6.
Kapitel
6.9.1993.
Die neue Wohnung ist eingerichtet.
Ich
finde, die alten Möbel tun ihre Pflicht. Es sieht hübsch aus. Der alte Teppichboden
ist etwas dunkel. Irgendwann werde ich ihn auswechseln. Wenn wir mehr Geld
verdienen.
Wir
haben viel zu tun gehabt. Aber endlich haben wir eine ordentliche Wohnung.
Das
kleinere Zimmer haben wir für Lora eingerichtet. Paul und ich schlafen im
Wohnzimmer.
Was
mich ein wenig stört- um in die Küche zu gelangen, muss man durchs Wohnzimmer
gehen. Und es hat nur indirektes Licht, das durch die Küche und den
Wintergarten fällt.
Man
kann nicht alles haben.
Was
ich wieder habe, ist eine neue Baba. Diese Frau Schreiber ist das Ebenbild der
Großmutter meines Mannes, die mir mein Leben versaut hat. Scheinbar ist es mein
Schicksal, bis ans Ende meines Daseins, eine Baba in meiner Nähe zu haben. Sie
ist fast jeden Tag hier, um zu gucken, wie wir vorankommen. Ich müsste sie
rausschmeißen. Will es aber um Gottes willen nicht gleich vom Anfang an auf die
Spitze treiben. Irgendwann werde ich sie schon los. Wenn sie nur nicht diesen
Ton hätte. Den Ton eines Kommandanten. Den Ton unserer Baba. Einen
rücksichtslosen, herrschsüchtigen Ton, der ins Fleisch schneidet und mich total
verspannt. Als wenn ich mich von Schlägen schützen müsste, fühlt es sich an.
Der
Kommandant hat leider auch einen Adjutanten. Die Frau Lindenberg. Nur der Ton
ihrer Stimme ist sanfter als der des Kommandanten. Die Neugierde und die
Klatschsucht sind die gleichen.
Mit
der neuen Situation werden wir auch irgendwie klarkommen.
9.9.1993.
Unnötiger Weg zum Sozialamt. Die haben erst morgen wieder geöffnet.
Dieser
Teil der Stadt gefällt mir viel besser. Die Häuser sind alle gepflegter als im
Osten. Heller und freundlicher. Es ist ein anderes Gefühl.
Durch
den Umzug sind wir in einer kritischen finanziellen Lage.
Heute
hatten wir unseren ersten Arbeitseinsatz. Die Treppen säubern.
Eine
große Kunst ist das nicht. Kaum der Rede wert. In guten zwei Stunden hat man
das geschafft. Ich bin sogar stolz auf mich, dass ich mich selbst überwunden
habe. Die Vorstellung, mit Eimer und Schrubber durch die Gegend zu ziehen, ist
gewöhnungsbedürftig. Ein Glück, dass mich meine Verwandten und Freunde nicht
sehen können.
Der
Blick aus dem Fenster ist auch etwas bizarr. So viele alte Menschen habe ich
auf einmal noch nie gesehen. In der Straße sind zwei Seniorenwohnhäuser. Um die
Ecke ein Altersheim. Wenn ich morgens aus dem Fenster gucke, habe ich den
Eindruck Hitchcock hätte hier was inszeniert.
In
Rumänien sah man wenige alte Leute auf den Straßen. Sie waren zu Hause, fegten
den Hof, brachten den Garten in Ordnung, kochten Essen für ihre Kinder und
passten auf die Enkel auf. In meinem speziellen Fall war das keine ideale
Lösung. Aber die meisten Menschen kamen mit dieser Situation sehr gut zurecht.
In der Großfamilie fühlte man sich geborgen. Unsere alten Leute waren nicht so
verbittert. Ganz im Gegenteil. Die meisten sprühten Frohsinn und Klugheit aus.
Und sie versuchten nicht, im Gesicht jünger auszusehen als am Hals und an den
Händen.
10.9.1993.
Die vier Stunden beim Sozialamt gehören zu den schlimmsten meines Lebens. Auch
hier gibt es verschlafene, unsichere Beamte. Einen davon habe ich erwischt.
