Selbstgespräche mit Samantha- Kapitel 2


2.Kapitel

16.10.1992. Nachmittags versammeln wir uns im Festsaal, der sich in einem anderen Gebäude befindet, im gleichen Hof, unserem Heim gegenüber. Das Brandenburger Fernsehen ist hier, Presseleute, hohe Beamte, Politiker. Es wird geknipst und gefilmt. Auch unser Zimmer, mit Lora auf dem Hochbett.
Es hat sich herumgesprochen, dass da eine Aussiedlerin ist, die gut deutsch spricht. Ich werde gebeten, ein paar Worte des Dankes auszusprechen. Gerne tue ich es, nur aufgeregt bin ich. Es wird mir zeitweilig schwarz vor den Augen. Ich fühle mich vor Aufregung einer Ohnmacht nahe. Das erste und sicherlich letzte Interview meines Lebens. Ein Mann überreicht mir einen riesigen Blumenstrauß. Rote Rosen. Ich bin verwirrt.
Mir wird übel. Alles dreht sich um mich, ich werde befragt, begafft. Die Situation wird mir langsam peinlich.
Zum Glück kommt mir eine spontane Idee. Ich öffne den Strauß und reiche jeder Frau eine Blume. Es ist ein richtiges Wunder. Durch puren Zufall, wie in einem Drehbuch vorgeschrieben, sind im Strauß genau soviele Rosen wie im Saal Frauen. Für mich ein Grund, dass meine Unsicherheit in Freude überschlägt. Und es ist eine gute Ablenkung von der eigenen Nervosität.

17.10.1992. Habe eine schlechte Nacht hinter mir.
Gestern spätabends, wurde die Reportage über unser Übergangswohnheim ausgestrahlt. Ich sah mich erstmals im Fernsehen. Kein ergötzender Anblick für mich. Ich kam mir vor wie eine Galapagosschildkröte, die nach Insekten schnappt. Aus meinem Gelaber wurde das Beste gemacht. Hörte sich nicht so schlecht an, wie ich befürchtet hatte.
Dann kam eine Stelle, wo eine ältere Frau aus dem Ort befragt wurde, was sie darüber denkt, dass hier ein Heim für Aussiedler eröffnet wurde.
"Nichts gegen Aussiedler, nichts gegen Russlanddeutsche- bloß Rumänen brauchen wir hier keine", sagte sie.
Ein junger Mann aus Wohldorf fragte sich, ob das gut gehen wird? Es sind viele Rechtsextremisten in der Gegend.
Die Russen sahen hämisch zu uns rüber.
"Verstanden?'' rief einer mit rauer Stimme, als man ihnen die Worte übersetzte. „ Nicht Rumänen!“
Das hat wehgetan. Wir waren am Boden zerstört. Die Euphorie der letzten Stunden war dahin.
Ich dachte, Böswilligkeit wäre nur von Außen zu erwarten, dabei schläft sie Wand an Wand mit uns.

18.10.1992. Wieder werden wir zu einem Gottesdienst gerufen. Erst scheint alles mit rechten Dingen zuzugehen, bis die Predigt beginnt. Ich erkenne, dass da ein Hobbyprediger am Werk ist. Und wie am Werk! Es wird geschleimt und schließlich hagelt es eine Art von Drohungen in unsere Richtung. Von einem Repräsentant Gottes, der mit seinem scheinbar überstrengen allermächtigsten Gott Blutsbruderschaft getrunken hat. Jedenfalls ist mein Gott ein ganz anderer, als seiner.
Der Kartoffelsalat und die Würstchen bleiben mir im Hals stecken. Es wird mir klar, wir sind einer Sekte auf den Leim gegangen.
Am Weg nach Hause, durch den romantischen Wald, versuche ich den Leuten klarzumachen, wo wir eben ein Stelldichein mit dem lieben Gott hatten. Falls der liebe Gott überhaupt zur besagten Stunde Zeit hatte, sich diesen Hokuspokus anzuschauen. Die meisten amüsieren sich und sagen, dass es schon der Würstchen wegen wert war, hinzugehen.
Für mich ist das eine Lehre. Nicht gleich Ja und Amen zu sagen, wenn man irgendwohin gelockt wird.

19.10.1992. Im Lager versuche ich mir klar zu machen, dass ich in Deutschland bin. Wenn wir in die nächste Stadt fahren- und das sind viele Kilometer, dann scheint es mir, dass wir eine Rundreise durch Rumänien machen. Es ist eigentlich kein direkter Vergleich zu Rumänien. Die Gegend ist schöner, als bei uns zu Hause. Alles ist gepflegter, aber es liegt etwas in der Luft, das mich an drüben erinnert. Ich kann keine Erklärung dafür liefern.
Heimweh habe ich nicht. Weil ich jeden Tag beschäftigt bin. 20 km bis in die Stadt sind schon eine Menge Ablenkung. Dann das Herumgerenne zum Arbeitsamt, zum Sozialamt, zu anderen Behörden.
Beim Sozialamt bittet mich überraschenderweise der Sachbearbeiter, Dolmetscherin für die anwesenden Rumänen zu spielen. Ich erkläre ihm, dass das Zigeuner sind. Ja, ja, aber sie kommen aus Rumänien und es sei gesetzwidrig, die Leute als Zigeuner zu bezeichnen.
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Frage den einen Bengel:
"Sag mal, bis du ein Zigeuner oder bist du ein Sinti oder Roma?''
Er schaut mich treuherzig an und sagt,
"Ich bin ein Zigeuner, wie mein Vater und mein Großvater und ich bin stolz, dass ich ein Zigeuner bin.''
Das übersetze ich nicht. Es war zu meiner Beruhigung gedacht. Die Antwort kannte ich im Voraus.
Die Frau eines entfernt Verwandten meines Mannes war eine Zigeunerin. Eine geschäftstüchtige, adrett gekleidete Frau, häuslich und stets gut gelaunt, war sie unser aller Liebling. Von ihr wusste ich, dass "ihre Leute'' sich stolz als Zigeuner wahrnehmen und es nicht anders haben möchten. Die Welt hier tickt wohl anders.
Über Zigeuner macht man keine Witze, werde ich lächelnd belehrt, als ich mir einen Scherz erlaube. Das empfinde ich fragwürdig und lächerlich. Ich weiß, dass es manche Völker schlimm getroffen hat im Laufe der Geschichte. Ich weiß, das es überall Menschen gibt, die wegen ihrer Hautfarbe, Religion oder Ansichten verfolgt wurden und werden. Trotzdem…
Ich behaupte, so tolerant, wie ich bin, gibt es wenige. Doch wenn ich über Polen, Ostfriesen, Russen oder Außerirdische Witze erzählen darf, warum nicht auch über Zigeuner? Wird mir nicht grade deswegen eine Ausgrenzung aufgedrängt? Toleranz ist das, mir bewusst zu sein, dass ich es mit einem Roma, bitteschön, zu tun habe und ihn trotzdem respektiere, auch wenn ich über ihn Witze mache. Ich kann ihn mir nicht weiß denken und fehlerfrei.
Wenn ich ihn respektiere, verlange ich von ihm das Gleiche. Tut er es nicht, kann ich ihn auch nicht respektieren. Nicht weil er Zigeuner oder sonstwer ist, sondern weil er sich keine Mühe gibt, mein Entgegenkommen zu honorieren. Alles andere wäre eine falsch verstandene Toleranz.

Ich hatte eine Kollegin, auch Zigeunerin. Wir haben im Büro zusammen gegessen, uns gegenseitig besucht, unsere Kinder spielten miteinander. Es war ein Geben und Nehmen. Nur so kann man gemeinsam existieren, wenn etwas Positives von beiden Seiten kommt. Wenn man bestrebt ist, es zumindest zu versuchen.

Sonntags kamen alle zehn Minuten an unserem Haus Zigeunerfrauen vorbei, oft mit Kind am Arm, um zu betteln. Kaum war die eine weg, war die andre schon da. Es gab welche, die wir nicht kannten, die wurden nicht beachtet. Dann gab es andere, die schon seit Jahren sowas wie Stammkunden waren, bis in den Hof kommen durften, sich auf die Bank setzen durften und dann begann unsere Baba mit ihrem Verhör.
"Was machst du mit diesem Essen, das du bekommst? Du verfütterst es doch an deine Schweine, oder?''
"Au, der gute Gott soll mich strafen, wenn ich das tue. Die Kinder essen es auf!''
"Lena, lüg mich nicht an. Deine Enkelkinder essen doch das Zeug aus deinem Sack nicht auf. So wie du es zusammenschmeißt, braucht das nicht mal dein Schwein.''
Lena protestierte heftig, während sie ständig den guten Gott als Zeuge zitierte.
"Du sollst deinen Mund nicht so aufreißen, Lena, man sieht die Goldzähne,'' lachte unsre Baba.
Nun empfinde ich hier in Deutschland diese ganze Menschenrechts Geschichten sehr aufgesetzt. Manche Deutsche versuchen krampfhaft, die Guten zu sein und packen selbst das in Watte, was eigentlich an die Sonne gehört. Missstände ansprechen ist wichtig, sonst werden sie nie auszumerzen sein. Das kann man auch ohne Gewalt und ohne Hass tun.
Die alte Dame aus dem Fernsehen fällt mir ein. "Russlanddeutsche schon, aber keine Rumänen.'' Sie kennt die Rumänen nicht, sie kennt bloß einige Exemplare von Abenteurer, die aus Rumänien kommen und verurteilt ein ganzes Volk, dessen "normale'' Vertreter nie nach Deutschland kommen könnten, weil sie soviel arbeiten müssen, dass sie keine Zeit zum Geldverdienen haben. Und somit Deutschland nie sehen werden, weil sie nie das Geld für die Fahrscheine aufbringen würden. Man neigt leicht zu Vorurteilen, wenn man sich momentanen Eindrücken hingibt und an der Wahrheit nicht interessiert ist.
Und da fällt mir noch auf, wie schnell Menschen damit prahlen, dass sie stolz sind Deutscher, Franzose, Zigeuner oder sonst Was zu sein. Ich denke, man darf nur stolz sein auf etwas, das man aus eigener Kraft erschaffen hat, wozu man mit Leib und Seele beigetragen hat. Dass man durch Zufall in ein Land hinein geboren wurde, dafür kann man aus ganzem Herzen froh sein, aber nicht stolz.

