aufgetaucht, witzig, drollig, freizügig,
gesprächig. Die Welt, in der sie hinausging, ist für mich in nur vier Tagen
irreal geworden.
Plötzlich
überfällt mich die Einsamkeit. Birgit fehlt mir doch.
Wieder
Kopfschmerzen.
8.8.1997.
Heute Nacht habe ich ohne Kissen geschlafen. Einfach nur eine Decke mit
Handtuch unter meinen Kopf gelegt. Keine Schmerzen mehr.
7
Uhr, 45. Habe elf Runden gedreht. Erneut Anflug von Kopfschmerzen.
Sitze
circa zehn Minuten am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Versuche mich zu
entspannen.
Die
anderen praktizieren das morgendliche Turnen im Hof. Ich kann nur von einer
Bank aus zusehen.
Eine
"Neue" setzt sich neben mich. Sie ist deprimiert, wutentbrannt,
aggressiv. Alles geht ihr viel zu langsam. Sie heißt Christina.
Ich
versuche, ihr zu erklären, dass der Weg zu fast jedem Ziel unendlich lang und
voller Schlaglöcher sein kann. Dass man nur mit viel Geduld und
Durchhaltevermögen dahin geraten kann. Ein Ratschlag, den ich mir eigentlich
selbst erteile.
Heute
wollte ich erstmals einen Versuch starten, mit dem Bus zu fahren. Susanne von
nebenan erzählt mir, sie versucht das schon seit drei Monaten und nichts hat
sich geändert. Ich bekomme Angst.
Zum
Bus geh ich also nicht, aber einkaufen will ich. Gehe in den Feinkostladen
hinein, kaufe Süßigkeiten. Solange habe ich mich in den letzten Jahren in
keinem Geschäft aufgehalten. Dann schiebe ich meinen Wagen ganz schnell zur
Kasse. Die freundliche Bedienung hilft mir über die aufkommende Panikattacke
hinweg.
In
meinem Zimmer schreibe ich mir die positiven und negativen Punkte in Bezug auf
meinen Klinikaufenthalt auf.
Negativ:
1.
Trennung von der Familie,
2.
Fremde Menschen, fremde Umgebung,
3.
Langeweile,
4.
Alleinsein,
5.
Ständige Kopfschmerzen,
6.
Mit fremden Menschen ein Zimmer teilen.
Das reicht für's erste.
Positiv:
1.
Trennung ist gut, Abstand gewinnen ist wichtig, für mich, für die Familie,
2.
Die Menschen sind so lange fremd, bis du zu ihnen Kontakte knüpfst. Wer dir
sympathisch ist, den sprich wieder an. Wer dich nervt, den kannst du umgehen,
3.
Langweilig war's mir zuhause oft. Dort musste ich sie mit Fernseher und Essen
ausfüllen. Hier betrachte ich die Langeweile als eine Zeit, in der ich mich
selbst entdecken kann. Irgendwann werde ich lernen, wie ich diese Lehre
auffüllen kann, ohne mir zu schaden.
4.
Alleine war ich zuhause auch, ohne Aussicht auf Hilfe.
5.
Der Chef hat mir einen guten Tipp gegeben, wie ich meine Kopfschmerzen besiegen
könnte- einfach die Dosis der Schmerztabletten zu erhöhen, an was ich nie
gedacht habe.
6.
Ich gehe täglich ohne Angst duschen.
7.
Ich gehe täglich spazieren, habe ausreichend Bewegung.
8.
Ich war einkaufen.
9.
Ich habe Gespräche mit anderen Menschen.
10.
Ich habe kein Heimweh.
9.8.1997.
Heute sind alle ausgeflogen. Freiheit bis um 19 Uhr. Ich darf erst in einer
Woche nachhause zu den Wochenenden.
Mein
erstes Kunstwerk ist entstanden. Aus Ton habe ich eine kniende Frau geformt.
Sie hält sich mit beiden Armen an einem Baumstamm fest. Ich wollte etwas wie
unendliches Leid in diese Gestalt zaubern. Ob das den Betrachtern auch so
rüberkommt, das wird sich noch zeigen.
(2023 gefunden, als Bildbearbeitung der ersten Tage total entfremdet, aber erkennbar. Ist im Müll gelandet)
Ein
geräuschvoller Motor in der Nachbarschaft macht mich verrückt. Es geht schon
seit Stunden so und will nicht aufhören.
10.10.1997.
Habe meine zehn Runden gedreht. Nie wieder ziehe ich diese schweren billigen
Turnschuhe an.
Es
ist 9 Uhr. Rosina ist schon zurück. Wegen Panikattacken. Sie tut mir leid. Ich
habe einen Schreck bekommen. Färbt das jetzt auch auf mich ab?
Als
ich sie frage, was los ist, sagt sie bloß:
"Nicht
sprechen".
Ich
fühle mich wieder überflüssig, irre durch den Garten, werde von Mücken
attackiert, langweile mich mit den Fischlein am Teich und entschließe mich, mich auf
eine Liege hinten im Garten zu legen.
Ich
lerne eine Simone kennen. Wir führen ein langes Gespräch. Sie scheint ein ganz
besonderer Mensch zu sein. Ich mag sie auf Anhieb.
Versuche
es wieder mit einem Spaziergang im Garten, doch die Hitze ist unerträglich
geworden.
Liege
auf dem Bett, höre Musik, Nachrichten. Keine Aussicht auf Kühlung. Die Sonne
scheint jetzt direkt ins Zimmer. Sonntage sind etwas Furchtbares.
Bin
überrascht, als die Tür sich öffnet und Leute aus den anderen Zimmern
hereinströmen. Sie wollen meine Tonfigur sehen. Hätte nicht gedacht, dass mein
Kunstwerk Interesse erwecken könnte. Und wenn die Leute schon in mein Zimmer
kommen, heißt es doch, man hat über meine Figur gesprochen.
11.8.1997.
Um 7 Uhr, 45 trete ich zum Turnen an. Es ist schwül und Mücken gibt's ohne
Ende. Wir kratzen uns, als hätten wir die Krätze.
9
Uhr. Therapie. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie mir was bringt. Ich stehe
noch immer vor einem großen Fragezeichen. Habe auch keine Wunder erwartet.
10
Uhr. Spazieren mit stetem Anflug von Panik. Eine richtige Panikattacke bleibt
aus.
Heute
muss ich mich hinlegen, weil ich nachts kaum ein Auge zudrücken konnte. Rosina
kann neuerdings nicht ohne Licht schlafen. Das stört mich.
Spreche
mit Lora. Ich werde eifersüchtig. Sie scheint mich nicht zu vermissen. Es wird
mir bewusst, dass sie selbstständig wird, dass sie mich irgendwann nicht mehr
braucht. Ich werde mir eine neue Lebensaufgabe suchen müssen.
Dann
spreche ich mit Paul. Er ist enttäuscht, dass Lora sich immer mehr von ihm
abwendet. Sie kommt und geht, ohne ihm Bescheid zu sagen. Ist mehr bei Tanja,
als zuhause.
Tanja
hat mir vor Tagen ein paar Sachen mitgebracht. Sie hat sich sehr abwegig über
Paul geäußert. Es hat mich gestört, weil sie ihre Meinung über ihn scheinbar
auch Lora vermittelt hat. Dem Kind kam das gelegen.
Ich
war froh, dass Lora und Paul miteinander auskommen müssen und sich in den Tagen
meiner Abwesenheit innerlich näher kommen. Dass sie jetzt von der
Hobbypsychologin Tanja therapiert wird, macht mich nicht glücklich. Bei denen
in der Familie geht es nicht sehr harmonisch zu und ich fürchte, Lora nimmt
sich keine nachahmenswerte Beispiele von ihnen. Ich möchte, dass meine
Familie funktioniert und es aus eigenen Kräften schafft. Dass wir miteinander
zu sprechen versuchen. Lora ist erwachsen genug, um jetzt aktiv mitzumachen.