Eine
Dame, mit der ich ins Gespräch komme, sagt mir, dass sie ihn schon seit
längerer Zeit kenne. Der sei so langsam, dass eine Schnecke im Vergleich zu ihm
eher ein Schnellzug sei. Jedenfalls bin ich am Ende meiner Kräfte angelangt,
als er sich endlich meiner erbarmt. Zumindest ist er freundlich.
Der
Straßenverkehr ist eine Sache für sich. Da hat es mir in Köpenick besser
gefallen. Schon mit dem Bus zu fahren, ist ein Abenteuer. Ich kenne mich da mit
diesen Knöpfen noch nicht gut aus. Die Fahrt mit der U-Bahn ist so etwas, wie
für andere eine Reise durch die Milchstraße. Komischerweise findet sich Lora
viel schneller zurecht als wir älteren. In den U-Bahnhof hinein, das geht noch.
Doch welcher Weg hinaus dahin führt, wohin man gehen soll, das ist ein Rätsel.
Und irgendwie erwische ich immer den falschen. Was Paul, der sich meinem
Orientierungssinn anpasst, immer aus der Fassung bringt. Ich hingegen meine,
dass es schön ist, sich zu verirren. So lernt man die Umgebung auch da kennen, wo
man sie für gewöhnlich nicht kennengelernt hätte.
11.09.1993.
Heute Vormittag haben wir den Hof gefegt. Um die Mülltonnen herum. Treppen, die
vom Hof nach unten, irgendwohin, führen auch. Eine Dame sagt ganz erstaunt,
dies sei seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen. Ich bin unsicher, ob wir nun
etwas Gutes oder Schlechtes gemacht haben. Vor allem musste ich mich mit den
Mülltonnen anfreunden. Ein substantieller Quantensprung in meinem Egozentrum.
Paul
fegt noch die Straße. Wieder große Verwunderung. Das macht gewöhnlich die
Stadtreinigung, wird uns gesagt.
Wir
sind beide müde, zufrieden, dass wir etwas geschafft haben. Zugleich aber bin
ich unsicher. So recht weiß ich nun doch nicht, wie weit unsere Aufgaben
reichen.
Mit
Ach und Krach haben wir Paul aus dem Haus gekriegt. Der Spaziergang durch den
Tiergarten ist wunderschön. Wir sind alle drei hell begeistert.
"Ob,
wie schön!"
Diesen
Satz höre ich zum ersten Mal aus Loras Mund. Wenn sie das schon so sagt, da
muss es wohl stimmen. Sie wiederholt den Satz immer wieder. Und dabei strahlt
ihr Gesichtchen vor Freude.
Seit
A. bin ich nun wieder überzeugt, dass wir endlich in Deutschland angekommen
sind. Dieses wunderschöne Stück Natur inmitten der Großstadt bringt uns ein
Stückchen auch unserem inneren Paradies näher.
17.9.1993.
Paul streicht Fenster und Türen. Besser gesagt, verschmiert dieselben. Er sieht
nicht gut. Sagen darf ich ihm nicht, wo er es verpatzt hat. Sonst gibt es wilde
Nasenlöcher. Werde versuchen, später Korrekturen vorzunehmen.
Gewaschen
und gebügelt habe ich. Auch die Gardinen. Hundemüde bin ich geworden.
Wahrscheinlich auch von dem viele Auf- und Absteigen der Leiter.
Aus
der Wanne habe ich mit sehr viel Mühe diese schrecklich hässlichen Flecken
beseitigt. Das Bad ist jetzt blitzblank. Welch ein schönes Gefühl!
Wenn
ich meine Gliederschmerzen ignoriere, kann ich sagen, ich bin glücklich.
18.9.1993.
Kuhl ist zu Besuch. Mit seiner Schwester, die in einer Villa in Tegel lebt,
über die er mir schon im Februar erzählt hat. Und mit seiner Mutter. Sie sind
von unserer Wohnung entzückt. Die alte Dame sagt zu ihrer Tochter,
"Schau
dir diese Küche an! Hier steht nix rum wie bei dir."