20.10.1992. Wieder in die Stadt. Wieder Arbeitsamt, Sozialamt, Krankenkasse, Bank. Letztere will uns kein Konto eröffnen. Unser Geld stinkt wahrscheinlich. Wobei ich behaupte, es ist geruch- und farblos, weil es gar nicht existiert.
Das Zentrum von Brandenburg ist schön. Viele Geschäfte. Das Angebot reich und verlockend. Der Weg hierher hat uns gestern und heute 56 DM gekostet. Für Lora mussten wir Hose und Jacke kaufen. 200 DM sind futsch. Ich muss für Lora noch Schultasche und Hefte kaufen. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. In Westdeutschland hätte ich Bekannte bei der Caritas gehabt. Sie hätten uns geholfen. Doch hier... Wohin gehen, um Hilfe zu betteln? In diese Situation sind wir gekommen, weil mich meine deutschen Freunde in Rumänien anflehten, nichts mitzunehmen.
"Wir helfen dir drüben,'' hieß es. Doch keiner ahnte, dass wir soweit weg von Nordrhein-Westfalen kommen. Jetzt haben wir das Nachsehen.

Manche Dorfbewohner sind schon mit Altkleidern ins Heim gekommen. Meist passt nichts, oder die Kleidung ist in einem kritischen Zustand.
Die Gemeinde, zu der Wohldorf gehört, ist ein malerischer Ort. Leider viel zu weit weg. Die Bushaltestelle ist auch nicht nah. Zum Arzt oder Einkauf braucht man gute Beine und Ausdauer oder ein Auto.
Lora wird diesen weiten Weg täglich bis zur Schule bewältigen müssen. Wer weiß, wann wir, oder ob wir von hier wegkommen.
Ich lasse, was uns auch bevorstehen mag, an mich heran. Planen kann ich eh nichts, denn ich habe keine Ahnung, wo ich den Knäuel zu entwirren beginnen könnte.

21.10.1992. Empfindungen, die ich hier habe, Freude oder Leid, Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, sind keine Neuentdeckung. Sie hängen auch nicht mit Osten oder Westen, Deutschland oder Rumänien zusammen.
Alles hat, zumindest in meinem Fall, ein wenig mit dem Wetter und meinem Wohlbefinden zu tun. Wie kann es sonst sein, dass ich gestern an dem gleichen Ort, unter gleichen Bedingungen, gut gelaunt war und heute nicht. Dass ich gestern in ein unfreundliches Gesicht blickte und es mir schnuppe war, wie sein Besitzer dreinschaut. Heute leitet dasselbe Gesicht einen Weltuntergang ein.
Das innere Gleichgewicht hält uns bildlich und wörtlich auf den Beinen. Die Bereitschaft, mit dem Leben zu gehen und nicht dagegen. Die Neugierde auf einen Morgen und nicht die Verzweiflung über das Heute. Wenn ich diese Erkenntnis nur nicht zu schnell vergesse. Sonst bleibe ich ein Kind des Zufalls. Und das nicht zu unserem Besten.

23.10.1992. Heute gibt es einen hektischen Tag. Die Bewohner überfallen mich mit ihren Formularen, die ich ausfüllen soll. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer es mir fällt, meine Augen zu überanstrengen. Doch es macht auch Spaß. Der Schreibtisch war und bleibt meine liebste Arbeitsstelle.

Die ganze Nacht hindurch konnte ich nicht schlafen. Seit gestern ist es schon sehr kalt geworden. Ich merke, wie die Leute frieren, weil sie nichts Warmes zum Anziehen haben.
Meine Freunde bei der Caritas in NRW sind mir eingefallen. Wie soll ich es anstellen, dass man einen Transport an Hilfsgütern nicht nach Rumänien, sondern in unser Heim schickt? Vor allem Winterkleidung.
Ich werde mich an Eleonore wenden. Wenn sie zu erreichen ist. Als Ordensschwester ist sie häufig unterwegs. Vor einem Monat in Indien. Mal sehen, ob ich was erreiche kann.
Dann ist da ein junger Mann aus der Nachbarschaft. Der Klaus Falkner. Er arbeitet seit einiger Zeit vorübergehend hier als Heimhandwerker. Wir verstehen uns gut. Er hat zwei Fahrräder angeschleppt. Und hat uns am Sonntag zum Kaffee zu sich nach Hause eingeladen.

25.10.1992. Eine Überraschung. Ein Herr Rabe, der uns schon ein Fahrrad geschenkt hat, kommt mit seinem Auto vorbei. Er fragt, ob er uns mitnehmen könnte. Die Gegend kennen zu lernen. Paul und Lora wollen nicht mit. Ich bin begeistert und er fährt mich durch Wohldorf und durch Kirchdorf. Hinunter zum Klostersee. Er erklärt mir die neue Heimat. Ich bin erfreut, dass wir in einer so schönen Gegend gelandet sind. Und glücklich, dass es Menschen gibt, die spontan ihre Hilfe anbieten, um uns beim Vorwärtskommen zu helfen, ohne zu fragen, wer und was wir sind.
Später kommt seine Frau mit Kleidung und Spielzeug vorbei. Für Lora behalte ich einen Pullover und eine Hose. Den Rest gebe ich weiter an zwei andere Familien.
Wir Menschen sind nirgends auf der Welt allein. Es sei denn, wir wollen es.
Der Nachmittag bei Klaus ist schön. Seine Frau, seine Tochter, ungefähr ihn Loras Alter, alle sehr nett. Wir fühlen uns schon fremd, aber es liegt daran, dass Klaus' Frau recht schweigsam ist. Was nicht mit uns, sondern, wie ich das beurteilen kann, mit Klaus zu tun hat. Da muss wohl ein kleiner Zoff gewesen sein, bevor wir gekommen sind. Ich kann mir denken, dass es um den Alkohol geht. Ist aber nicht meine Sache.

26.10.1992. Bin immer beschäftigt. Immer braucht mich jemand.
Paul, auf den Vorschlag des Heimleiters, hat die Werkstatt übernommen. Wir haben ein schlechtes Gewissen wegen Klaus. Doch der ist gelassen. Er wusste, dass er nur kurzfristig eingestellt wird. Man hatte ihn vorgewarnt und er sei kein so guter Handwerker, sagt er, und traut sich nicht viel zu.
Er sitzt täglich bei uns. Wenn er sein Bierchen hat, scheint die Welt für ihn in Ordnung zu sein.

27.10.1992. Erneut sind eine Menge Fahrräder angekommen. Paul hat alle Hände voll zu tun, um sie zu reparieren. Die ersten Radfahrer sausen gerade durch die Gegend. Das sieht eher nach Rodeo aus. Ich fürchte, dass die Räder bei diesem Tempo schnell das Zeitliche segnen wird.
Paul geht in seiner Arbeit voll auf. Er ist viel ausgeglichener und erträglicher geworden. Kein bisschen nervös, wie früher. Nur nachts, wenn die Männer besoffen herumgrölen und Unfug treiben, platzt ihm der Kragen. Das kann ich auch kaum ertragen. Ich hoffe, dass zu dieser Zeit kein Wohldorfler vorbeigeht. Sonst haben wir bald einen prächtigen Ruf.

28.10.1992. Seit der Einweihung, am ersten Tag, als es hier von wichtigen Leuten wimmelte, war keine Seele mehr bei uns auf Besuch.
Der Einzige, den man ansprechen kann und von dem auch was Gescheites kommt, ist der Herr Killing unser aller Sozialarbeiter. Wenn er aus Brandenburg kommt, ist es, als käme ein Familienmitglied nach Hause. Er fühlt sich bei uns anscheinend wohl und ich habe den Eindruck, als wolle er nicht mehr weggehen. Unser kleines Zimmer stört ihn nicht im Geringsten. Er ist korrekt, bescheiden und ein Gentleman. Ein Segen für uns.

29.10.1992. Heute ist die einstige Pastorin aus Radow, Frau Emsig, hier. Eine ältere Frau, die mich sehr an meine Mutter erinnert. Wir verbringen im Festsaal eine angenehme Stunde mit ihr. Zwar ist die Verständigung gequält bei der unerwarteten Bibellesung, doch beim Singen lockert alles auf und die Menschen freuen sich sichtlich über die Abwechslung und auf den kommenden Donnerstag.

30.10.1992. Paul arbeitet wie besessen an den mehr als zwanzig Rädern, die gestern angekommen sind. Alle stehen sie um den "Ruminski'' herum, keiner versucht aber, ihm zu helfen. Der scheint das auch nicht nötig zu haben.
Unser Heimleiter fliegt für vier Wochen nach Island in den Urlaub. Jagen. Was kann man eigentlich in Island jagen? Eismeerjungfrauen?
Da sitzen wir schön in der Patsche. Es gibt noch so vieles zu erledigen. Mal sehen, wie Frau Manke, die Buchhalterin, alleine mit allem fertig wird.
Großeinkauf. Schultasche, Schreibzeug, Schuhe für Lora, Wintersachen. Als ich mein Geld zähle, merke ich, wie es sich anfühlt, wenn einem das sonst so warme Blut einfriert. Eismeerjungfräulich.

31.10.1992. Paul wird bald in seinem dünnen Jogginganzug erfrieren. Im Schuppen ist es eisig kalt. Und von niemandem kommt wenigstens ein Dankeschön für die Fahrräder. Ganz im Gegenteil. Einige der Räder sind kaputt gefahren und stehen wieder Schlange, um repariert zu werden. Ich fasse es nicht. Haben diese Menschen im Urwald gelebt?
Für mich gibt es nichts mehr zu tun. Die Anträge sind ausgefüllt und ich habe nur das bisschen Haushalt zu erledigen. Frau Manke kommt auf ein Schwätzchen vorbei und Klaus. Und hin und wieder Herr Killing.

02.11.1992. Erster Schultag für unsere Kinder. Ich begleite sie zur Schule. Sie sind aufgeregt und schweigsam. Leicht werden sie es nicht haben. Außer Lora spricht kaum eines von ihnen mehr als ein paar Brocken Deutsch. Das häufigste Wort, das ich gehört habe, war "Schweinebacke''. Immerhin etwas.
Zurück gibt es keinen Bus. Der würde erst um 12 Uhr zurückfahren und jetzt ist es erst 9 Uhr. Es ist irrsinnig kalt.
Ich gehe zu Fuß über die Landstraße, weil ich die Abkürzung durch den Wald unheimlich finde. Die Autos sausen an mir vorbei in beide Richtungen. Sie wirbeln mir die Luft eisig ins Gesicht. Ich kämpfe gegen die Kälte, gegen den Wind und ich fühle mich einsam und unglücklich. Als wäre ich allein auf der weiten Welt. Mein Selbstmitleid schnürt mir die Kehle zu und ich bin dem Weinen nahe. Weiter weg stehen die Häuser von Wohldorf. Ich stelle mir vor, wie die Leute dort im Warmen sitzen und bin noch verzweifelter. Der Weg scheint niemals enden zu wollen.
Als ich endlich in unserem unscheinbaren Zimmer lande, habe ich das Gefühl, ich bin nur noch ein Eisklumpen. Ein Eisklumpen, der im Himmel gelandet ist.