Das Dazwischenfunken von Tanja finde ich nicht in Ordnung, obwohl ich ihr auch
dankbar bin, dass sie sich um Lora kümmert.
Habe
schon lange nicht geweint. Dann mal los!
12.8.1997.
Das morgendliche Turnen. Die Luft ist schwül.
Nach
fünf Minuten wird es mir zu warm. Herzrasen. Ich versuche mir ein Angstgefühl
schönzureden. Es klappt nicht. Weg von hier, einfach weg.
Ich
gehe in mein Zimmer und kann meine Enttäuschung nicht unterdrücken. Habe mich
wieder ausschließen müssen aus dem Kreis der andern. Ich bin nicht mitten drin.
Kann nie mit dem Strom fließen. Mithalten, dazugehören.
Abends
hört man Stimmen von draußen. Sie sitzen alle im Eingangsbereich unter meinem
Fenster. Es wird gelacht, gesprochen. Ich gehöre nicht dazu. Bin allein mit
meinem Selbstmitleid.
Ich
müsste mich bloß aufraffen, die Treppen hinunter gehen und mich dazusetzen.
Doch ich denke an die abweisenden Blicke. Blicke, die sagen:
"Ich
mag dich eben nicht. Nicht weil du es bist, sondern weil ich mich selbst und
die restliche Welt nicht mag."
Sie
haben ähnliche Probleme wie ich. Sie haben aber nicht meine speziellen
Probleme. Die habe ich. Ein unfreundlicher Blick wiegt auf der Waage meiner
Seele zentnerschwer. Ich muss lernen, diesen Blicken standzuhalten und sie zu
ignorieren. Ich bin nicht verpflichtet, den andern Gutelauneblickte zu zaubern
und kann sie auch nicht auf Wunsch bekommen.
Gruppenspaziergang
bis zum S-Bahnhof. Dieser Spaziergang bringt
mir weder engere Kontakte, noch sonst etwas Nennenswertes. Außer Müdigkeit.
11
Uhr. Arbeitsstunde. Trotz Hitze halte ich eine Stunde durch. Wir machen Garten
und Hof sauber.
15
Uhr. Einzelspaziergang als Hausaufgabe. Wegen der Hitze suche ich mir ein
schattiges Plätzchen auf dem Gelände der Villa Harteneck. Hier verbringe ich
eine halbe Stunde und schleppte mich dann zurück.
13.8.1997. Turnen trotz Rückenschmerzen.
In
der Therapiestunde erzähle ich von Tanja, Lora und Paul. Hermann sagt, ich
sollte mit jedem Beteiligten sprechen und ihnen meinen Standpunkt klarlegen.
Ich
rufe sie der Reihe nach an. Die Gespräche verlaufen gut, sie hören meine
Meinung geduldig an und versprechen mir, miteinander respektvoller umzugehen.
Meinen
Spaziergang weite ich heute aus. Klappere alle Straßen in der Nähe ab, die ich
noch nicht betreten habe. Größere Probleme ergeben sich nicht.
Werken.
Unten im Keller ist Hochbetrieb. Ich arbeite in Ton eine Wüstenlandschaft in
Relief. Wie immer, gefällt mir das, was die anderen machen, besser.
Übelkeit.
Vom Essen oder von der stickigen Luft im Keller, ich weiß es nicht.
Abends
wird unten gefeiert. Da sitzen auch die Sturen. Die Gesichter mit den Wolken.
Die, die mir weder guten Morgen, noch guten Abend sagen. Sie würden mir auch
nicht gute Nacht sagen und ich ginge mit einem flauen Gefühl im Magen zu Bett.
14.8.1997.
Wir spielen mit bunten Bällen. Es macht Spaß. Ich entdecke Reflexe und
Bewegungsabläufe, die längst verschüttet waren. Ich entdecke mich aufs neu,
sozusagen. Es ist schön, ein so schönes Körpergefühl zu bekommen. So tut es
nicht weh, dass ich doch irgendwann den Punkt erreiche, wo ich mir gestehen
muss, dass es reicht.
Rosina
bemalte alle ihre Plastiken schwarz. Grelle rote Flecken, die sich nach dem
Brennen wie Blut anfühlen, wurden als Krönung da und dort aufgekleckst. Das
sind die einzigen Farben, die sie zulässt.
"Warum
schwarz?" frage ich.
"Ich
drücke meine Wut darüber aus, dass die Natur es so wollte, dass die Frau das
Spielzeug des Mannes ist, dass sie sich mit Menstruation und Binden herumquälen
muss. Dass sie dazu auch noch Kinder gebären muss."
Ich
kenne nicht den Grund, weshalb sie sich verstümmelt hat, ich weiß nicht, was
sie durchgemacht hat, kann nur da anknüpfen, wo es mir nach ihren beiläufigen
Sätzen möglich ist.
Ich
schlage ihr vor, ich male ein buntes Bild und hänge es neben ihren düsteren
Schmerzplakat, das mir vom Künstlerischen her ausnehmend gut gefällt und das
mich jeden Morgen von der gegenüberliegenden Wand anfletscht, dass mir ein Schaudern
über den Rücken läuft.
"Das
kann ich nicht akzeptieren", kommentiert sie. "Selbst bunter malen,
wäre Verlogenheit sich selbst gegenüber."
Ich
frage:
"Ist
schwarz nicht auch verlogen?"
Sie
wirft mir einen dunklen rätselhaften Blick zu.
"Warum
sollte schwarz verlogen sein"?
"Die
Nacht mag schwarz sein. Doch Nacht ist nicht gleich Trauer. Nacht ist Ruhe vor
dem Weiter. Schau dich in der Natur um. Schwarz entdeckst du kaum. Es ist alles
bunt.
Die
Japaner trauern in Weiß, die Inder verbrennen ihre Toten auf blumengeschmückten
Scheiterhaufen. Unsere Farbe für Trauer ist schwarz, weil wir darauf
programmiert wurden. Seit unserer aller Kindheit. Wenn man uns Gelb
eingetrichtert hätte, währen deine Plastiken heute alle gelb. Selbst ein
Therapeut würde dich ermuntern deinen Schmerz schwarz und brennend rot
darzustellen. Ein völliger Blödsinn nach meiner Meinung. Warum sollte Trauer
nicht farblos sein können, oder meinetwegen pink. Du sträubst dich gegen die
Gesetze der Natur und lässt dich von einer Tradition unseres Kulturkreises
derart mitreißen, dass es wehtut. Du denkst, schwarz sei dein persönliches
Empfinden. Ist aber nur ein Vorurteil, das dir eingeredet wurde. Ich bin vom Irrsinn des Schwarzdenkens auch nicht gefeit, sonst würde mich dein schwarzes Kunstwerk nicht so aus der Fassung bringen."
Nachmittags
scrabble ich mit Claudia. Sie ist verdammt gut und schlägt mich dreimal. Fühle
mich trotzdem entspannt und endlich in der Gruppe angekommen.
15.8.1997.
Hab ich schlecht geschlafen! Denke ans Turnen mit Herzklopfen.
Bin
trotzdem als erste da. Zwar ist es schwül, aber erträglich. Frau Gericke kommt
mit armlangen Stäben aus dem Haus.
"
Die mit ihren Bällen und Stäben", klagt eine verächtliche Stimme neben
mir.
Für
mich sind das vertraute Dinge aus der Kindheit. Wenn das Turnen auch etwas
Angst macht, weil ich mal einen leichten Schwindel bekomme, mal Herzrasen oder
Hitzewallungen, sind es eben diese Gegenstände, die mir Halt geben, an denen
ich mich festklammern kann.