Ihre
Tochter sieht nicht besonders fröhlich drein. Kann ich auch verstehen. Aber
eine kleine Schadenfreude will ich mir dann doch nicht verkneifen.
Danach
fahren sie nach Köpenick und Lora mit ihnen. Nach Stunden kommt sie zurück. Mit
Blumen, die ich noch gepflanzt hatte und mit Birnen. Und sie sagt mit voller
Überzeugung:
"Da
möchte ich nie wieder zurück. Es stinkt so sehr!"
Wann
habe ich das letzte Mal Rilke gelesen? Wann habe ich das letzte Mal etwas für
Herz und Seele getan?
Ich
nehme mir vor, mal in die Kirche zu gehen. Wieder ein wenig unter Mensch zu
sein. Ich veröde sonst innerlich. Nur ging man in Rumänien sonntags feierlich
gekleidet zur Kirche. Und meine Kleidung ist alles, nur nicht feierlich.
Oder
ist das schon wieder ein Vorwand, um lieber zuhause zu bleiben?
5.10.1993.
Todmüde sind wir vom Spaziergang durch den Zoo zurückgekehrt. Das war einmalig
schön. Ein noch nie da gewesenes Erlebnis.
Ein
Tag, an dem wir nach langer Zeit wieder als Familie funktionieren. Paul ist
nicht mehr betrunken, nicht mehr nervös wie früher. Doch er bleibt immer der
Mann, der keine Vorstellungen vom Familienleben hat. Es gibt kein gemeinsames
Gespräch, kein sich gegenseitiges Unterstützen. Wir sind keine guten Freunde,
sondern zwei Zugtiere, die denselben Karren ziehen. Das oft in verschiedene
Richtungen. Es geht mal hin, mal her, nie so recht vorwärts. Eigentlich sind
wir beide alleine.
Interessant
wäre es zu wissen, wie er mich sieht. Welche Gefühle und Gedanken er hat, wenn
er mich ansieht, mit mir spricht oder an mich denkt. Was er an mir nicht gut
findet. Wie er sich wünscht, dass ich sei. Könnte er für sich selbst eine
Antwort auf Fragen finden, wenn er sie sich selbst stellen würde? Oder erlebt
er mich eher unbewusst. Und spürt nur, dass wir nicht füreinander geschaffen
sind, ohne es wichtig zu finden, zu klären warum und weshalb.
Ich
träume nicht mehr von der großen Liebe. Es würde mir schon genügen, einen guten
Kumpel neben mir zu haben. Einen Menschen, mit dem ich mich auf Anhieb
verstehe, ohne mich viel erklären zu müssen. Einen Menschen, der mir, wenn ich
mich schon zu erklären versuche, zuhört. Mir nicht das Gesagte im Mund umdreht
und es ganz anders auslegt, als es gemeint war. Somit Probleme schafft, die es
gar nicht gibt. Die erst entstehen, weil sie aus dem Nichts werden.
Und
die große Frage ist, warum hängen wir aneinander?
10.
November 1993. Bei der Sparkasse haben wir schon rote Zahlen. Für das Haus
bekomme ich gerade mal 150 DM. Pauls Eingliederungsgeld ist noch immer nicht
erschienen. Das Chaos mit dem Geld nimmt kein Ende. Am sechsundzwanzigsten
haben wir wieder einen Termin beim Sozialamt. Ich hoffe, dass unserer Situation
irgendwann mal geklärt wird.
Wir
haben uns hier ganz gut eingelebt. Wenn es die zwei, drei komischen Frauen
nicht gäbe, würde ich das Haus lieben. Warum kann man in diesem Leben nicht in
einer wenigstens ganz kurzen Zeitspanne nur Ruhe, nur Frieden, nur Eintracht
erleben? Der liebe Gott hat vergessen, uns einen Knopf einzubauen, auf den wir
drücken können, wenn wir dem Schicksal einen anderen Lauf geben möchten.
Es
ist schon komisch. Hier im Haus gibt es 50 Wohnungen. Alles netten, lieben
Menschen. Aber es muss immer wenigstens einer da sein, der dir das Leben zur
Hölle macht und der dann viel schwerer in die Waagschale fällt als alle anderen
zusammen.