03.11.1992. Heute hat mir Carina aus Dernbach geschrieben. Ich bin angenehm überrascht. Sie war nur kurz in Rumänien. Zwei, drei Wochen, denke ich. Ihr bescheidenes, stilles Wesen hat mir damals sehr zugesagt. Von ihr habe ich am wenigsten auf ein Lebenszeichen gewartet. Sie fragt mich, ob ich nicht hauptberuflich eine Stelle als Sozialarbeiterin annehmen möchte. Ich weiß nicht, was ein Sozialarbeiter eigentlich ist und tut, aber ich würde alles annehmen. Nur sind wir mit unseren Papieren noch lange nicht durch.
Hoffnung hat sich in mir breit gemacht.

04.11.1992. Fühle mich mies. Klaus erzählt, man würde uns im Dorf beneiden, weil wir alles hätten. Viele hätten nicht mal eine Waschmaschine zu Hause und wir haben neben den modernen Waschautomaten sogar Trockner im Waschraum. Manche hätten weder Holz, noch Kohle und wir hätten unsere eigene Zentralheizung. Ach so, auch das ist Deutschland?
Seit ich in Brandenburg Dolmetscherin gespielt habe, frage ich mich auch oft, wie sich ein Staat solche Auslagen mit fremden Menschen erlauben kann und viele in der eigenen Bevölkerung dabei Not leiden.
Ich frage mich vergebens. Nur die Politik kann darauf eine Antwort geben. Ob es wert ist, all die fremden Menschen hier aufzunehmen. Ein Sinn muss wohl dahinter stecken.
Wenn ich mich nur nicht für alles Unrecht in der Welt schuldig fühlen müsste.

05.11.1992. Ich kann Paul überreden, die Arbeit liegen zu lassen und mit mir in die Stadt zu kommen. Betteln zum Sozialamt. Unsere Winterbekleidung liegt in Rumänien, wo sie schon verschenkt wurde und wir frieren hier. All meine schönen Sachen wurden von meinen Kindern an die Nachbarn verteilt, weil sie davon ausgingen, wir werden hier schnell neue Bekleidung erwerben.
Ist das schön! Wir haben Geld bekommen und gleich ein paar Sachen gekauft. Bloß für mich kann ich nichts kaufen. Im Kaufhaus geht es mir so schlecht, dass ich schleunigst raus muss. Ich hatte noch nie ein so schlimmes Gefühl.
Auf dem Weg nach Hause regnet es fein. Die Kälte zieht mir durch alle Knochen. Ich zittere noch Stunden danach.
Frau Emsig kommt auf Besuch. Man ruft mich in den Festsaal. Ich bin angenehm überrascht, dass so viele Leute anwesend sind. Sogar Kinder. Sehr bald begreife ich, wieso so viele Leute da sind. Frau Emsig hat Hilfsgüter mitgebracht.

06.11.1992. Habe eine Menge Schreibarbeit zu erledigen. Und mächtige Schwindelanfälle. Die kommen von den Augen.
Und diese Frau Radtke plappert mir die Ohren voll. Wenn ich sie besser verstehen würde... Diese Sprachbarrieren ermüden mich. Besonders, wenn jemand loslegt, ohne Luft zu holen.

07.11.1992. Habe heute von einer Tante einen Brief bekommen. Sie leben in Stuttgart, es geht ihnen gut. Wenn es uns nicht gefällt, meint sie, können wir ja wieder zurückgehen. Wir hätten dort ja noch ein Haus.
Keine Spur von Ermunterung, kein gutes Wort. Sie hatten weniger Gründe, nach Deutschland zu kommen als ich. Trotzdem hatten sie all ihr Hab und Gut dort gelassen und sind hierher gezogen.
Kein Wunder, dass ich mehr Respekt vor einer Carina, vor einem Doktor Wenzel, vor Eleonore, vor all den anderen habe, die nicht zu meinem Verwandtenkreis gehören, mich aber zu verstehen versuchen und mir Mut machen.

09.11.1992. Wie eine Herde Schafe sind wir in die Sparkasse in Kirchdorf eingedrungen. Die Leiterin persönlich macht mir die Formalitäten für ein Konto. Erbaut von den neuen Mitbürgern scheint sie nicht zu sein. Habe schon lange kein so saures Gesicht gesehen.
Für den Nachmittag hat sich Herr Killing bei Frau Manke angemeldet. Hat ihr gesagt, sie könne ruhig nach Hause gehen, er würde alleine zurechtkommen. Ich kann mir ein Lächeln kaum verkneifen.
Punkt 18 Uhr ist er da. Mit Herrn Pastor Willach. Wie freche Buben sind sie einfach über den Zaun gestiegen. Ich drohe ihnen mit der Polizei.
Herr Killing ist nett wie immer und sein Vorsatz, mit den Jugendlichen zu sprechen, scheint mir eben ein Vorwand zu sein. Natürlich irre ich mich nicht. Es wird spät und ich habe den Eindruck, er wollte einfach nur zu uns kommen. Die beiden Herren fühlen sich bis spät pudelwohl bei uns.
Ich kann danach nicht mehr einschlafen.

10.11.1992. Lora ist jetzt Schülerin der dritten Klasse. Heute ist sie erstmals in einer richtigen Klasse. Bis jetzt saßen die Aussiedlerkinder in einem abgesonderten Raum. Wohl um sie zu testen, wie sie sich verhalten. Und wie weit ihre Deutschkenntnisse reichen.
Lora kommt mit einem Blumenstrauß und einem kleinen Geschenk nach Hause. Sie plappert ausgelassen und erzählt mir, wie schön es in ihrer Klasse ist. Wie nett die Mitschüler und die Lehrerin sind.
Ich bin besorgt. Fürchte, es könnte ihr etwas passieren. Der Weg ist weit. Ich hohle sie zwar jeden Tag vom Bus ab, doch manchmal, um nicht lange im Kalten zu stehen, gehe ich zu spät los und sie ist am Horizont schon als kleiner roter Punkt zu sehen. Ich bin froh, wenn ich sie in die Arme schließen kann.
Und dann kommen immer wieder die Gedanken an die kleine Anda in Rumänien. Zwei Jahre alt, war sie, als wir ausgewandert sind. Wie gerne hätte ich sie aufwachsen gesehen. Das ist aber vorbei. Weg mit diesen Gedanken.

11.11.1992. Habe heute Lora abgeholt. Ein kalter Regen hat uns total durchgeweicht. Die Kleider sind nass, die Schuhe sind völlig aufgelöst. Bei jedem Schritt quietscht das kalte Regenwasser unter meinen Fußsohlen. Mir ist, als ginge ich barfuss. Ich mache mir Gedanken, was Lora morgen anziehen kann, wenn alles pitschnass ist und nicht trocknet.
Paul ist aus einem unerklärlichen Grund seit Tagen nervös. Das bringt mich mehr aus dem Gleichgewicht, als alles andere. Noch gut, dass er seine Werkstatt hat. Da muss ich ihn nicht den ganzen Tag ertragen.
Könnte mich im Heim wohl fühlen, wenn es nicht so laut wäre. Das Gegröle, das Türenzuschlagen, die schrillen Stimmen der Frauen, wenn sie in der Küche versammelt sind… und dieser weite Weg bis zum Laden und überall hin. Ob sich das je ändern wird?

12.11.1992. Frau Emsig ist wieder hier. Die Pakete, die sie mitgebracht hat, sind zu klein. Also sind kaum Leute anwesend. Ist mir peinlich. Führe mit ihr ein interessantes Gespräch über Gott und die Welt. Zuerst im Klubraum, dann auf unserem Zimmer. Frau Emsig fühlt sich scheinbar wohl bei uns. Sie bleibt, bis es dunkel wird.
Überrascht mich angenehm, dass sie uns den Vorschlag macht, wenn wir in die Kirche wollen, sollten wir im Winter lieber in den katholischen Gottesdienst gehen. Da ist es warm. In der evangelischen Kirche wird nicht geheizt.
Das sagt eine evangelische Pastorin. Während im Sorgdorfer Lager der Pfarrer darauf bestand, dass wir nicht in die katholische Kirche gehen, herrscht hier scheinbar Eintracht zwischen den Gemeinden. Eine lobenswerte Sache. Die Kirche sollte die Menschengruppen vereinen, nicht spalten, wie sonst überall in der Welt. Da müssten die Seelsorger und all die Obergurus der verschiedenen Kirchen mit Beispiel vorangehen. Tun sie nicht. Machtspiele sind typische Männersache. Auch wenn es um Gott geht.
Die Begegnungen mit den Einwohnern aus Wohldorf oder Kirchdorf sind im Grunde genommen interessant. Trotzdem habe ich im Nachhinein ein ungutes Gefühl. Vielleicht hängt das mit der Tatsache zusammen, dass man immer etwas geschenkt bekommt. Ohne dass man diese Geste erwidern kann.
Die Menschen sind mir noch fremd. Ich weiß so wenig von ihnen. Bei einem Rumänen muss ich nicht lange auf Worte warten, da weiß ich, woran ich bin. Mit den Deutschen ist es anders.
Paul ist spontaner und hinterfragt nichts. Er nimmt die Dinge, wie sie kommen. Da ist er mir einen Schritt voraus.