Wir
sollen die Bälle hochhalten und dann mit aller Kraft auf den Boden werfen. Ich
merke, wie gut mir das tut. Oder wenn ich den Stab mit ausgestreckten Armen
gegen den Partner drücke und dieser Widerstand leistet, da begreife ich erst,
wie viele Aggressionen in mir stecken. Schon erschreckend.
Später
widerfrage ich alles. Warum Aggressionen? Weil Frau Gericke das gesagt hat?
Wenn es einfach nur Spaß an der Sache war? Wir Menschen philosophieren uns
soviel Schwachsinn zusammen, dass wohl keiner weiß, welche Betrachtungsweise
eines Seelenzustandes die verrückteste ist.
Gruppenspaziergang
in Begleitung von Schwester Jutta. Im Laden am S-Bahnhof wird eingekauft. Vor der Tür sitzt ein
angeleinter Hund, einer mir nicht bekannten Rasse. Ich gehe ahnungslos an ihm
vorbei und er schnappt nach meinem Bein.
Als
ich um 11Uhr,30 zu Hermann rauf gehe, sitzt mir der Schreck noch immer in den
Beinen.
Ich
erzähle ihm von den Anfängen meiner Ängste, von meinen Schwiegereltern, vom
Alkoholismus meines Mannes, von seiner Tante und seiner Großmutter, die mir
soviel Leid zugefügt hatten, von meiner Machtlosigkeit, mich zu wehren.
"Verdammt lange Arme müssen die haben", sagt Hermann,
"dass
sie Sie hier auch noch erreichen."
Dieser
Satz ist wie ein frischer Wind, der allen Nebel aus meinem Kopf zerstreut. Ich
fühle, wie etwas Ungeheuerliches von mir abfällt. Als wenn mir Flügel wachsen
und ich über dem Erdboden schweben würde.
Ich
weiß nicht, ob ich jemals wieder ein normaler Mensch werde, aber ich weiß, dass
ich diesen Satz nie vergessen werde und er mir auf Abruf immer wieder dasselbe
Gefühl offenbaren wird.
Um
13 Uhr bin ich wieder auf der Straße. Habe noch immer diese Leichtigkeit in
mir.
"Ich
habe von euch allen keine Angst mehr," jubiliere ich innerlich, "nie
wieder. Ihr könnt mir nichts mehr anhaben."
Ich
genieße die Straße. Sie gehört mir. Sie gehört in diesem Augenblick in mein
Leben. Ich kann ihr den Rücken kehren, wann ich will, oder ich kann weiter
gehen. Niemand kann sie mir verbieten. Ich fühle mich so frei wie nie zuvor.
Vor
diesem Tag war jeder Spaziergang auch mit Schmerz verbunden. Jedes Mal, wenn
ich mich über die Umgebung gefreut habe, war noch ein andrer Gedanke dabei.
Warum konnten das meine Eltern nicht erleben? Warum sind meine Kinder, mein
Bruder, meine Schwester nicht da, um das alles zu sehen? Jede kleinste Freude
barg auch Trauer, weil ich diese Freude nicht teilen konnte.
Es
ist heute so anders. Ich freue mich, dass ich das hier erleben darf, dass ich
es geschafft habe, aus meinem Moloch zu kriechen, weit weg von allem, was mich
gebrandmarkt hatte, mir wehgetan hatte.
Das
ist mein Leben und ich will es genießen, weil ich für das Leben der anderen
nicht verantwortlich bin.
16.08.1997.
Ich warte auf Lora und Paul. Eine volle Stunde. Als ich schon wieder
zurückkehren will in die Klinik, steigen sie aus dem Bus, der aus der
entgegengesetzten Richtung kommt. Ist ja nichts Neues bei uns.
Wir
setzen uns in einen Park. Die Atmosphäre ist angespannt. Paul lacht auffallend
viel. Seine Stimme klingt lauter als sonst. Sein aufgesetzter Humor ärgert
mich. Mir ist das alles peinlich.
Nach
einer halben Stunde will er nach Hause gehen. Ist mir recht. Lora bleibt noch.
Wir
spazieren durch die Häuserreihen und sie ist überrascht, wie schön es hier ist.
Dann muss ich in die Klinik zurück.
Nach
dem Mittagessen nehme ich mir den Ton vor, den ich gestern fürs Wochenende von
Herrn Tiller, dem Gestaltungstherapeuten, bekommen habe.
Eine
Frauengestalt, die sich aus einem Echsenkörper befreit, entsteht. Eine Seele,
die sich aus dem Mantel der Vergangenheit schält, sich aus dem Kriechtum nach
oben kämpft. Ich bin so beschäftigt, dass ich nicht merke, wie sich die
Bewohner um mich versammeln. Helle Begeisterung. Tiller sagt:
"Da
haben Sie aber eine Tür aufgestoßen…!"
Nachmittags
spiele ich gegen mich Scrabble. Ich genieße das Alleinsein, denn Rosina ist zu
Hause und unsre Neue, die Uta auch.
Himmel
und Hölle! Was haben die mir ins Essen getan? Ich bin so gebläht, dass ich es
vorziehe, nicht zu den anderen in den Hof zu gehen. Das Alleinsein war mir nie
willkommener.
17.08.1997.
Habe nicht schlafen können. Mitten in der Nacht habe ich mir einen Tee machen
müssen, Pfefferminz und Kamille. Mein Bauch droht mir den zweiten Urknall an.
Mache
Ordnung im Zimmer, fummele noch an der Eidechsenlady herum und bete zu Gott,
dass das Essen heute meine Beschwerden nicht noch mehr reizt.
18.08.1997.
Bodenturnen im Nichtraucherraum. Die noch immer anhaltenden Blähungen bereiten
mir zusätzlich Kopf- und Rückenschmerzen. Wie dreht man sich, am Boden liegend,
mit Blähbauch, so von links nach rechts, dass keine Geräusche entstehen? Ich
bin so darauf bedacht, einen gewissen Muskel zu kontrollieren, dass ich einem
Herzinfarkt nahe bin. Habe grade die Herzfunktion eines Blauwals.
Oben
im Zimmer dann heftiges Nasenbluten. Kein Wunder bei der Anstrengung.
Hermann
quetscht mich so geschickt aus, dass meine Blähungen zwar nicht zurückgehen,
dass ich aber mit hochrotem Kopf von meinem Dilemma erzähle.
Der
ist wohl nicht ganz bei Trost. Ich soll mein Problem der Gruppe preisgeben und
offen darüber sprechen. Bin zwar gebläht, aber nicht verrückt. Die Leute würden
sich danach bei meinem Anblick jedes Mal kugeln vor Lachen.
Versuche
mir beim Ausgehen das Problem wegzuspazieren. Bewegung soll gut sein. Bewegung
schon, aber kein Bodenturnen mit hübschen jungen Männern in demselben Raum.
19.08.1997. Morgens um drei Uhr bin ich schon wach.
Bin
wieder die Erste beim Turnen.
Morgenturnen
im Freien, kein Problem. Die Straße ist ja um acht Uhr recht laut.
Um
zehn Uhr geht's an den Hundestrand runter an den See. Oder an den Hundesee
runter an den Strand, oder so ähnlich. So viele Hunde hab ich noch nie
beisammen gesehen. Das Gekläff geht mir auf die Nerven, auch wenn es da
Exemplare gibt, in die ich mich sofort verliebe.
Heute
ist Visite.
Alles
in Ordnung? Ja, ja.
Das
Essen, in Ordnung? Ja, ja.
Das
ist nicht gelogen. Es schmeckt mir ja, aber wahrscheinlich wird zu viel
sprechendes Gemüse verarbeitet, sag ich mir selbst.
Leider
fühle ich mich immer noch nicht gut. Wie lange werden mich diese
Lufteinschlüsse denn quälen?