20.10.1993. Heute hat meine kleine Anda ihren Geburtstag. Drei Jahre alt ist das kleine Plappermäulchen und ich bin so weit weg von ihr. Sie wird sich von mir entfremden und mir wie einer Fremden begegnen, die sie irgendwie mal gesehen hatte. Ich hätte ihr so gerne all meine Liebe geschenkt, die ich für sie in meinem Herzen trage, doch das wird sie kaum zu spüren bekommen. Das Leben ist hart. Zum Glück bin ich oft so sehr mit der Gegenwart beschäftigt, dass ich mich nicht jeden Tag mit solchen "Sentimentalitäten" abgeben kann.
11.11.1993.
Frau Ella Mayer hat mich zu sich eingeladen. Nach ihren Erzählungen hatte ich
mir einen größeren Luxus vorgestellt. Das Zimmer ist zwar nett und
geschmackvoll eingerichtet, aber das ist nichts Besonderes. Der einzige Luxus
scheint mir zwei riesengroße Schirmlampen neben der Couch zu sein.
Etwas
betroffen bin ich, als sie mir auf die Stelle auf der Couch, wohin ich mich
setzen soll, ein Handtuch ausbreitet. Damit die Couch nicht schmutzig wird,
erklärt sie mir. Mein Tag ist verdorben. Zugleich frage ich mich, bin ich so
empfindlich oder wäre diese Geste jedem unangenehmen aufgefallen?
So
weiß ich auch nicht recht, ob mich das Gespräch an sich dann missgestimmt und
ermüdet hat. Jedenfalls sage ich kaum etwas, sie aber redet ohne Punkt und
Komma. Ich bin froh als ich wieder nachhause gehen kann.
12.11.1993.
Lora geht mit einkaufen. Zwei Brote, eine Suppe, Spaghetti und ein Eis. Zu mehr
reicht es nicht.
Bei
der Sparkasse stellen wir fest, dass wir nur noch mit 13 DM in der Kreide sind.
Pauls Eingliederungsgeld ist gekommen. Darauf hin sind wir beide so übermütig,
dass wir den ganzen Weg über herumblödeln. Wir amüsieren uns über unseren
Vermögensstand. Ich hoffe, dass wir unseren Humor auch in Zukunft nicht
verlieren. Denn tief im Herzen sitzt bei mir noch immer die Angst, dass ich
mich aus diesem finanziellen Tief nicht mehr retten kann.
Wenn
wir so durch die Straßen schlendern, hat die Welt nichts Bedrohliches, nichts
Unschönes. Ich kann meine Sorgen fast vergessen. In diesem Moment habe ich mich
selbst, nur das was ich anhabe, nur das was in der Tüte ist und meine Enkelin
an der Hand. In diesem Moment brauche ich nicht mehr. Und wünsche mir nicht
mehr. Ich genieße einfach diesen Augenblick.
Der
Zauber verfliegt, als wir an der Eingangstür stehen. Der Summer geht los, grade
als wir ankommen. Frau Lindenberg steht immer am Fenster, in der ersten Etage.
Wenn sie nicht grade auf den Fluren herumschnüffelt. Sie beobachtet alles, was
kommt und geht. Bei besonders sympathischen Menschen, bilde ich mir ein, drückt
sie den Türöffner, damit man den Schlüssel nicht mehr suchen muss. Wenn man
sich nicht so ausspioniert fühlen würde, könnte man sie glatt umarmen vor
Dankbarkeit. Wer sucht schon gerne einen Schlüssel in der Handtasche?
13.11.1993.
Es regnet. Das Prasseln der Tropfen am Fensterbrett erwecken Erinnerungen aus
der Kindheit. Regentage waren für mich Anregungen zum Träumen, zum Schreiben,
zum Alleinsein mit schönen Gedanken. An solchen Tagen brauchte ich nichts
anderes als ein gutes Buch oder Papier und Schreibzeug. Ich hätte auch
stundenlang im Regen herumlaufen können. Es war, als hätte sich eine Glasglocke
über mich gestülpt. Die mich schützte und unter der ich auf mich selbst
zukommen konnte.