13.11.1992. Kirche ist für mich ein schönes Bauwerk. Ich bewundere die Architektur. Als Institution ist sie für mich wie ein zu enges Kleid. Ich kann darin kaum atmen. Hier kann ich mich keinen Deut auf Gott konzentrieren, weil mir der Pfarrer seine Sichtweise der Dinge erklärt. All das, was er selbst aus alten Büchern gelernt hat und selbst nicht konkret wissen kann.
Ich frage mich, ob der gleiche Gott, an den ich zu glauben glaube, auf all die Zeremonien angewiesen ist, die um ihn herum gemacht werden. Ob er das ganze Brimborium auch mag? Fahnen schwenken, Falschsingen in der Kirche, Papstpaläste, Mönchgemurmel, Weihrauch, Hasstiraden auf Andersgläubige, Räucherstäbchen, Opfergaben, Fasten, Messer wetzen und Kriege führen. Alles in seinem Namen. Wenn ich Gott wäre, würde es mir schwindlig werden.
Hier gehe ich in die Kirche, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Die Russen sind alle gläubig.
Mein Glaube ist ein spezieller. Ich habe ihn mir auf mich zugeschnitten. Mein Gott hat nichts mit dem Untergang der Titanic zu tun. Er wohnt einfach in irgendeinem Winkel meines Ichs, oder vielleicht in einer meiner Zimmerecken, oder auf dem Stück Waldweg, den ich gerade hinunter laufe. Er ist keiner, der ständig mit erhobenem Finger hinter mir her ist. (Eigentlich war ich doch immer recht brav.)
Wenn mir jemand die Bibel erklären will, dann bäumt sich alles in mir auf. Mein Gott ist meine sehr persönliche und intime Sache. Pardon für die "Sache".
Wenn es ihn gibt, diesen Gott, dann wird er mich so annehmen, wie ich bin. Davon bin ich fest überzeugt.

14.11.1992. Seit einigen Tagen quälen mich Kopfschmerzen. Erstmals sind sie erträglich. Aber ich weiß, eines Tages geht das große Gedröhne wieder los, wenn tausende Hämmerchen im Hinterkopf mich in den Wahnsinn treiben.

15.11.1992. Große Überraschung. Aus Kirchdorf hatte sich ein Besuch angesagt. Aber plötzlich stehen etwa zwanzig Leute mit Kaffee und Kuchen im Festsaal. Der Raum ist viel zu klein und ich muss Stühle organisieren. Für mich wieder etwas viel Hektik. Dann wird es doch gemütlich. Jeder der Gäste versucht, es so einzurichten, dass er mit einem unserer Bewohner "spricht". Oft werde ich aus immer einer andern Ecke gerufen, um zu "übersetzen''. Mancher der Gäste erinnert sich auch an die paar russischen Begriffe, die noch aus der Schulzeit haften geblieben sind. Die Russen kramen ihre Deutschkenntnisse zusammen. Und es klappt. Es wird gelacht und es wird ein Wiedersehen geplant.
Erleichterung und ein gutes Gefühl der Dankbarkeit sind in mir.

16.11.1992. Es regnet. Ich habe noch immer meine Sommerpumps an den Füßen. Und die sind mehr nass als trocken. Vielleicht liegt es am Wetter, dass ich eine undefinierbare Ungeduld, eine Unruhe in mir spüre. Die Bewohner schwirren um mich herum wie fremde Marsmenschen. Ich kann mit ihnen nur belanglose Sätze spreche. Mir fehlen Gesprächspartner.
Paul ist von morgens bis abends im Schuppen. Weiß nicht, wie er es unter den ewig Besoffenen aushält. Ohne selbst zur Flasche zu greifen. Wo er doch vor kurzem noch selbst damit ein Problem hatte.
Lora ist vormittags in der Schule, nachmittags ist sie mit Olga, der Tochter der Glasers zusammen oder tollt mit den anderen Kindern im Fernsehraum herum.
Frau Manke kommt täglich vorbei, bevor sie nach Hause geht. Sie spricht schnell und viel. Aber dann ist auch sie weg und die Einsamkeit kehrt ein.
Von Klaus haben wir ein altes Radio bekommen, das quäle ich hin und wieder. Nur fällt es mir auf, dass fast alle Sender meist Musik auflegen. Gespräche, Reportagen, einfach menschliche Stimmen sind da recht rar. Wie vermittelt man Kultur, wenn alle Sender nur dieses Tingel- Tangel bringen?
Denke viel an Rumänien. Ohne Heimweh zu verspüren.
Meine kleine Anda, die kleine Enkelin in Rumänien, Adrians Tochter, ist sicherlich ein Stückchen gewachsen, seit wir weg sind. Zwei Jahre alt ist sie. Es fällt mir ein, dass ich ihren Geburtstag im Oktober einfach vergessen hatte.
Wir haben unsere vorläufigen deutschen Ausweise bekommen. Meine Adresse lautet jetzt Kirchdorferstraße 11. Endlich haben wir eine Adresse. Nur ein Zuhause fehlt uns.
Da sehe ich noch schwarz, wenn ich an die Zukunft denke.

17.11.1992. Eine Kinderärztin aus Kirchhof ist mit einem Kleinbus erschienen. Es ist 18 Uhr und sie will uns zur Friedensandacht in die Kirche bringen. Nur die ältere Frau Radtke, ihre Tochter und ich wollen mitgehen. Eigentlich will ich gar nicht so sehr, aber weil es mir peinlich ist, dass sich niemand meldet, opfere ich mich halt wieder. Zum Glück sprechen beide Radtkes so viel Deutsch, dass es im Wagen nicht eintönig wird. In der Kirche bereue ich meinen Entschluss. Es ist so kalt, dass ich nur darauf bedacht bin, mein Zittern unter Kontrolle zu kriegen. Ich verstehe kaum ein Wort von dieser Andacht und schiele nur nach der Tür. Aber wohin entfliehen? Das Heim ist mindestens 5 km weit weg und es ist stockdunkel.
Endlich! Wir werden zum Superintendenten, Herrn Florian, eingeladen. Die Wohnung ist schön und gemütlich. Und vor allem warm. Es wird erzählt und gebastelt. Weihnachtsengel aus Stroh. Die ungezwungene und frohe Atmosphäre erinnert mich an einen Courths- Mahler Roman. Die Frau des Pastors passt wunderbar in diese Atmosphäre. Alles in allem ein glücklicher Ausklang des Tages.
Das Klostergelände neben der Kirche wirkte am Abend noch fantastischer als tagsüber. Ich fühle mich endlich ein wenig in Deutschland angekommen.

18.11.1992. Morgen hat Lora Geburtstag. Erstmals, seit wir in Deutschland sind, habe ich einen Kuchen gebacken. Ich habe es schon fast verlernt. Ob der Kuchen gelungen ist, wird sich erst morgen entpuppen.
Nachmittags kommt Schwester Elise, die Oberin des Klosters, mit einem Teppichboden vorbei. Ich schneide mir ein Stück ab und verteile den Rest an Lena, an Frau Weiden und an die Rybowa. Drei andere Frauen sind beleidigt, weil es für sie nichts mehr zu holen gibt.

19.11.1992. Habe Klaus und seine Familie zur Feier des Tages eingeladen.
Ich habe ihn gebeten, einen Kasten Bier mitzubringen, da er ja ein Auto hat. Ich dachte mir, da sind sechs Flaschen Bier drin. Habe es zumindest im Laden so gesehen. Er kommt aber mit ganzen 25 Flaschen Bier und einer Flasche Wein an. Ich falle aus allen Wolken.
Es wird für mich ein peinlicher Abend. So sehr ich ihn mag, er trinkt zu meinem Entsetzen eine Flasche nach der anderen aus. Seine Frau trinkt nur Wein. Es wird gequalmt, was das Zeug hält. Das kleine Zimmer stinkt wie eine Kaschemme und ich erstickte fast. Lora hustet ständig und sieht mich flehend an.
Als sie gehen, nehme ich mir vor, nie wieder jemanden einzuladen, der säuft oder raucht. Wir müssen, trotz intensivem Lüften, in einem fürchterlich stinkenden Zimmer schlafen.
Zwar hatte mich Frau Manke vor ihm gewarnt. Aber, wer nicht hören will, muss fühlen.
Uns hat er gut getan, bisher zumindest. Was für Gerüchte über ihn im Dorf herumgereicht werden, geht uns nichts an.
Morgen will er uns ein wenig durch die Stadt kutschieren. Ich hoffe, dass die Menschen, die uns etwas wert geworden sind, sich deswegen nicht von uns abwenden.

20.11.1992. Klaus fährt uns durch die Stadt. Es gibt Schönes und weniger Schönes zu sehen. Kaufe für Lora Schwimmsachen für den wöchentlichen Schwimmkurs, Strümpfe und etwas zum Essen. Jedes Mal, wenn ich Geld ausgebe, schrumpft mein Herz vor Angst, es könnte morgen nicht mehr reichen.
Hätte ins Kloster fahren müssen, weil mir Schwester Elise Möbelstücke angeboten hatte. Hab's vergessen. Das verzeih ich mir nie. Für wie unzuverlässig muss sie mich halten?

21.11.1992. Heute wäre meine Mama 87 Jahre alt geworden. Wenn ich an sie denke, schmerzt es noch immer.
Ich muss an ihre letzten Tage denken.
"Hunger,'' war ein Wort, das ich täglich mehrmals hörte.
Es war drei Monate nach dem Sturz von Ceausescu. Das Gewehreknattern hatte aufgehört. Ich konnte endlich zu meiner kranken Mutter nach Reschitza fahren, um sie zu pflegen.
Es gab außer Zwiebel und Eier nur noch Milch im Haus. Und im Laden gab's auch das nicht.
Die Milch schimmerte bläulich, hatte einen zwei Zentimeter dicken Satz und schmeckte scheußlich.
Mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich wieder nur geröstete Zwiebel mit Ei ans Krankenbett bringen konnte.
Wenn meine Mutter Schmerzen hatte, rief ich die Ärztin. Falls sie zu erreichen war. Die öffnete nur den Medikamentenkoffer und sagte:
"Was kann ich Ihnen aus diesem leeren Koffer geben, um die Schmerzen zu lindern?''
Manchmal hatte sie Spritzen dabei, die sie mir für den Notfall zurückließ. Ich musste sie meiner Mutter selbst verabreichen, wenn sie das brauchte. Auf den guten Rat der Ärztin hin. Obwohl ich noch nie im Leben jemandem eine Spritze gegeben hatte.
Als meine Mutter starb, war ich mir sicher, ich bin schuld an ihrem Tod. Ich habe sie getötet, weil ich ihr die Spritze nicht richtig verabreicht hatte.
Ich weiß, dass mich dieser Gedanke ein Leben lang verfolgen wird.
Und da ist noch mein „kleiner“Bruder Willi, der nicht nach Deutschland kommen wollte, obwohl er seine Einreisegenehmigung mit uns zusammen bekommen hatte. Mit ihm zusammen hatten wir ihre letzten Tage erlebt.
Mein Herz schmerzt gewaltig.