13
Uhr, 15. Frau Gericke knetet mir den Rücken, dass mir das Hören und Sehen
vergeht.
Ich
hab's doch nicht im Rücken, liebe Leute!
20.08.1997.
Turnen bedeutet für mich heute eine Riesenanstrengung. Alle Knochen schmerzen
mir. Ich denke, die Gericke mag mich nicht. Gestern hatte sie dann die
Gelegenheit, es mir zu zeigen. Mein ganzer Körper erinnert sich an sie.
Leichte
Kopfschmerzen. Mein Puls ist auf 120. Noch eine Stunde danach.
Bei
Hermann ist heute nichts Gescheites zu holen. Wir philosophieren über das
Furzen.
Seit
der Therapiestunde kitzelt ständig was meinen Lachnerv. Ich stelle mir vor, ich
gehe auf das dringende Anliegen meines geschätzten Herrn Hermann ein. Stelle
mich vor Simone, Norbert, dem hübschen Markus, der rotzigen Christina, Barbara,
Marina und erzähle, Kinder, ich kann meine Körpergeräusche seit einiger Zeit
nur schlecht steuern. Wenn ihr mitten in der Konzentration seid und euch ein
Säuseln aus der Trance reißt, keine Panik. Ich war's nur.
Nein,
das geht gar nicht. Schließlich habe ich meinen Stolz.
Mittagszeit.
Habe einen Riesenhunger.
Es
gibt Gulasch mit Erbsen. Ach, du heiliges Kanonenrohr!
Ich
picke mir die Erbsen einzeln heraus, lege sie ringsum auf den Tellerrand. Eine
Sisyphusarbeit. Allerdings weiß ich nicht, ob ihr Geist nicht doch noch sein
Unwesen im Gulasch treibt. Werde ich morgen sehen.
Rosina
schläft schon eine ganze Weile. Ich gehe hinunter zum Werken. Komischerweise
fühle ich mich danach jedes Mal einsam. Ich habe eine große Leere in mir und
Heimweh nach Rumänien. Kann mir nicht erklären, warum das so ist.
Als
ich zurückkomme, beklagt sich Rosina, dass ich die Tür zu geräuschvoll öffne.
Konnte nicht ahnen, dass sie nach zwei Stunden, während ich weg war, noch immer
schläft.
21.8.1997. Rosina ist nach dem gestrigen
Ganztagsschlaf die ganze Nacht auf gewesen. So bin ich hin und wieder auch wach
geworden. Meine Müdigkeit hält sich in Grenzen.
Nach
dem Morgenturnen sage ich Frau Gericke, dass ich beim Bodenturnen nicht mehr
mitmache. Sie verpetzt mich bei Hermann.
Als
ich zu ihm hochgehe, versucht er mich wieder zu überzeugen, mich bei der Gruppe
zu outen. Schließlich hat jeder Mensch mal Probleme mit der Verdauung. Alles
was er sagt, klingt plausibel. Theoretisch akzeptiere ich seine Meinung. Aber
nie im Leben werde ich mich, nach der meinen, lächerlich machen. Das ganze
Bodenturnen würde zu einem Bodenlachen ausarten, wenn ich vor Anstrengung alle
fünf Minuten losträllern würde.
Diese
ekelhaften Blähungen werden scheinbar niemals aufhören. Ich nenne mich ja
selbst nur noch "Flötchen".
Da
bin ich an der Mauer angelangt, wo ich an der Psychotherapie zweifle. Dass mal
ein Satz kommt, in dem die langen Arme der Erinnerungen mich zu sehr festhalten
und ich diese Behauptung gut finde, ist eine Sache. Dass aber über meine Seele
gesprochen wird, als wäre sie nicht ein Teil von mir, sondern ein Accessoire,
das ich mit mir herumschleppe, ist was anderes. Wenn ich zum Arzt gehe, bin ich
nur Körper, wenn ich vor einem Psychologen stehe, bin ich nur Seele.
Wenn
ich eine Psyche habe, gehört sie zu meinem Körper und ich kann mich nicht
doppelt denken, wenn ich einfach existiere. Dieses "Körperliche" und
"Seelische" kommt mir so gewollt getrennt vor, dass ich nur zweifeln
kann.
Ein
guter Arzt, der sich auch mit den seelischen Problemen auskennt und Zeit hätte,
sich mit mir zu beschäftigen, wäre ein Idealfall.
Nachmittags
sitzen Simone, Susanne, Christina und ich am Teich und quatschen. Ich erzähle,
dass ich früher die Deutschen, die zu uns ins Land kamen, wie Halbgötter
empfunden habe. Ich habe zu ihnen aufgesehen, als kämen sie aus einer anderen
Dimension. Dass ich mittlerweile weiß, Gott sei Dank, dass sie auch nur Menschen
sind. Dass es auch unter ihnen genau so gute, wie böse Menschen gibt, wie
überall. Das ist beruhigend.
23.8.1997.
Es ist regnerisch, ohne kühl zu sein.
Eine
Kakerlake im Schlüpfer hat mir etwas Lebensmut genommen.
Heute
starte ich einen Versuch, alleine nachhause zu gehen.
In
der Bushaltestelle an der Königsallee herrscht eine tropische Schwüle. Ich
sitze allein im Bus. Mein Herz klopft im Takt der Räder.
Genieße
es, sag ich mir.
Ich
sehe Berlin erstmals mit neuen Augen. Ich sage mir, du bist ein Glückspilz. Du
verkommst in keiner Kleinstadt, in keinem Kaff. Du kannst wählen. Zwischen
samstags Flimmerkiste ganztags, oder einem Spaziergang durch die
Sehenswürdigkeiten dieser großartigen Stadt. Du kannst zuhause Trübsal blasen,
oder an einem verrückten Straßenfest teilnehmen. Nicht weil es dir unbedingt
gefällt, sondern weil du nicht abseits stehen willst. Weil es jetzt passiert
und du jetzt lebst.
Theater
am Kurfürstendamm, Komödie am Kurfürstendamm. Wann war ich das letzte Mal im
Theater?
Der
berüchtigte Nollendorfplatz. Ich steige aus. Von hier aus will ich zu Fuß
gehen.
Hier
beginnt ein Kampf mit mir selbst. Ich schnappte schon nach Luft. Mein Herz wird
unruhig. Die vorher klare Zuversicht ist plötzlich ein Tümpel, trüb und
trügerisch. Samantha meldet sich wieder.
Ich
kenne den Geruch dieser Straßen. Ein Geruch, der alles in mir durcheinander
bringt. Ich versuche, nicht den gewohnten Weg zu gehen.
Wie
war das noch beim Turnen? Schulter nach hinten, Brust raus. Wo ist nun
eigentlich das Selbstbewusstsein? Mehr Selbstbewusstsein! "Den Boden
spüren", und "verdammt lange Arme müssen die haben".
Atme,
lebe, mach weiter!
Verdammt!
Frau Schneider steht da mit ihrem Köter. Ich mag niemanden sehen. Keine
Nachbarn. Ich will mich nicht erklären müssen.
Noch
immer lauert sie, die Angst. Nein, nicht auf der Straße. Sie ist in mir, sie
schnappt nach mir.
Hier
ist die Ecke, wo sich gewöhnlich mein Bewusstsein auf Sparflamme befand. Wo ich
aus der Realität gestiegen bin hinein in ein Gefühlschaos. Wo Samantha zum Vorschein
kam.
Als
sich die Straße zu unserm Haus auftut, ist die Spannung plötzlich weg. Ich bin
ein Mensch, der nach drei Wochen Abwesenheit nachhause kommt.