Seitdem
ist so viel Zeit verflossen.
Berlin.
Ist das eine Zwischenstation oder das Endziel?
15.11.1993.
Ella Mayer hat uns gebeten, mit ihr bis zum nahen Möbelgeschäft zu gehen. Sie
wählt zwei Metalltischchen mit Glasplatte aus. Dazu zwei Tischlampen.
Zuhause
stellen wir fest, dass sie die für uns gekauft hat. Das Ganze hat 200 DM
gekostet. Ich fühle mich überrumpelt. Fühle mich gar nicht wohl in meiner Haut.
Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Geschenk so aus der Bahn wirft. Diese
Sachen nehmen auch viel zu viel Platz ein. Ich bitte sie, in Zukunft solche
Gesten zu lassen. Möglicherweise hält sie mich für undankbar. Eigentlich weiß
ich selbst nicht, ob meine Empfindlichkeit nicht doch übertrieben ist. Doch ich
traue Ella nicht so sehr. Ich denke eher, sie will sich an unserem Mittagstisch
einen Stammplatz sichern.
18.11.1993.
Heute begleite ich Frau Schreiber zu ihrem Hausarzt Dr. Bernhard. Die Praxis
ist warm und familiär. Das Wartezimmer mit Holz ausgetäfelt. Am Boden
"Bauernteppiche", wie einst meine Oma sie auch gestrickt hatte. Der
Arzt und seine Frau, beide jung, bildschön, bescheiden, er besonders markant.
Die Freundlichkeit dieser Menschen hätte bei mir für einen ganzen Tag gute
Laune hervorzaubern können.
Aber
nicht mit Frau Schreiber im Schlepptau. Sie hat ein fürchterliches Mundwerk.
Die schrecklichste aller Klatschbasen, die je meinen Weg gekreuzt hatten. Sie
quatscht alle Leute an. Fängt ein Verhör an, quält alles mit ihrer
Kommandostimme was nach Mensch aussieht. Von ihrer ungehobelten Art fliehen
selbst die Verkäufer im Supermarkt. Für mich ist das eine Art Weg nach Canossa.
Trotzdem.
Frau Schreiber hat meinen Mann schon ungezählte Male um Hilfe gebeten. Sie hat
stets etwas zu reparieren. Oder einfach nur Lust zum Quatschen. Dann steckt sie
meinem Mann auch immer ein Taschengeld zu. Ein kleiner Betrag, der bei uns oft
Großes bewirkt. Und sie lobt uns in den höchsten Tönen bei der Hausverwaltung.
Also müssen wir uns in Geduld und Gleichmut üben. Scheinbar gelange ich ins
Paradies nur auf dem Weg durch die Hölle.
19.11.1993.
Es schneit.
Ein
kalter Tag in jeder Beziehung.
So
viele Leute machen uns Komplimente, wenn wir uns im Haus nützlich machen.
Manche meinen, wir putzen zu häufig. Das sei doch nicht nötig. Aber es muss
immer jemanden geben, der einem die Suppe versalzt.
Frau
Zion hat mich angeschnauzt, dass ich ihren Flur nicht penibel genug geputzt
hätte. Ich würde mit einem Eimer Wasser durchs ganze Haus gehen und alles
verschmieren und nicht ordentlich wischen.
Ich
bin verletzt. Zumal ich weiß, dass ich nach jeder Etage aus meiner Wohnung das
warme Wasser hole. Aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, mit größter
Sorgfalt meine Arbeit mache.
Ich
kann mir stundenlanges Weinen nicht verkneifen. Wenn die Frau Recht gehabt
hätte, wäre ich nicht so traurig. Dann hätte ich versucht, mich zu bessern.
Aber ungerecht verurteilt zu werde, das tut weh.
Dazu
hat Lora heute Geburtstag. Ich habe ihr ihre 10. Geburtstagstorte gebacken.