Die Kinder haben aus Italien geschrieben. Es ist ein schönes Erlebnis, den Briefkasten zu öffnen und darin liegt etwas für uns. Für Lora liegt ein 100$-Schein dabei. Ich möchte nicht wissen, wie viel Bitterkeit und Schweiß dahinter steckt.
Die Frauen kommen ins Zimmer gestürmt. Geben mir zu verstehen, dass die von der Sekte aus Kirchdorf im Anmarsch sind. Beide Prediger, Vater und Sohn. Ich bitte die Frauen, denen zu sagen, dass ich nicht im Hause bin. Ich weiß, dass sie mich wieder bekehren wollen.
Nach einer Weile kommt Lena zurück und sagt, die Männer hätten sich in den Klubraum gesetzt und warten auf mich. Ich beginne wie Espenlaub zu zittern. Was wollen die von mir? Ich sitze noch eine halbe Stunde da. Dann halte ich es nicht mehr aus. Ich gehe rüber ins Klubhaus. Die Männer empfangen mich freundlich. Doch ich bin so aufgebracht, dass ich nicht mehr klar denken kann. Fühle mich unter einem höllischen Druck.
"Herr Schmidt,'' wende ich mich an den Älteren, " haben Sie jemals mit dem lieben Gott gesprochen?''
Er sieht mich erstaunt an, weiß nicht, was er denken soll.
"Nun, haben Sie oder haben Sie nicht?'' Ich fühle, wie meine Knie weich werden vor Aufregung.
"Ich habe Gott natürlich nicht gesehen,'' sagt er kleinlaut.
"Haben Sie mit dem lieben Gott jemals gesprochen?''
Er wird immer verwirrter und sein Sohn sagt laut und bestimmt:
"Natürlich sprechen wir mit Gott. Und das immer wieder. Gott leitet unsere Schritte und er sagt uns, was wir zu tun haben.''
"Und er hat ihnen die Vollmacht gegeben, mich zu bekehren? Er will, dass ich mich von Ihnen bekehren lasse?''
Ich kann mich nicht mehr halten und bekommen einen Weinkrampf. Wie ein starrsinniges Kind heule ich los und die Männer stehen da, wie vom Blitz getroffen.
"Ich wurde nach meiner Mutter evangelisch getauft. Mein Vater war Katholik. Sie wollen mich zu Ihrem Glauben bekehren. Und mein Gott,'' schluchzte ich verzweifelt, "hat es satt, von so vielen Glaubensrichtungen zerstückelt zu werden. Ich habe ihn in meinem Herzen und ich lasse ihn mir von da nicht nehmen und in eure Kirchen tragen. Ihr habt euren Glauben. Ich verurteile ihn nicht. Dafür möchte ich, dass ihr den meinen akzeptiert und mich in Frieden lässt. Wenn Sie meinen Respekt wollen, dann leben sie ihren Glauben, aber posaunen sie ihn nicht in die Welt hinaus. Dafür habe ich kein Verständnis. War ich klar genug?''
Ich kann nur noch schluchzen und ich weiß nicht, ob die Männer mein Gebrabbel verstanden haben. Aber sie gehen kleinlaut grüßend und äußerst betroffen hinaus.
Meine Mitbewohner staunen nicht schlecht, als ich weinend und zitternd durch ihre Reihen gehe.
Ich weiß nicht, warum ich so außer mir bin. Ich hätte diesen Menschen auch ruhig gegenübertreten können, um ihnen meine Meinung zu sagen.
Es war wohl nicht mein Tag. So aggressiv kenne ich mich gar nicht.

22.11.1992. Eine Nacht über das Übel schlafen, war schon immer meine Devise. Am nächsten Tag hat man den Kopf klarer und alles verliert an Bedeutung.
Was war gestern mit mir los? Ich, die Schüchterne, die Stille, die Schweigsame raste aus. Woher habe ich den Mut genommen, den Männern solche Sachen zu sagen?
Mein Verstand sagt mir, wir brauchen die Hilfe der Einheimischen. Ohne sie sind wir schlecht dran. Wir brauchen ihren moralischen und materiellen Beistand. Doch es ist immer jemand da, der uns einen Termin macht, der uns irgendwohin entführt, ohne zu fragen, ob wir dazu bereit sind. Jeder scheint zu meinen, dass er der Einzige ist, der sich um uns bemüht. Und immer bin ich diejenigen, die vorgeschickt wird, die alle Termine wahrnehmen soll, die Besuche empfängt, die entscheiden soll, was für alle Bewohner  gut und was schlecht ist. Ich habe mich dazu niemals bereit erklärt, aber ich bin plötzlich mittendrin in einer Verantwortung, von der ich nicht weiß, ob ich ihr gewachsen bin. Nachmittags ist kein Heimleiter, keine Buchhalterin da. Ich bin aber immer da.

Ich hasse es, im Vordergrund zu stehen. Um diese Zeit ist mein Zimmer eine Zentrale. Ich eine Art Botschafterin. Das überfordert mich. Besonders, wenn es um so delikate Sachen geht wie der Glaube. Ich wurde ins kalte Wasser geschubst, weil die anderen es wollten. Ich kann mich dagegen nicht wehren. Das gestern war der Tropfen, der das Glas zum Überlaufen brachte. Das war zu viel aufgestauter Frust. Soviel Vulkanismus hätte ich mir vorher nie zugetraut.

23.11.1992. Die meisten Familien haben schon ein Auto. Ich staune nur, woher das Geld kommt. Na ja, wenn wir unser Haus verkauft, die Schwiegermutter auf die Straße gesetzt hätten, wären wir jetzt auch reicher.
Lydia fragt, ob ich nach Wust mitfahre. Zum Einkauf. Natürlich fahre ich mit. Geld habe ich kaum, aber ein wenig die Gegend erkundschaften, ist schön.
Ich vergesse meinen Mund zu schließen und, mein Gott, eine solche Ansammlung von Waren habe ich in den fünfzig Jahren meines Lebens nicht gesehen. Die Eindrücke erschlagen mich fast. Ich frage mich, ob das nicht möglicherweise ein Überfluss ist. Wird das je alles aufgekauft?
Ich fühle mich hier klein und unscheinbar. Und schrecklich arm. Alle schieben riesige Einkaufswagen, bis oben gefüllt mit allerlei Sachen, vor sich hin. Ich habe zwar auch einen, aber da ist nichts drin. Die Preise sind günstiger als in Wohldorf oder Kirchdorf. Doch ich weiß nicht, was ich kaufen könnte. Bin wie gelähmt und kann nicht mal bis zwei zählen.
Als Lydia ihr Auto vollpackt, habe ich nur eine kleine Tüte mit Nichtigkeiten dabei.

24.11.1992. Musste heute wieder am Kloster vorbeigehen. Der Kirchplatz, das Klostergelände sind für mich ein Stückchen Eden. Ich stehe und staune. Es ist wunderschön hier. Als wenn ich diese Bauten ewig kennen würde. Hier könnte ich leben. Mein Herz ist voll von einem Gemisch aus Bewunderung und Wehmut. Voll von dem, was ich habe und was ich gern hätte.

25.11.1992. Frau Engelhardt hat mir Zeitungen geschickt. Ich lese ein wenig darin, kann aber das Gelesene nicht einordnen. Alle Nachrichten sind an Namen gebunden, die mir nichts sagen. Hier entfaltet sich eine fremde Welt, mit der ich noch nichts anfangen kann.
Außerdem muss ich zu Zeitungen ein Verhältnis erst aufbauen.
Früher gab es in Rumänien nur zensurierte Nachrichten und in Hülle und Fülle auch solche über die geliebte Partei, den geliebten Führer und seine glorreiche Familie. Doch nur wenige Zeitungen. Nach Ceausescus Tod und dem Beginn des neuen "humanen" Sozialismus, sprossen die Zeitungen wie Pilze aus dem Boden. Jede noch so kleine Partei, die genauso schnell über Nacht gegründet wurden, hatte am nächsten Tag einen Lappen zu präsentieren. Die wüstesten Geschichten, Polemiken, Beleidigungen wurden so propagiert. Es wurde mir erstmals bewusst, wie Geschichte geschrieben wird und wieviele Möglichkeiten es gibt, sie zu interpretieren. Wieviele Gesichter die angebliche Wahrheit haben kann. Wie kann an der Bibel, die Jahrhunderte hindurch durch Menschenhände ging, was Wahres dran sein? Wenn ich doch gesehen habe, wie man das selbst Erlebte in den textlichen Darbietungen kaum noch wiedererkennt und selbst an dem zweifelt, was man am eigenen Leib geglaubt hat zu spüren? Mein Verhältnis zur Presse und "authentischen" Überlieferungen ist stark unterkühlt. Meine Devise bleibt, lese und lerne, aber glaube nicht alles.

26.11.1992. War beim Heimleiter. Wollte wissen, ob er mir die Geburtsdaten der Bewohner herausgeben kann. Ich dachte mir, es wäre schön, an der Wandtafel am Eingang den Geburtstag des jeweiligen Bewohners anzukündigen. Vielleicht bringt das mehr Nähe zwischen den Menschen zu Stande. Er ist sofort einverstanden und beglückwünscht mich für diese Idee.
Habe auch gleich einen Kandidaten für heute. Den Juri. Ich male eine Karte mit Schnörkel und Blumen und schreibe seinen Namen und einen Glückwunsch darunter. Dann hänge ich die Karte an die Wandtafel. Die Bewohner umringen mich sofort und gleich geht ein Hallo los. Alle stürzten sich auf Juri, der ganz verlegen dabei steht.
Die Oberin kommt zu Besuch. Sie bleibt fast eine Stunde.
Eleonore kommt mir in den Sinn. Die Oberin ist etwas kühler, etwas distanzierter als sie, Eleonore, die wie ein Engel durch die Räume der Schule für Kinderkrankenschwestern in Rumänien schwebte. Die mir so viele Kleinigkeiten geschenkt hatte, alles mit Symbolen getränkt, mit Liebe und Zuneigung für ihre Mitmenschen behaftet, so dass diese Kleinigkeiten schwerwiegende Ding wurden. Etwas ist da zwischen diesen beiden Nonnen, das mir ähnlich scheint.
Es ist Abend. Wie bitter bereue ich meinen Entschluss mit diesen Geburtstagen! In der Etage wird gefeiert. Das Haus bebt von der russischen Musik, dem Getrampel, dem Gegröle. Ich bin einem Infarkt nahe. Versuche, in den Wald zu flüchten. Das Gebrüll verfolgt mich aber und mit der Angst vor der Dunkelheit gepaart, ergibt das eine fast tödliche Mischung.
Vielleicht würde es helfen, an der Feier teilzunehmen. Da würde ich mich noch fremder fühlen und Lärm ertrage ich eh nicht.
Bis das Tohuwabohu nach Mitternacht endlich langsam abebbt, bin ich am Ende meiner Kraft. Paul flucht wie ein Besenbinder und Lora kann sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.
Von mir wird's nie wieder Geburtstagskarten geben, das schwöre ich mir.