Paul
hat die Küche tapeziert. Statt meiner alten Couch hat er ein neues Schrankbett
aufgestellt. Die Tapeten sind nicht sachgemäß angebracht. Die Bilder hängen
schief, der Teppich muss unbedingt gesäubert werden.
Alles
ist mir fremd geworden. Die Wohnung ist dunkel und bedrückt mich. Das schönste
hier zuhause ist Lora. Ich will sie nicht belästigen, würde sie aber ständig
herzen und knuddeln.
Als
Paul von der Arbeit nachhause kommt, habe ich mich von den Überraschungen
erholt. Er findet, ich freue mich nicht genug über das, was er gemacht hat.
"Doch,
ich habe mich darüber gefreut. Du warst noch nicht hier, als ich gejubelt
habe."
Natürlich
lüge ich. Das spürt er.
Er
flüchtete in die Küche. Kocht eine Suppe. Der Dampf legt sich auf meinen
verschwitzten Körper wie eine zweite Haut. Ich kann kaum atmen. Reiße alle
Fenster auf.
Ungewaschene
Wäsche wartet auf mich und bügeln.
Karl
kommt mit seiner neuen Lebensgefährtin vorbei. Eine unmittelbare Nachbarin von
ihm. Es ist ein komisches Gefühl, ihn an der Seite einer anderen Frau zu sehen.
Sie ist auch Witwe.
Er
erzählt in seiner witzigen Weise von einer weißen Taube, die sich auf sein
Fenster setzt. Sie schaut ihm öfter zu, was er tut. Er meint, das könnte Wally
sein. Dann geht mal die Tür auf, geht wieder zu, geht wieder auf. Und er fragt
Helga, seine neue Partnerin:
"War
das jetzt dein Mann oder meine Frau?"
Ich
lache zwar amüsiert, irgendwie tut es aber weh, wenn ich am Wally denke.
Dann
muss ich wieder zurück in die Klinik. Lora und Paul begleiten mich bis zum
Nollendorfplatz. Ich fürchte den überhitzten Bus. Ist aber nicht so schlimm. Je
näher wir dem Grunewald kommen, desto kühler wird es. Wenn mein Zeh nicht zu
schmerzen würde, hätte ich noch Lust auf einen Spaziergang.
24.08.1997.
Mit Claudia sitzen wir wieder beim Scrabblen. Sie macht es mir nicht leicht,
trotzdem gelingt es mir, zweimal zu gewinnen. Was hier noch keiner geschafft
hat. Sie ist meist unschlagbar.
Plötzlich
kommt diese Christina mit der Horrormiene auf mich zu.
"Ich
kann meinen Kuchen nicht essen. Willst du ihn haben?"
"Oh
ja, für meine Enkelin, die kommt mich heute besuchen. Das ist nett von
dir."
Sie
geht in ihr Zimmer, kommt zurück, hält mir den Teller mit dem Kuchen unter die
Nase und faucht mich an:
"Hier!
Von den bösen Deutschen."
Ich
erstarre vor Entrüstung.
"Hast
du mir dieses Almosen gebracht, um ein Motiv zu haben, mich zu beleidigen? Ich
bedanke mich, den Kuchen kannst du wieder haben. Wenn du das nächste Mal an
einer Diskussion teilnimmst, dann hör gefälligst genauer hin."
Einmal
hat sie mir gesagt, sie fürchtet sich vor mir, weil ich sie angreifen könnte.
Obwohl
ich weiß, dass sie spinnt, dass sie eher in eine Psychiatrie gehört, zittere
ich vor Wut.
Lora
lenkt mich ab. Wir machen einen langen Spaziergang, sitzen endlos auf einer
Bank und führen ein entspanntes Gespräch.
Um
18 Uhr trennen sich unsere Wege. Sie geht zum Bus, ich zurück in die Klinik.
Ich
habe die Hitze gut überstanden. Vor drei Wochen wäre ich bei so einer
Temperatur nicht aus dem Haus gegangen. Trotzdem muss ich mich kurz vor dem
Ziel mit Wasser besprühen und meinen Handventilator hervorkramen.
Kaum
dass ich angekommen bin, öffnet Claudia die Tür:
"Kommst
du scrabblen?"
"Ja,
ich komme scrabblen!"
26.08.1997.
Komme von der Therapie.
Als
ich die Treppen nach unten steige, frage ich mich plötzlich, ohne an das zu
denken, was ich mit Hermann besprochen hatte, wieso ich an meinem Mann hänge,
auch wenn da keine Liebe ist und wir keine Gemeinsamkeiten haben. Und ein
Gedanke flitzt mir durchs Gehirn.
Meine
Mutter war auch mit allerlei Wehwehchen behaftet. Wenn sie sich nicht wohl
fühlte, war mein Vater sofort bei ihr, streichelte sie zärtlich, schenkte ihr
all seine Aufmerksamkeit.
Bin
ich vielleicht auch nur mit diesen Symptomen behaftet, weil mein
Unterbewusstsein erwartet, dass jetzt die Zärtlichkeiten kommen?
Paul
ist zwar auch sofort hilfsbereit, wenn es mir nicht gut geht. Er nimmt mir
alles ab, um mich zu schonen. Doch auf die Zärtlichkeit warte ich umsonst. Das
müsste mittlerweile auch mein Unterbewusstsein begriffen haben.
Dieses
Psychgequatsche macht mich noch irre.
27.08.1997.
Ich wache aus einem Alptraum auf.
Ich
griff im Traum in ein Tier hinein, ich weiß nicht was es war, und zerrte aus
seinem Leib ein Fötus, ein Säckchen heraus. Dann sah ich, dass mich jemand
verfolgte, um mir das Säckchen wegzunehmen. Ich lief einen langen Gang entlang.
Der Verfolger holte mich ein. Ich wollte mich schönreden, den Verfolger
beschwichtigen und wache dann mit Herzrasen auf.
Der
Mond hängt zwischen den Baumkronen. Ist es der Mond? Erst, nachdem ich richtig
wach werde, merke ich, dass es eine Straßenlaterne in der Parallelstraße ist. Der Mond ist auf dieser Seite doch nie
zu sehen.
Wo
ist hier Osten und Westen? Der Süden?
In
Rumänien kannte ich die Himmelsrichtungen wie meine eigene Hand. Ich hätte an
jeder Stelle in der Stadt sagen können, wo Süden und wo Norden ist.
Ich
wusste, dass die Sonne hinter dem Bistrawald hervorkroch, zu Mittag über
Annamarias Haus stand und abends irgendwo in Ungarn, vielleicht in den
Plattensee, versank.
In
der Grundschule hatte ich eine Lehrerin, die ich nie vergessen werde. Die
Geografiestunden hielt sie, wenn gutes Wetter war, draußen auf der Wiese. Von
ihr habe ich die Himmelsrichtungen so erklärt bekommen, dass ich, egal wo ich
war, immer zuerst herausbekommen wollte, ob ich jetzt östlich oder südlich von
zuhause entfernt war.
Ich
wusste, wo der große Wagen steht, wo die Venus abends zu sehen war.
In
Deutschland habe ich dieses Spiel vergessen. Sozusagen, die Orientierung
verloren. Nur auf dem Stadtplan war sie mir gegenwärtig.
Es
wird Zeit, dass ich mich mit der Windrose versöhne. Und mich in der neuen
Heimat besser orientiere.
30.08.1997.
Die gleiche Übelkeit beim Aufstehen, wie gestern Nachmittag. Dazu
Magenschmerzen.
Ich
werde nicht nachhause gehen können. Ich rase im Zimmer auf und ab. Trinke
Fencheltee.
Kein
Ergebnis. Zuhause erwartet man mich.
Und
am Montag wird Hermann fragen, wie es war. Ich muss mich hinauswagen.