Familie
Bondar, unsre liebsten Nachbarn, ein altes Ehepaar, kommt mit einem Geschenk
vorbei. Ich hatte eines Tages das Fenster weit offen und hörte wie zwei
Personen miteinander ungarisch sprachen. Wie elektrisiert ging ich zum Fenster
und sprach beide an. Seitdem sind wir mit ihnen befreundet. Sie ist eine
liebenswerte, mütterliche Figur und er ein Witzbold, den man einfach lieben
muss.
Ella
hat sich natürlich auch wieder selbst eingeladen und sitzt auf der Couch in
der, uns schon gewohnten Manie von "die Couch gehört heute nur mir".
Frau Schreiber warnte mich vor Ella. Das sei eine ganz Hinterhältige. Die
schleimt sich überall ein. Hingegen warnte Ella mich vor Frau Schreiber. Der
könnte man nicht über den Weg trauen. Trotzdem hängen beide wie Kletten an uns.
Kein Schlupfloch da, um denen zu entkommen…
Der
Tag sollte ein schöner Tag sein. Aber ich lege mich abends todmüde und
innerlich zerrissen ins Bett.
22.11.1993.
Mit Lora bis zur Bülowstraße spaziert. Es ist sehr kalt. Zurück, flüchten wir
uns zu einem Kurzbesuch zu den Bondars.
Dann
schicke ich für Paul eine Bewerbung per Post ab und führe noch ein Telefonat
mit einem Krankenheim, wegen einer Stelle für ihn. Vielleicht melden die sich
zurück. Zumal ich Paul, denke ich, gut verkauft habe.
"Er
ist der fleißigste und zuverlässigste Mensch, den Sie überhaupt finden
können", sage ich. Und das ist kein Deut gelogen.
24.11.1993.
Bin ich glücklich und zufrieden?
Nein.
Gar nicht.
Es
sind diese unberechenbaren Menschen, die um mich sind. Es ist ein Gefühl, als
hätte jemand eine Mine vergraben. Ich weiß das, aber nicht, wo sie vergraben
wurde. Und zwangsläufig muss ich eines Tages auch auf sie treten. Denn soviel
Raum habe ich auch nicht zum Ausweichen.
Ein
wenig Ausgleich habe ich durch Pauls Verhalten. Er ist ruhiger und sogar
humorvoller geworden. Wir sitzen sogar zusammen und plaudern über Dinge, die
wir nie angesprochen hatten. Im Keller hat er sich eine Bastelecke ausgebaut.
Hier sitz er stundenlang. Hat immer etwas zu reparieren. Das scheint ihn so
ausgeglichen zu machen.
06.12.1993.
Ein Priester sagt im Fernsehen: "Es gibt Menschen, die in jeder
Möglichkeit eine Katastrophe sehen und es gibt solche, die in jeder Katastrophe
ein Möglichkeit sehen."
Solche
Theorien würde ich auch verbreiten, wenn ich ein sicheres Einkommen hätte.
Nicht zum Sozialamt betteln gehen müsste und nicht ein so schlechtes Gewissen
hätte, weil ich mich gar nicht im Recht fühle, von diesem Staat etwas
anzunehmen, das mir eigentlich gar nicht zusteht.
08.12.1993.
Nachdem wir uns in den vergangenen Tagen in diesem Krankenheim selbst
präsentieren mussten- ich eher als Dolmetscherin meines eigenen Mannes- hat
Paul eine Zusage bekommen. Allerdings wird er erstmals nur vier Stunden täglich
arbeiten.
Bin
etwas enttäuscht. Aber ich weiß, dass er sich eines Tages durchsetzen wird.
Denn seinen Arbeitseifer wird man in keinem anderen so leicht wieder finden. Er
wird es schaffen.
10.12.1993.
Eine Welt bricht in mir zusammen.
Ein
Schreiben vom Bundesverwaltungsamt in Köln weist darauf hin, dass wir für Lora
irgendwelche Kosten zurückzahlen müssen. Weil sie nicht als Aussiedlerin in
Betracht käme. Was soll der Unsinn?