27.11.1992. Bin in die Schule gegangen, um Loras Lehrerin kennenzulernen. Sie ist mit Lora mehr als zufrieden. Lobt ihre Fortschritte und dass Lora so gut erzogen ist.
Ich bin froh darüber, dass sich das fortsetzt, was ich auch bei meinen beiden Söhne zu hören bekam. Da habe ich das mit den Kindern gar nicht so schlecht gemacht.
Ich habe einen guten Tag.
Zuhause angelangt höre ich, wie sich etliche Bewohner arg streiten. Das dämpft meine Stimmung ein wenig.
"Asiatisches Kulturzentrum,'' schimpfe ich und bin froh, dass ich nicht weiß, um was die sich in den Haaren liegen.

28.11.1992. Fürchterliche Kopfschmerzen.

29.11.1992. Musste die Frau Doktor Lemmer anrufen. Meine Kopfschmerzen treiben mich in den Wahnsinn. Eine Stunde später erscheint sie schlechtgelaunt. Fast zu spät, weil ich am liebsten schreiend die Wände hochgekrochen wäre. Drei Spritzen in den Nacken, eine in den Hintern kriege ich. Mit ihrem Hündchen springt sie behutsamer um.
Noch eine Stunde unsagbarer Qualen. Dann ebbt der Schmerz endlich ab. Ich gehe wie eine besoffene Ente durchs Haus. Scheinbar ist das Gröbste vorbei.
Ist es?
Nein. Zwei Polizisten erscheinen und suchen mich. Sie kommen aus der Stadt. Sie haben Informationen, dass sich Skinheads in der Gegend herumtreiben. Ich weiß nicht, was Skinheads sind, aber Polizisten warnen ein Aussiedlerheim sicherlich nicht vor Wanderheuschrecken. Es muss was Schlimmeres sein. Jedenfalls sollten wir vorsichtig sein.
Ich stehe nicht grade auf sicheren Beinen, aber jetzt schlottern sie mir richtig. Als die Beamten weggehen, umkreisen mich die Bewohner besorgt.
Versuche zu erklären, was mir gesagt wurde. Die Männer sprechen wirr durcheinander. Die Frauen stehen mit weit geöffneten Augen da und trauen sich kaum zu sprechen. Nur die Kinder toben lauter als sonst. Ihre Schreie klingen nach Hysterie. Sie ahnen wohl, dass etwas in der Luft liegt, das nicht hierher gehört. Sie verstehen nur nicht, was es sein kann.
Erst nach einer Weile bemerke ich, was die Männer vorhaben. Im Wald Stöcke schneiden. Ich versuche sie davon abzuhalten. Wir wollen doch keinen Krieg. Mir wird es schlecht. Versuche ihnen klar zu machen, dass sie von den Stöcken nur dann Gebrauch machen dürfen, wenn es um Leben und Tod geht. Ich weiß nicht mal, ob sie mich verstanden haben.
Ich schleppe mich ins Büro hoch. Rufe die Polizei an. Entschuldige mich. Wollte bloß testen, ob das Telefon wieder funktioniert. Weil es doch immer wieder streikt.
Unten im Hof wäscht ein Mann seinen Wagen. Dicht am Zaun, wo mehrere Autos stehen. Ich versuche ihm zu erklären, dass die Autos hier nicht gut parken. Zu gefährlich. Sie sollten sie mehr ins Innere des Hofes bringen.
Nach einer Weile sehe ich, dass sie alle Pkws dicht nebeneinander in die Mitte des Hofes stellen. Das ist genauso gefährlich. Wenn nicht gefährlicher. Wenn alle Fahrzeuge auf einmal in die Luft fliegen... Doch ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich habe keine Energie mehr, für andere zu denken. Ich kann und will nicht mehr.
Wer kann, schiebt seine Schränke an die Fenster ran. Besonders die im Erdgeschoss. Paul will es auch. Ich bitte ihn, es zu lassen. Wir wohnen zwar auch Parterre, aber ich sehe gerne, was auf mich zukommt. Ein Schrank vor dem Fenster würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Meine Angst noch vergrößern.
Habe versucht, die Männer zu bewegen, der Reihe nach Wache zu halten. Entweder haben sie mich nicht verstanden. Oder sie wollten mich nicht verstehen.
Ich sitze die halbe Nacht am Fenster und starre unentwegt hinaus. Der Himmel ist klar und alles in meinem Blickfeld ist vom Mond erhellt. Es ist so still, dass man meinen könnte, die Welt wäre in Ordnung. Das ist sie sicherlich niemals. Nur wenn die Gefahr so nahe an einen herantritt, dann ist das eine ganz andere Dimension der Unsicherheit.
In Rumänien hatte ich das Fürchten gelernt. Revolution, Gewehreknattern, Umschwung, den man nicht deuten konnte. Danach Chaos und Anarchie.
Kurz vor unserer Ausreise dann das Beben der Erde, das sich wochenlang wiederholte. Bei jedem Geräusch bin ich in Panik geraten.
Der Mond sieht still und gläsern aus, wie ich ihn schon seit immer kenne. Er zieht über eine Welt, in der einige Menschen meinen, sie hätten ein Stück dieser Erde nur für sich gepachtet. Sie wären Herrscher über Leben und Tod. Und doch sind wir alle auf dieser Welt zuhause. Und ähnliche Wesen. Egal ob wir helle oder dunkle Pigmente vererbt bekommen haben. Egal welche Sprachen wir sprechen, egal welchen Namen unser Gott hat. Schon deshalb wäre es wichtig, dass wir uns wenigstens gegenseitig respektieren.
Die Angst hat sich etwas gelegt. Und als ich mich müde geschaut habe, gehe ich weit nach Mitternacht endlich schlafen.

30.11.1992. Die Oberin holt mich mit dem Wagen ab, um mich ins Kloster zu bringen. Sie hat uns Möbelstücke angeboten. Ich soll sie aussuchen.
Bin im Heim von Zimmer zu Zimmer gegangen, um zu fragen, ob es diesbezüglich Wünsche gibt. Keiner wollte Möbel habe. Es sei eh kein Platz mehr. Wenn ich dann welche mitbringe, wird es wahrscheinlich wieder Streit geben. Ich werde kaum alle zufrieden stellen können.
Schwester Gitte bittet mich in ihre Wohnung zum Tee. Typische Wohnung einer älteren Frau. Vollgestellt mit allerlei Erinnerungen, eng und doch gemütlich. Sie erzählt mir Geschichten aus ihrem Leben. Auch ihre Familie musste fliehen. Musste weg, woanders ein neues Leben beginnen. Sie kann sich in unserer Lage hineinversetzen. Sie weiß, dass wir es nicht leicht haben. Ich fühle, wie eine Spannung von mir abfällt. Es tut gut, Menschen zu begegnen, die uns verstehen.

Als wir zurückfahren, begegnen wir drei Streifenwagen, die aus der Richtung unseres Heimes kommen. Ich bin etwas besorgt.
Die Oberin meint, sie hätten mich gesucht. Wieso mich, denke ich?
Im Heim angekommen, versuche ich, die Möbel, so gut es geht, gerecht zu verteilen. Ein Wunder. Keiner reklamiert, keiner meckert.
Ich gehe ins Büro hinauf. Der Heimleiter sitzt noch da im Dunklen.
"Ist was los?'' frage ich. Er sagt nur:
"Keine Panik. Es ist nichts passiert. Paar Skinheads sind in der Nähe gesehen worden. Wir müssen uns aber keine Sorgen machen.''
Ich bin trotzdem besorgt. Ich glaube eher der Streifenwagen wegen, die am Heim auf und ab vorbeifahren.
Übrigens, wie wäre es, wenn man Gelegenheit hätte, mit diesen Skinheads zu sprechen? Ich wüsste gerne, wie sie aussehen, was sie denken. Man kann sich doch nicht von etwas fürchten, oder etwas verurteilen, das man nicht kennt. Ich möchte das Objekt unserer Unruhe ins Auge fassen können.
Meine größte Sorge gilt Lora. Der Weg zur Schule und vor allem der Weg nach Hause könnten für sie gefährlich werden. Wenn ich ihr entgegengehe, habe ich auch so ziemlich die Hosen voll. Meist schicke ich Paul, weil mich diese ganze Panikmache doch sehr ansteckt.
Der Heimleiter ruft mich. Wir haben ein neues Funkgerät bekommen und ich darf Soldat spielen. Muss lernen, wie man es bedient. "Kilian 10- 10'' heißt die Parole. Alles klar. Mir wird somit die Verantwortung für brenzlige Situationen, für vierundzwanzig Männer, dreiundzwanzig Frauen und zwanzig Kindern übertragen. Ich muss für sie denken, für sie handeln.
Und der Teufel soll mich holen, wenn ich mich dabei gut fühle.

02.12.1992. Habe von Carina einen Zeitungsausschnitt aus dem Westen bekommen. Ein Küster, ein Hausmeister wird irgendwo gebraucht. Ich schreibe meine erste Bewerbung ungeschickt, unsicher, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Die Feiertage sind im Anmarsch. Ich bin schon jetzt unglücklich. Die ersten Weihnachtstage ohne unserer Familie. Ich mag gar nicht daran denken. Und ich spiele erstmals mit dem Gedanken, zurückzukehren. Weg von hier, wo wir eh nur ein Fremdkörper bleiben werden. Es wäre eine Niederlage. Aber vielleicht doch zu ertragen?

03.12.1992. Die Möbel, die ich im Kloster ausgesucht habe, sind heute nachgeliefert worden. Habe ein Bett und einen Schrank für uns ausgewählt. Hoffe, dass sie ins Zimmer passen.
Typisch! Als ich vor einigen Tagen durch alle Zimmer ging, um nachzufragen, welche Möbel fehlen, fehlte komischerweise keinem etwas. Es sei eh kein Platz, hieß es. Und jetzt wird mal wieder gestritten. Frau Richard kommentiert lautstark. Es gefällt ihr nicht, dass ich diesen Schrank genommen habe.
Wenn sie nur ein wenig logisch denken könnte, würde sie meine Gründe bald verstehen. Sie hat für sich und ihre zwei Kindern je ein Zimmer mit je einem Schrank. Also Platz genug für ihre Sachen. Wir hingegen wohnen zu dritt im Zimmer, haben einen einzigen Schrank und der platzt aus allen wackligen Nähten. Aber rechtfertigen werde ich mich sicherlich nicht. Es steht jedem frei, das nächste Mal selbst mitzumachen, wenn es heißt, etwas für das Heim zu tun. Geschafft hat es diese keifende Frau, mir den Tag zu verderben.