Wie
im Trance gehe ich bis zum Bus. Der Fahrer vergisst zu nörgeln, dass ich einen
Zwanzigmarkschein hervorziehe und kein Kleingeld habe. Das ist schon eine
Erleichterung und ich fühle mich gleich besser.
Im
Vergleich zum vergangenen Mal bin ich nicht so entspannt. Es kostet mich
Überwindung, still zu sitzen. Am liebsten würde ich aussteigen, aber in einer
fremden Umgebung würde ich eher eine Panikattacke bekommen.
Am
Olivaer Platz biegt der Bus ab. Schon wieder ein Straßenfest. Erst an der
Uhlandstraße kommt er wieder auf die gewohnte Fahrstrecke.
Ich
entschließe mich plötzlich auszusteigen und die U-Bahn zu nehmen. Ein Lambada
sämtlicher Symptome bringt mein Herz zum Rasen. Vier Stationen muss ich
durchhalten.
"Bei
Stromausfall Ruhe bewahren!" steht auf einem Schild. Ja, Ruhe bewahren.
Ich werde Ruhe bewahren.
An
der Kurfürstenstraße steige ich aus dem Loch unter mir in das Loch in mir. Das
Treppenhochsteigen hat mir die Luft genommen.
Atmen,
atmen.
Die
Handtasche fliegt von einer Hand in die andere. Ich fummele mit den freien
Fingern wie Halt suchend in meinem Gesicht herum.
Meine
Nase ist da. Ich rieche die Straßen. Ihr Geruch nimmt mir meinen letzten Halt.
Noch
fünf Häuser entfernt mein Ziel. Gott, ist das weit weg!
An
der Eingangstür steht Frau Maxim. Ich weiß, sie wird mir ihrer schrillen Stimme
gleich "Frau Niki" rufen und mich in ein endloses Gespräch
verwickeln. Doch mein Gesicht muss ihr die Freude am Schwätzen genommen haben.
Sie sagt nur guten Morgen.
Als
ich endlich die Wohnung betrete, weiß ich, dass ich gleich Paul loben muss,
weil er alles Porzellan beiseite geschoben hat und auf den Schränken
Plattenspieler und Radios, die er von den Mietern bekommen hat, zur Schau gestellt
hat. Weil er das Schrankbett dunkel eingebeizt hat und das jetzt wie der
Eingang in die Unterwelt anmutet.
Das
Zimmer sieht wie ein Trödelmarkt aus. Die neu installierte Neonröhre über der
Küchentür verbreitet eine schummrig- schaurige Atmosphäre über die ganze
Antiquität meiner Einrichtung. Jetzt warte ich nur noch, dass Hades aus der Tür
zur Unterwelt tritt, um mich persönlich über den Styx zu begleiten.
Ich
muss nichts sagen. Er kennt mich. Er sieht in meinem Gesicht die Betroffenheit,
die Enttäuschung.
"Ich
wusste es. Nichts was ich mache, gefällt dir."
Er
wird es nie begreifen, dass mir nur das nicht gefällt, was kaum jemandem
gefallen würde.
Ich
kann ihm nicht widersprechen. Ich habe versucht, die Wohnung so hell wie
möglich zu gestalten und jetzt sitze ich in einer urzeitlichen Höhle.
Er
flüchtet in den Keller. Lässt sich lange nicht sehen. Später kommt er zurück,
legt sich auf die Couch und wirft mir vor, dass ich ihn überhaupt nicht
beachte. Dass er Luft für mich ist. Dass die in der Klinik mir sicherlich schon
suggeriert haben, ihn zu verlassen.
In
diesem Moment nehme ich mir vor, die Therapie abzubrechen. Es hat keinen Sinn
all den Psychounsinn mitzumachen, wenn vielleicht die Trennung von ihm
tatsächlich die Lösung allen Übels wäre.
Zugleich
weiß ich, ich ziehe das doch nicht durch. Und ich werde nie wissen, warum. Auch
kein andrer Mensch wird mir etwas Konkretes sagen können über diese
Machtlosigkeit, mich von ihm zu trennen. Alles wären nur Vermutungen. Und ich
vermute, ich will nichts mehr vermuten.
31.8.1997.
Ich kann lange nicht einschlafen. Dann doch.
Um
3:00 Uhr morgens wache ich auf. Uta schnarcht. Ich kann nicht wieder
einschlafen. Werfe meine volle Mineralwasserflasche um, klatschte, huste,
raschle mit Taschentüchern, schiebe das Nachtschränkchen mit dem Fuß polternd
an die Wand. Nichts hilft. Uta schnarcht weiter. Sie schnarcht auf dem Rücken
liegend, Sie schnarcht, ob sie rechts oder links liegt. Ununterbrochen.
Als
Schwester Petra: "Frühstück", ruft, habe ich das Gefühl, ich hätte
einen Frachter entladen.
Uta
gähnt, als hätte sie die Nacht durchzecht.
Dann
geht das alltägliche Ritual los. Sie zündet die drei Teelichter an, die mich
höllisch blenden, hustet mir dreimal über das Frühstücksei und als mein Magen
sich 360 Grade in sich gedreht hat, wünscht sie mir leutselig einen guten
Appetit.
"Du
hast einen guten Arsch", verkündet sie später. In Rumänien hätte ich ihr
eine gescheuert.
"Hast du nicht gesagt, du bist Pastorin? Und dir fällt an mir nichts weiter auf
als mein plattgedrücktes Hinterteil?"
"Nicht
vergessen, ich steh auf Frauen", zwinkert sie mir zu.
Gott
muss mittlerweile auch mit Irokesenhairstyle und zerrissenen Jeans herumlaufen,
wenn er ihr in der Kirche nicht die Kanzel unter ihren Füßen wegschießt. Ist
mir egal, welche sexuellen Vorlieben sie hat. Nur dieses taktlose
Zurschautragen hätte ich einer Pastorin nicht zugetraut
Telefoniere
kurz mit Paul. Es gelingt mir, ihn auch etwas aufzumuntern. Ich möchte nicht,
dass er morgen betrübt zur Arbeit geht und dort alle anfaucht.
Lora
kommt mich besuchen. Am Hagenplatz essen wir Eis, spazieren dann bis zum
Hasensprung. Am Rückweg sitzen wir noch lange Zeit im Garten der Harteneck
Villa.
01.09.1997.
Tragischer Autounfall der Prinzessin Diana. Es läuft mir eiskalt über den
Rücken. Wenn junge Menschen sterben müssen, denke ich stets gleich auch an die
eigenen Kinder.
Welch
ein Schmerz für die Hinterbliebenen, für ihre beiden Söhne.
07.09.1997.
Ich sehne mich nach meiner Arbeit. Der Dreck, der zuhause auf den Fluren liegt,
der Staub, die Spinnweben, lassen den Wunsch aufkommen, möglich schnell wieder
Ordnung in das Haus zu bringen. Meine Vertretung gibt sich überhaupt keine
Mühe, das zu tun.
Ich
fühle, ich könnte es schaffen, auch ohne Pauls Hilfe.
09.09.1997.
Tiller hat den großen Tisch im Keller mit weißem Papier bedeckt.
Wir
sitzen alle um den Tisch, auf unseren angestandenen Plätzen. Und sollen mit
Fingerfarben malen, was uns in den Sinn kommt. Dabei sollen wir keine Rücksicht
nehmen, ob wir zu weit in des Nachbarn Revier durchgedrungen sind. Wir können
selbst über die Zeichnung unseres Nachbarn drüber zeichnen.
Erstmals
im Leben mit Fingerfarbe arbeiten, macht mir Spaß. Ich schmiere drauflos. Erst
planlos, dann merke ich, dass mein Geschmiere wie Wasserpflanzen aussieht. Gezielt
male ich noch einen Fisch dazu, der an den Pflanzen schnuppert. Paar
Wasserperlen, bisschen Wellen. Fertig mein Bild, ohne, dass ich mehr Platz
brauche, als den vor mir.