Habe
bei einem Ausländerbeauftragten um einen Termin gebeten. Ich weiß gar nicht,
wie ich dieses Schreiben verstehen soll. Und wie soll ich irgendein Geld
zurückzahlen können?
Dabei
hat Lora ihre Papiere als Aussiedlerin erhalten. Damals war sie eine, heute
nicht mehr? Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Weder
Lora, noch Paul sage ich etwas. Sie sehen, dass ich traurig bin. Ich aber
täusche Kopfschmerzen vor. Dabei tut mehr in mir weh als nur der Kopf.
11.12.1993.
Mein Kopf ist so schwer, dass ich ihn auf meiner Schulter wie eine Bowlingkugel
empfinde. Paul schleicht um mich herum und weiß nicht, was er sagen soll.
Ich
will ihm von meinem Problem nichts sagen. Er zieht mich dann noch mehr runter.
Ich suche verkrampft nach einer Lösung, er aber würde nur jammern und
schimpfen. Das fehlt mir am wenigsten.
Ich
spreche mit Frau Bondar, um mich wenigstens ein wenig zu erleichtern. Sie
meint, ich soll das Bezirksamt aufsuchen und da um Hilfe bitten.
Ich
habe für einige Momente den Drang zum nahen U- Bahnhof zu gehen und mich unter
den ersten Zug zu werfen. Ich kann diesen seelischen Druck kaum noch ertragen.
13.12.1993.
War beim Ausländerbeauftragten. Der wunderte sich, dass bei all den gültigen
Papieren so eine Forderung formuliert wurde. Aber er sei eben nicht für
Aussiedler zuständig.
Im
Bezirksamt werde ich hin und her geschickt. Es wird mit Köln telefoniert. Nach
einer Stunde kann ich nach Hause gehen mit einer vagen Aussage, dass
wahrscheinlich ein Missverständnis vorliegt.
Beruhigt
bin ich nicht ganz. Ich werde noch lange eine Unsicherheit in Bezug auf Lora
haben. In Bezug auf unser ganzes Leben hier.
14.12.1993.
Paul hat sich im Krankenheim etwas eingelebt. Erstmals ist er eh nur
Laufbursche. Er hätte lieber etwas mit Technik zu tun gehabt.
Sein
Arbeitsvertrag ist bis zum 08.06.94 befristet. Also sechs Monate. Mal sehen,
was das mit sich bringt.
Habe
heute wegen meiner ständigen Rückenschmerzen Krankengymnastik gehabt. Doch die
Dame, die sich mit mir die Zeit vertrieben hat, hat mir zu verstehen geben,
dass ich eine Zuzahlung zu leisten hätte. Das war's dann. Kann ich mir nicht
leisten. Die Rückenschmerzen müssen sehen, wie sie selbst zurechtkommen.
15.12.1993.
War bei Lora in der Schule, um zu sehen, wie sie sich macht.
"Solche
Kinder müsste es mehr geben", sagt mir die Lehrerin. Sie sei fleißig und
aufmerksam und hätte ein einwandfreies Benehmen.
Hatte
auch nichts anderes erwartet.
16.12.1993.
Die May ist gekommen und ich würde am liebsten ausschlagen.
Sagt
mir um zehn Uhr morgens:" Du, ich komme heut zu einem Kaffee vorbei. Ich
bringe auch den Kuchen mit."
Am
liebsten hätte ich nein gesagt, aber das tut man ja nicht. Erwarte, dass sie
nachmittags kommt.
Also
kommt sie. Aber schon eine Stunde später nach dem Gespräch. Mit einem Marmorkuchen aus dem
Supermarkt. Und sitzt, und sitzt, und sitzt. Ich traue mich nicht an den Herd.
Macht man ja nicht während eines Besuches.
Paul
kommt von der Arbeit. Lora aus der Schule. Sie müssen heute etwas aus dem
Kühlschrank essen.
Und
Ella sitzt.
Ja,
wenn sie nur sitzen würde. Aber sie plappert ununterbrochen.
Ich
sitze auch. Halb ohnmächtig auf dem Stuhl. Jeden Augenblick fürchte ich, dass
ich umkippen könnte. Eigentlich, die einzige Möglichkeit, ihr zu entkommen,
wenn mich der Rettungsdienst vom Boden kratzen muss.