04.12.1992. Unser Zimmer sieht jetzt ganz gut aus. Wohn- Schlaf- und Esszimmer zugleich. Aber es ist sauber und gemütlich. Und das zählt. Könnte zufrieden sein, wären da nicht immer diese Unruhe und der Anflug von Angst in mir. Angst vor dem Unbekannten, das da draußen lauert, von der Zukunft, die ich mir in keinerlei Farben schön denken kann. Angst vor mir selbst, weil ich nicht weiß, wie mich dieses neue Leben umkrempeln wird.

05.12.1992. Ein Nikolausgeschenk! Wir bekommen 85,40 DM Eingliederungsgeld pro Woche. Und Miete muss extra bezahlt werden. Ich stehe vor einem Rätsel, wie wir das schaffen.
Schwester Gitte ist mit einer Schwester Ingeborg aus Kirchdorf zu Besuch bei uns. Sie haben Kleidungsstücke und zehn Nikolauspäckchen mitgebracht. Ich Undankbare denke aber, warum kommen die nur ins Aussiedlerheim? Warum sind sie nicht auch zu Klaus hinüber gegangen. Der ist doch arbeitslos. Ist ihresgleichen, hat ein Kind und bräuchte auch mal Hilfe.
Ich versuche, die Päckchen umzuverteilen, damit alle unsere Kleinen ihre Freude haben. Die größeren Kinder haben das Nachsehen. Es reicht nicht für alle. Frau Richard reklamiert natürlich wieder in ihrer stacheligen Art. Wieso ihre Kinder nichts bekommen haben? Dabei ist ihre vierzehnjährige Tochter so groß wie ich, färbt sich die Haare und die Lippen und sieht nicht mehr wie ein Kind aus. Schon gar nicht wie eines, das sich auf ein Päckchen vom Nikolaus freuen könnte. Der sechzehnjährige Sohn hätte wahrscheinlich auch keine Luftsprünge getan, wenn er ein Päckchen bekommen hätte. Diesen Leuten fehlt es immer wieder an Einsicht. Sie meinen, ich würde alles für uns behalten. Dabei hat Lora nichts bekommen, weil ich auch ihren Teil, mit ihrer Einwilligung, weitergegeben habe.

06.12.1992. Wäre gerne in die Kirche gegangen. Frau Vodovozowa hat mir gestern das Angebot gemacht, mich im Auto mitzunehmen. Heute kommt sie aber nicht mehr zum Vorschein. Ich bin enttäuscht.
Frau Emsig kommt zu Besuch. Ich kann mich aber nicht freuen. Auch als sie mich einladet, am Donnerstag zu ihr nach Radow zum Kaffee zu kommen, ist meine Freude geheuchelt.
Ich könnte heute nur heulen. Es ist kein Heimweh und nichts Bestimmtes, das mich quält. Ich fühle mich wieder fremd und orientierungslos. Wie ein verirrtes Blatt im Winde.
Auch die Lichterketten in München können mich nicht darüber hinwegtrösten. Es sind ja nicht die, die die Lichterkette bilden, die Ursache meiner Sorgen. Leider auch nicht die Lösung. Es sind die vielen anderen, die in die Waagschale fallen, wenn es um unsere Ängste geht und um diese Anspannung. Passiert heute was Schreckliches? Oder passiert überhaupt je etwas, was uns unser Vertrauen in die Menschheit nimmt?

07.12.1992. Herr Winter aus Kirchdorf, den wir schon kennen gelernt hatten, kommt vorbei und bringt mir einen Beutel voll Putzmittel, Waschmittel, Duschgels, Körperlotion und ein Parfüm. Kommt gut, denn diese sind im Geschäft teuer. Er hat zu Hause ein Lager mit solchen Sachen, ich weiß aber nicht, was er damit macht. Ist mir peinlich, zu fragen.
Der Kirchenchor samt Pfarrer und Gemeindemitglieder aus G. sind gekommen. Bei Kaffee und Kuchen werden Advents- und Weihnachtslieder gesungen. Die Freundlichkeit der Leute tut mir gut und es ist schön, in lächelnde Gesichter zu schauen und sich im Glanz dieser Augen fallen zu lassen. Auch die Angespanntheit der letzten Tage fällt von mir ab. Ich fühle mich, egal für wie lange Zeit, wieder befreit.

08.12.1992. Heute Morgen werde ich ans Telefon gerufen und eine männliche Stimme bittet mich, mich im Heim kundig zu machen, wer abends in ein klassisches Konzert nach Brandenburg kommen möchte. Ein Bus würde uns abholen. Ich bin wieder mal alleine da und soll handeln.
Ich hausiere von Tür zu Tür. Niemand hat Interesse an einem klassischen Konzert. Ich würde gerne hingehen, aber alleine…
Dem Mann am Telefon sage ich Bescheid, dass sich leider niemand dafür interessiert.
Später bricht ein kleines Donnerwetter über mich herein. Der Heimleiter ist aufgebracht. Ein Landrat hätte zehn Karten für dieses Konzert extra für uns besorgt und wir können ihn doch nicht zurückweisen.
Frau Manke opfert sich auf und kommt mit ihrem Mann. Der Heimleiter geht auch das erste Mal in ein klassisches Konzert. Die junge Frau Radtke kann ich auch noch überzeugen, dann doch die Einladung anzunehmen. So sitzen wir abends zu fünft im Kleinbus.
Ich fühle mich nicht wohl. Zwar ist die Musik wunderschön. Mozart und Bach schweben in der angenehm parfümierten Luft. Es sitzen paar hundert andächtig schweigende Menschen  um mich herum. Doch mir wird es in jeder Minute bewusster, wie fremd ich hier bin.

09.12.1992. Katrin Manke kompliziert die Dinge. Sie versucht, sich wegen dem Fiasko mit den Konzertkarten bei den Leuten in der Stadt mit fadenscheinigen Ausreden zu rechtfertigen. Ich finde das haarsträubend. Der Landrat hätte zuerst nachfragen können, ob es überhaupt Interessenten für das Konzert gibt. Erst dann hätte er die Karten aus eigener Tasche bezahlen sollen. Man kann den Heiminsassen nicht vorwerfen, dass sie nicht an klassischer Musik interessiert sind. Und dass sie auch an sonstigen Veranstaltungen nicht mitmachen möchten, ist auch verständlich. Wen zieht es schon dahin, wo er nicht zu Hause ist und da auch noch kein Wort versteht von dem, was man spricht. Das wird vielleicht in ein, zwei Jahren gehen, wenn sich ein jeder irgendwie eingelebt hat.
Hilfe ist was Wunderschönes. Doch die Leute müssten es wissen, dass man Hilfe auch zielgerecht einsetzen kann.

10.12.1992. Waschen, bügeln ist angesagt. Und einmal gründlich aufräumen. Ich kann es mir nicht leisten, bei den vielen Besuchern, etwas liegen zu lassen.
Frau Emsig holt mich mit dem Auto ab. Im kleinen Trabant hoppeln wir durch Wald und Feld. Die Gegend muss im Sommer ein Traum sein. Ich würde am liebsten aussteigen und zu Fuß durch die Landschaft schlendern.
Das Haus ist geräumig. Seit dem Tod ihres Mannes wohnt Frau Emsig auf zwei Etagen allein. Überall liegen Bücher herum. Alte, schöne Bücher und ich bedauere, dass ich mit meinen schlechten Augen sie nicht alle verschlingen kann. Das kann ich Frau Emsig nicht unbedingt glaubhaft erklären und sie schwatzt mir drei Bücher auf. Ich weiß, dass ich sie nie lesen werde, so liebend gerne ich das tun würde.
Dann sitzen wir im Wintergarten und ich nippe vorsichtig am Kaffee. Ist nicht so mein Ding, weil Kaffee mich so unruhig macht, als hätte man mir eine Extremität in eine Steckdose platziert. Man kann all diese Wehwehchen natürlich nicht allen Menschen vorjammern.
Im Garten, in einer Ecke, blüht tatsächlich noch eine Rose. Sie ist zwar grün geblieben. Trotzt aber dem Dezember in einer rührenden Art.
Beispiel nehmen!

11.12.1992. Der Superintendent hat Bettwäsche gebracht. Mit Grauen denke ich daran, dass ich sie verteilen soll und einige wieder leer ausgehen. Wieder wird es Gerede geben.
Da entschließe ich mich kurzerhand, die schönste Bettwäsche für uns zu behalten. Dafür schuften Paul und ich genug und kriegen eh kein Dankeschön dafür. Ich fühle mich nicht mal schuldig bei dieser Eigenmächtigkeit.
Nicht zu glauben, dass ich kein schlechtes Gewissen habe. Ich, die kaum etwas im Leben getan hat, was alleine für mich bestimmt hätte sein können. Immer war ich darauf bedacht, zuerst das Wohl meiner Familie, Angehörigen abzuwägen, bevor ich mich für oder gegen etwas entschieden habe.
So kann einem das Leben andere Weichen legen. Unbemerkt und schleichend entwickelt man sich zum Egoisten.
Nur weiß ich nicht, ob ich darüber stolz sein darf.

12.12.1992. Schade, dass unser Fotoapparat kaputt ist.
Die Kinder schmücken den riesigen Tannenbaum vor unserem Fenster. Die Bilder vor meinen Augen sind einmalig schön, dass ich bedauere, sie nicht festhalten zu können.
Ich stehe am Fenster und kann nicht genug bekommen von diesem Anblick. Die roten Wangen, die lachenden Augen und das hektische Geschrei -so viel Leben in diesem kleinen Vorgarten.

13.12.1992. Waren bei Kathrin zum Kaffee eingeladen. Sie hatte Besuch aus Berlin. Diese Leute schienen mir so kalt und hochmütig zu sein, dass bei mir keine große Freude aufkam. Vielleicht ist das nur eine Einheitsmaske, die das Leben den Menschen in einer Großstadt aufsetzt. Die Leute hier sind etwas wärmer. Wie in Rumänien. Das ist nur eine spontane Theorie von mir. Ich kenne sonst keine Berliner.
Es ist schrecklich, wenn ich irgendwo stundenlang steif wie ein Ölgötze dasitzen muss. Es gibt sicherlich paar Tricks, wie man sich aus solchen Situationen retten kann. Die habe ich leider nicht auf Lager.