Als
wir alle fertig sind, sollen wir die Plätze tauschen und uns immer jeweils
einen Platz nach rechts weiter setzen.
Ich
komme auf Martinas Platz zu sitzen.
Vor
mir breitet sich ein Gewimmel von Fingern aus. Finger, die wie abwährend alle
in meine Richtung zeigen, also auf den Platz, wo ich vorher saß.
Ich
weiß, dass ich mit Martina nie ein Wort gewechselt hatte. Sie schien mir zu
abweisend zu sein, zu sehr von sich selbst eingenommen. Ich fand es nicht
wichtig, mich mit Leuten abzugeben, die mich scheinbar nicht mochten.
Doch
dieses Bild ist wie ein Schlag ins Gesicht. Wie eine ausgesprochene Drohung und
Geringschätzung.
Ich
könnte laut losheulen.
Kann
mich kaum an das erinnern, was weiter geschieht, weil ich nur noch mit Martina
beschäftigt bin.
Später
klage ich mein Leid Hermann.
Er
holt eine Mappe hervor, sucht etwas drin und reicht mir wortlos eine Seite mit
folgendem Text rüber:
"Ein
Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der
Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn
auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den
Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig.
Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er
hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da
etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm
sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen
Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann
bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer
hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der
Nachbar öffnet, doch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn
unser Mann an: "Behalten Sie Ihren Hammer".
Ohne
Hermann mein Gesicht zuzuwenden, schiele ich zu ihm rüber.
"Ich
habe verstanden und schäme mich."
Es
ist mir klar geworden, dass ich mich in meine eigene Fantasie verloren hatte,
wie wahrscheinlich schon so oft im Leben. Und ich begreife auch langsam, dass
jeder eine eigene Meinung vertreten darf.
Selbst
wenn Martina mich nicht mag. Es ist ihr Empfinden und ich kann mir deswegen
keine Vorwürfe machen oder mich auch gleich schuldig fühlen.
Mein
zweites Aha-Erlebnis nach den "langen Armen."
15.9.1997.
Ich war am Freitag zuhause. Habe das Haus geputzt, die Fenster gereinigt, die
Wohnung gesäubert und in Ordnung gebracht.
Am
Samstag war ich allein bei der Sparkasse, um Geld abzuheben. Die Automaten
streikten. Früher wäre ich in Panik geraten. Jetzt wagte ich einen Spaziergang
bis an die Bülowstraße. Zur Sparkasse zurückgekehrt, war der Automat wieder in
Ordnung. Ich ging einkaufen und das ohne besondere Emotionen. Ein tolles
Erlebnis.
Rosina
hat sich verabschiedet. Sie will nicht mehr bleiben. Packt alle Plastiken in
eine Kiste und geht in den Keller, um ihre zuletzt gebrannte Figur aus dem Ofen
zu holen.
Mir
fallen fast die Augen aus dem Gesicht. Die Plastik sieht wie ein Fötus aus. Wie
ein Alien in einer Fruchtblase. Und, ich glaube kaum, was ich sehe. Sie ist
weiß glasiert.
Finde
es lächerlich, trotzdem erzähle ich Hermann meinen Traum, der mich noch immer
beschäftigt.
Ich
stand vor einer Höhle. Drinnen suchten Menschen nach irgendetwas. Vor mir
kniete ein Mann. Er schaufelte eine Kugel aus der Erde, die mit einem morschen
Netz umhüllt war. In diesem Netz verfangen lag auch ein lederner Schmuckbeutel.
Er rief: "ich habe das Ding!" Da ergriff ich den kleinen Beutel und
lief davon. Die Meute hinter mir her. Ich stand plötzlich in einem Raum und
dann in einem Fensterrahmen. Wollte hinunter springen. Unten im Garten waren
viele Menschen versammelt. Ich wusste, wenn ich springe, fange sie mich auf.
Ich sprang. Sie fingen mich auf und alle freuten sich um mich herum.
Als
ich aufwachte, sagte ich mir, gestern wohl zu viel von dem Brathähnchen und den
Pommes frites gegessen.
Hermann
sagt:
"Sie
hatten einen Schatz gefunden und die Klinik hat sie aufgefangen, damit sie
diesen Schatz behalten dürfen. Der Schatz ist ihre Herzenswärme, ihre gesunde
Art zu denken, ihre positive Ausstrahlung auf andere Menschen. Halten Sie
diesen Schatz ganz fest und geben Sie ihn nie wieder her. Ich wünschte mir,
alle meine Patienten hätten so einen Schatz. Dann könnte ich ihnen leichter
helfen. Manche werden ihn vielleicht auch finden, an ihn heranreifen, andere
werden nicht mal begreifen, dass es ihn gibt."
Ich
empfinde diese Worte jetzt nicht als Traumdeutung, sondern als eine schöne
Bemerkung am Rande. Ein wunderschöner Schnörkel auf einem Blatt meines Lebens.
Mit
diesem Gefühl gehe ich spazieren und genieße den Spaziergang in vollen Zügen.
Ich genieße das Heute, denn was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht
auf morgen. Wo doch ein jedes "morgen" auch ein "heute" ist.
Ein Jahr später.
Seit
meiner Therapie, habe ich mein Tagebuch nicht weiter geführt. Irgendwann habe
ich mir gesagt, das sieht ja wie eine Krankenakte aus.
Mein
neuer Hausarzt hat herausgefunden, dass ich an schwankendem Blutdruck leide und
meine Kopfschmerzen und Schwindelanfälle vom hohen Blutdruck kommen. Die
tägliche Einnahme von blutdrucksenkenden Mitteln hat mir das deutlich bewiesen.
Also
mindestens zehn Jahre lang wurde ich von einer Psychotherapie zur nächsten
gereicht, bis ich selbst dachte, ich sei völlig
durch den Wind und nie wieder therapierbar. All die Psychopharmaka, die
ich geschluckt habe, war unnötiges Gift, hat mir meine Kräfte, meinen Willen
gebrochen. Ich kann behaupten, die Psychotherapie hat mich auf Wege gebracht,
die ich ohne sie nie kennen gelernt hätte. Sie hat mir Ängste eingeredet z. B.,
die nichts als eine Antwort auf meinen steigenden Blutdruck waren, wenn ich
überarbeitet oder übermüdet war, wenn ich mich zu sehr aufgeregt hatte, wenn
ich Verdauungsbeschwerden hatte. Und diese Ängste haben sich so in mir
festgesetzt, dass ich nicht weiß, ob ich sie je wieder ganz aus meinen Zellen
bannen kann.
Habe
unsre Wohnung neu möbliert. Helle, schöne Möbel haben einen neuen Glanz in
unsere Hütte gebracht.
Mein
Leben ist kein Rafting, keine Extreme. Es ist weiterhin ein Dahinplätschern.
Wie bei den meisten Menschen .
Meine
Verwandlung in einen selbstbewussteren Menschen hat in dem Augenblick begonnen,
als ich mich an diesem 08.09.1992 in die Fremde getraut hatte. Ich konnte
diesen neuen Menschen in mir nicht akzeptieren, weil er selbst denken musste,
selbst handeln musste, selbst entscheiden musste. Weil er umdenken musste und
sich an eine neue Mentalität annähern musste. Dem ich misstraute. Ich bin nicht
so geworden, wie es anderen oder mir selbst gefällt, sondern so, wie mich das
Leben selbst verbogen hat.
Ich
habe verstanden, dass ich, wenn mir dieses Leben genügen soll, kein anderes
erträumen darf. Und wenn ich mir mal ein anderes wünsche, es nur erreichen
kann, wenn ich etwas dafür tue.
Erstmals
nehme ich es so an, wie es sich mir bietet. Energie für mehr ist nicht drin.