14.12.1992. Auf meine Bewerbung habe ich weder eine positive noch eine negative Antwort bekommen. Wäre auch viel zu schön, dass mir sowas auf Anhieb gelingt. Ich darf nicht vergessen, wir sind in einem Alter, in dem die Nachfrage gleich Null ist. Außer man hat außergewöhnliche Eigenschaften oder berufliche Kompetenzen. Mit hiesigen Maßstäben gemessen, haben wir beides nicht.

15.12.1992. Leute von der Bundeswehr waren hier. Die hatten es aber eilig! Paar Worte, Päckchen für die Kinder und weg war der Weihnachtsmann.
Bei dem Superintendenten ist es angenehm wie immer. Ein schön gedeckter Tisch erwartet uns, Kerzen brennen, es wird gebetet, gesungen, erzählt. Nachher stellen wir, etwas ungeschickt, einen Stern zusammen. Die Dame des Hauses hilft uns dabei mit guten Ratschlägen.
Ein sehr schöner, ungezwungener Abend, an dem man seine Freude hat. Wir sind auch für den Januar wieder eingeladen- Frau Weiden, Frau Radtke und ich. Ich freue mich schon darauf.

16.12.1992. Mit waschen, bügeln und kochen ist der heutige Tag vorbeigegangen. Nichts passiert. Keine Briefe kommen. Es ist einfach langweilig.
Hätte einen Termin für eine Physiotherapie gehabt. Um 10:15 hätte ich einen Bus dahin gehabt. Um 11:45 Uhr sollte ich dann schon an der Bushaltestelle sein, um zurückzukommen. Wenn ich den Bus dann nicht erwische, muss ich stundenlang auf den nächsten warten. Oder ich darf wieder über die endlose Landstraße wandern. Ich sage ab.

17.12.1992. Habe zu Pauls Entsetzen wieder das ganze Zimmer umgestellt. So aber haben wir mehr Platz gewonnen und es sieht besser aus.
Wollte mir einen schönen kleinen Teppich kaufen und Bettdecken, damit es zu Weihnachten freundlicher aussieht. Leider ist das nicht gelungen. Wir haben so wenig Geld bekommen, dass es einfach unmöglich war.
Außerdem möchte ich einen neuen Fotoapparat kaufen, denn es gibt so vieles, das ich festhalten möchte. Und es ist mir auch wichtig, dass Loras Eltern ihre Entwicklung mitbekommen. Wenn sie schon ihr Kind nicht bei sich haben können.

18.12.1992. Der Superintendent und seine Frau waren hier. Sie hatten ein Körbchen dabei mit allerlei gebastelten Sachen, Kerzen. Ich habe an alle Bewohner etwas verteilen können. Der Fernseher, den sie mitgebracht hatten, ging an die Familie Sicker.

21.12.1992. Die Familie Weiß zieht heute nach Westen. Ich bin krank geworden, seit ich das erfahren habe. Obwohl es mir klar ist, dass vorläufig an unserer Situation nichts zu ändern ist und wir hier erstmals gut aufgehoben sind, nagt so etwas wie Neid an meiner Seele. Ganz anders könnte ich mir diese fröhliche Weihnachtszeit vorstellen. Doch nicht schon wieder lamentieren!
Auch wenn ich eine schlaflose Nacht hinter mir habe (Waffenraub in G.), es gibt Millionen Menschen, denen es schlechter geht als uns.

22.12.1992. Herr Killing hat mich angerufen. Wir bekommen Weihnachtsgeld. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich könnte wieder die ganze Welt umarmen.

23.12.1992. Habe es nicht geschafft, meinen Scheck einzulösen. Gut, dass Paul heute einen Garten umgegraben und 50 DM bekommen hat. So haben wir doch etwas Geld zum einkaufen.

24.12.1992. Eine herrliche Weihnachtsfeier im Kloster.
Ich habe Tränen in den Augen, als wir in den Saal treten. Ein wunderschön geschmückter Weihnachtsbaum, herrlich gedeckte Tische und im Hintergrund auf circa 8 m² eine Krippe mit circa 50 cm großen handgeschnitzten Figuren überraschen uns. Alles geschmackvoll ansprechend.
Die Atmosphäre ist einmalig festlich. Die Kinder tragen Gedichte vor, die sie seit Tagen auswendig lernen. Die schönste Weihnachtsfeier, die ich mir vorstellen kann. Noch nie habe ich Ähnliches erlebt.
Zu Hause gibt es eine neue Überraschung. Unser Gabentisch ist reicher, als ich es mir erträumen konnte. Glückwunschkarten, ein Paket von Maria, einer der guten Engel, die in Rumänien Wunder vollbringen, ein Paket von den Raabs, eins von Kathrin, Brief von unseren langjährigen bayrischen Brieffreunden, die uns wie Familienmitglieder betrachten.
Dieser krumme, komische Christbaum, den uns die Dame aus dem Lebensmittelladen geschenkt hatte, sieht inmitten der Geschenke nicht mehr so schlecht aus.
Meine Batterien sind wieder aufgeladen.

27.12.1992. Else hat mir einen Brief geschrieben. Ob ich nicht nach Rumänien zurückkehren will? Ich dürfte bei der Caritas wieder weiter arbeiten. Werde mit offenen Armen erwartet.
Nein, Else. Dazu ist in Rumänien schon zu viel in die Brüche gegangen. Und ich lerne hier gerade fliegen. Ich stürze sicherlich noch oft ab. Aber solange ich Flügel habe, werde ich sie regen. So schnell gebe ich nicht auf.
Allerdings, wenn mich jemand fragen würde, wie ich mir die Zukunft vorstelle, könnte ich nichts Konkretes sagen, weil ich nicht mal weiß, wie sich Deutschland richtig anfühlt.

28.12.1992. Je mehr Kontakte wir zu den Menschen hier haben, desto besser für uns. Zumindest ich bin bestrebt, sie zu verstehen, ihre Denkweise zu begreifen, für mich Anregungen zu holen. Doch eins wird mir immer klarer. Die Kontakte habe nicht ich zu den Menschen, sondern sie zu mir. Ich gehe aus Eigeninitiative nicht auf Menschen zu, weil ich das nie konnte. Freundschaften und soziale Kontakte überhaupt werden nur solange bei mir funktionieren, solange andere meine Nähe suchen. Über diesen Schatten zu springen, muss ich lernen. Nur wie ich fürchte, es wird eh nie passieren.

29.12.1992. Paul träumt davon, von hier wegzukommen. Er wird täglich ungenießbarer. Teils verstehe ich ihn, teils wäre es gut, wenn er sich nicht gegen alles sträuben würde, das hier passiert. Doch es ist sicherlich frustrierend, wenn man nur mit der eigenen Frau ein Gespräch führen kann, weil er weder russisch, noch gut deutsch sprechen kann.
Für mich ist es ja auch nicht leicht. So ein nachbarlicher Plausch wäre mal schön. Aber das geht hier nicht. Es reicht immer nur zu einem kleinen Geplänkel mit der quirligen jungen Radtke, einem recht gequälten kurzen Plaudern mit der ewig deprimierten Rybowa und mal ein Fastgespräch mit der älteren Radtke, die am besten deutsch spricht. Na ja, die Lena Klausen radebrecht noch etwas, aber da die junge Frau so sympathisch ist, bin ich auch damit zufrieden.
In Rumänien bin ich mit Kindern verschiedener Nationalitäten aufgewachsen. Ich wusste nie, was es heißt, anderen Völkern gegenüber Vorurteile zu haben.

Als Kinder spielten wir zusammen, ungarische Kinder, deutsche, serbische, rumänische und Zigeunerkinder. Wenn sonntags sich unser Spiel bis an die rumänische Kirche ausgebreitet hatte, dann gingen wir alle mal gerne rein, um zu sehen, ob nicht wieder ein Gedenkgottesdienst stattfindet. Da bekamen wir "pomana". Kuchen und Bonbons, mit Nüssen und Gewürzen gekochte Weizenkörner, in Schalen oder Gläser, die man mitnehmen durfte.
Ob das katholische, evangelische oder orthodoxe Gottesdienste oder Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen waren, wir waren überall anwesend. Meist barfuss und ungewaschen, wie eben Kinder im ländlichen Bereich tagsüber im Sommer aussehen, habe ich so fremde Kulturen als etwas Selbstverständliches gesehen, sie gar nicht als fremd empfunden.
Meine Eltern waren Deutsche, deren Ahnen zurzeit der guten alten Maria Theresia aus dem Schwarzwald in das österreich-ungarische Banat (heute Rumänien) umgesiedelt worden.
Mein Schwager ist Ungar, meine Schwiegermutter eine Ungarin. Die eine Schwiegertochter ist Rumänin, die andere Serbin.
Im Büro sprachen wir rumänisch, bei den Schwiegereltern rumänisch oder ungarisch, bei den Eltern und mit einigen Kollegen deutsch.
Für mich gibt es keine schlechten Menschen, nur weil sie eine andere Sprache sprechen. Was mich an ihnen stört, ist mangelnder Respekt den Mitmenschen gegenüber.
Was mich also hier im Lager stört, ist nicht das Anderssein meiner Mitbewohner. Keiner von uns konnte es sich aussuchen, wo er zur Welt kommt. Was mich stört, ist das schlechte Benehmen, nicht nur der Jugendlichen, sondern auch mancher Männer. Bei Letzteren lässt sich das auf den übermäßigen Alkoholverbrauch zurückführen.
Einzeln genommen gibt es nur wenige, mit denen ich nicht zurechtkomme. Die meisten sind angenehme Menschen. Doch wenn sie zusammen sind…

31.12.1992. Donnerstag.
Adieu, 1992.
Seit fünfzig Jahren sage ich zu dieser Zeit adieu, in der Hoffnung, dass das nächste Jahr besser wird. So tue ich das auch jetzt. Ich hoffe, dass es besser sein wird. Ich hoffe, ich hoffe, ich hoffe.
Als Mitternacht anbricht und ich den Trubel, den Rausch und die Freude irgendwo weit draußen in der Welt erahne, da kann ich meine Tränen nicht mehr halten.
Es ist still. Paul und Lora schlafen fest. Die Russen auch, weil die jetzt ja kein Neujahr feiern.
Und ich bin wohl die Einzige weit und breit, die, statt das Gleiche zu tun, ihr Kissen nass heult.

Ende Kapitel 2