Andere
Menschen waren in meinen Augen seit meiner Kindheit vollkommen. Im Vergleich zu
mir, perfekt. Ich sah über ihre Eigenmächtigkeiten hinweg, oder sie fügten mir
Schmerzen zu, aber sie verloren nicht an Wert in meinen Augen. An allem, was
sie an mir auszusetzen hatten, auch wenn ich im ersten Moment betroffen oder
verärgert war, nahm ich die mir zugesprochene Schuld an. Ich musste bloß einmal
drüber schlafen und schon war ich geneigt, alles zu vergessen und vergeben,
weil sie, die anderen, alle Recht hatten. Ich nie.
Manche
verstanden es instinktiv sehr gut, mir Schuldgefühle einzureden. Und ich war
ein nahrhafter Boden für allen Unsinn, den ich zur erstrebenswerten Perfektion
erklärte.
Jetzt
weiß ich, dass ich nie sein kann, wie andere Menschen es sind. Aber auch, dass
ich mich nicht von anderen nach ihrem Gutdünken umfunktionieren muss.
Ich
kann nicht Ebenbild eines anderen Menschen sein, weil es nicht möglich ist.
Jeder von uns hat einen eigenen Metabolismus, eigenen Charakter, eigene
Lebensumstände, ein anderes soziales Umfeld. Wir können voneinander lernen, uns
anpassen, versuchen, andere Menschen zu verstehen. Aber wir können andere nicht
kopieren und auch nicht ummodeln.
Ich
habe gelernt, dass ich ein eigenständiger Mensch bin, meine persönlichen
Merkmale einmalig sind und dass ich mich selbst in meinem eventuellen
Anderssein so akzeptieren muss.
In
Erwartung, dass ich irgendwann den idealen Partner finden werde, habe ich mich
immer selbstkritisch gefragt, ob ich denn selbst die Eigenschaften eines
idealen Partners habe. Und nur die ehrliche Antwort wahrscheinlich hat mich an
der Seite meines Mannes ausharren lassen. Ich empfand ihn oft so fern von mir, so
fremd. Vielleicht auch, weil ich zu wenig nachgefragt habe, wie es ihm geht.
Und was er sich erträumt.
Jetzt
habe ich auch im großen Maße meine innere Freiheit erlangt, um endlich ich
selbst zu sein. Ok, das dann auch dank der Psychotherapie! Die hat auch was Positives in mir ausgelöst. Ich kann
sagen, ich finde mich in meinem eigenen Ich besser zurecht und kann vieles zurecht rücken, das sich früher unbeachtet in mein Unterbewusstsein eingeschlichen hätte und das bei einem gesunden Erwägen dort keinen Platz gefunden hätte.
Ich
kann mich endlich auch wehren. Ich kann Menschen sagen, wenn ich nicht
einverstanden bin mit etwas, das mir nicht in den Kram passt. Ich werde es aber nie zu wegen bringen,
Menschen eine Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, nur weil es mir so gefällt.
Wahrheit um jeden Preis wird auch ab jetzt nicht gelten, weil ich vor jedem
Menschen eine Achtung habe und mich nicht berechtigt fühle, jemanden zu
beleidigen, nur weil ich dazu in Stimmung bin oder die Wertigkeit der Tugenden
nach ultrapersönlichen Gutdünken interpretiere. Menschen, die behaupten die
Ehrlichkeit und die Wahrheit sei eine absolute Tugend, sind meinem Geschmack
nach die Rücksichtslosigsten. Wenn ich in meinem Leben ehrlicher gewesen wäre,
und ich behaupte auch, ich schätze Ehrlichkeit, wäre es mir persönlich
sicherlich besser ergangen, aber dabei hätte ich sehr viele Menschen verletzt.
Ich glaube nicht, dass ich all die Notlügen, für die ich meine "Ehrlichkeit" geopfert habe, bereuen muss. Ich hätte meine Mitmenschen nicht vor Ärger bewahrt, wenn ich meine "Wahrheit" als solches preisgegeben hätte. Denn, wer behauptet die ultimative Wahrheit zu besitzen? Es gibt soviele Wahrheiten, wieviele Schicksale es gibt. Und diese
Erkenntnis trägt auch zum Dezimieren meiner Schuldgefühle bei, die ich wie ein
schweres Bündel mit mir schleppte. "Sünden", die in ihrer Banalität
praktisch nie welche waren.
.
Dieser
Spruch, "der Weg ist das Ziel", ging an mir immer klanglos vorbei,
ohne mich zu tangieren. Ich habe stets erwartet, anzukommen. Jetzt weiß ich,
dass man im Leben nie ankommt. Anzukommen, ist die falsche Erwartung. Es geht
immer weiter, es verändert sich alles und man kann nicht sagen, dass man
endgültig ein Ziel erreicht hat. Dass man seinen Traum verwirklicht hat. Denn
Träume haben es so an sich, Alltag zu werden, wenn die Wirklichkeit sie
berührt.
Ich
war immer auf der Suche nach einer Heimat. Eine, so wie ich sie erträumt hatte,
habe ich nicht gefunden. Vielleicht gibt es sie auch nicht. Ich begreife, dass
Heimat Gefühl ist, nicht unbedingt ein Ort, an dem man leben möchte. Es ist ein
Gefühl, das Bilder entstehen lässt, die man so in der Realität nicht
wiederfindet. Heimat ist, zumindest in meinem Fall, die Erinnerung an mich
selbst und an das, was und wer ich mal war. Und Heimweh ist eine schwere
Krankheit, die man nur heilen kann, wenn man in der Gegenwart angekommen ist. Und das bin ich einigermaßen.
Trotzdem bin ich zuhause. Zuhause da, wo alle Wesen zuhause sind. Auf dieser wunderschönen Welt, die niemandem und allen gehört.
Trotzdem bin ich zuhause. Zuhause da, wo alle Wesen zuhause sind. Auf dieser wunderschönen Welt, die niemandem und allen gehört.
Das Leben wird weiterhin ein steter Kampf bleiben, wie bei allen anderen Menschen
auch. Ich werde es lieben und hassen und vielleicht insgeheim täglich auf ein neues Wunder hoffen. Denn Wunder soll es immer wieder
geben. Und am schönsten sind die, die der Zufall dir offenbart, wenn du nicht
mehr die Kraft hast, selbst welche zu gestalten.
Oder,
ich werde irgendwann begreifen, dass das größte Wunder die Einsicht ist, dass
man das Wunder gar nicht mehr braucht. Man trägt es doch von Anfang an in sich.
Und dieses Wunder heißt Leben.
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P.s: ACHTUNG!
Falls es jemand bis hierher schafft, oder zuerst hier reinschaut -das Geschreibsel ist 100% Erlebtes, nicht korrigiertes Material, da meine Augen dazu nicht bereit sind, alles nochmal durch zu lesen; nichtlektoriertes Material, da mein Geldbeutel es nicht erlaubt, Lektoren die Miete zu bezahlen. Also wimmelt es wahrscheinlich an orthographischen Fehlern, Formfehlern, Formatierungsfehlern, unklaren Satzformulierungen, usw.
Und dieses Wunder heißt Leben.
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ENDE
..................................................................................................................................................P.s: ACHTUNG!
Falls es jemand bis hierher schafft, oder zuerst hier reinschaut -das Geschreibsel ist 100% Erlebtes, nicht korrigiertes Material, da meine Augen dazu nicht bereit sind, alles nochmal durch zu lesen; nichtlektoriertes Material, da mein Geldbeutel es nicht erlaubt, Lektoren die Miete zu bezahlen. Also wimmelt es wahrscheinlich an orthographischen Fehlern, Formfehlern, Formatierungsfehlern, unklaren Satzformulierungen, usw.