Lora
schläft. Paul hängt in einem Sessel.
Als
Ella um 11Uhr abends endlich nach Hause geht, bin ich unterzuckert, erschöpft
und habe erstmals einen mörderischen Mut. Die bekommt kein Bein mehr über meine
Schwelle.
17.12.1993.Der
Geburtstag meines jüngsten Sohnes ist morgen. Er fehlt mir.
Sein
Geburtstag wird mir immer nur in Verbindung mit der Revolution in Rumänien im
Gedächtnis bleiben.
Es
war der 17. Dezember 1989. Ein Sonntag.
Mein
Sohn wohnte damals bei seiner Schwiegermutter, am anderen Ende des Ortes- ein
Vorort von Timisoara. Mit meinem Mann, meinem älteren Sohn, der
Schwiegertochter, der Schwiegermutter und Lora machten wir uns auf den Weg zu
ihm.
Wir
begegneten einem Bekannten, der aus der Stadt kam. Er erzählte uns von den
Unruhen, die dort seit Tagen herrschen.
Da
ich den ganzen Tag Radio Budapest hörte, wusste ich Bescheid, dass sich in der
Stadt etwas tut.
Kaum
hatten wir uns zu Tisch begeben, hörten wir einen Hubschrauber über uns
kreisen. Dann hörten wir das Knattern von Maschinengewehren. Wir erstarrten
alle. Es wird auf Menschen geschossen.
Wir
sprangen auf und liefen auf die Straße hinaus. Das ganze Dorf war auf den
Beinen. Ich musste hemmungslos schluchzen. Und sagte: "Diesem Halunken von
Ceausescu haben wir jahrelang Hunger, Kälte, Finsternis abgenommen. Aber diese
Toten dürfen wir ihm nie verzeihen."
Die
Kinder trösteten mich, dieses Geratter sei nur blindes Geschoss. Doch ich
konnte das nicht glauben.
Wir
konnten nicht essen, nicht trinken. Es hielt mich nichts mehr hier. Es zog mich
nachhause. Ich schaltete das Radio an. Unsinn! Wir waren doch total von der
Welt isoliert. Wer sollte schon von uns so schnell wissen?
Das
Geknatter der Gewehre war die ganze Nacht zu hören. Morgens um vier ging ein
schreckliches Gewitter nieder. Mit Donner und Blitz, als wäre es nicht der 18.
Dezember sondern der 18. Juli gewesen. Ich wälzte mich schlaflos im Bett.
Lieber Gott, warum hast du uns das angetan? Die Kugeln hätten die Menschen
nicht erschreckt. Aber diesem Gewitter konnte keiner widerstehen. Morgen sind
die Straßen vom Gewitter von Blut sauber gewaschen. Die Opfer werden
verschwunden sein und vergessen werden. Auch wenn manche meinen, da sei nur
blindes Geschoss verwendet worden, das kann nicht sein. Man schießt nicht
grund- und ziellos eine Nacht hindurch durch die Gegend!
Ich
war enttäuscht, verzweifelt.
Am
nächsten Tag war die Stadt voller Tanks, Autos, Militär. Die Scheiben der Geschäfte,
vor allem im Zentrum, waren alle eingeschlagen. Es sah alles fürchterlich aus.
Aber von Toten keine Spur.
Zu
Hause angekommen, zündete ich, auf die Aufforderung von Radio Budapest hin,
zwei Kerzen an und stellte sie ins Fenster. Als Zeichen der Solidarität mit den
Leuten, die ihre ersten Schritte gegen das Regime unternommen hatten.
Heute
weiß ich, dass mich diese Geste Kopf und Kragen gekostet hätten, wenn die
Ereignisse das System nicht so unter Strom gesetzt hätten.
Am
Montag ist dann nichts Besonderes geschehen.
Am
Dienstag war ich mit meinem Ältesten, der Nachmittagsschicht hatte, im Garten.
Plötzlich hörten wir ein bedrohliches Surren hinter dem Wald, der uns von der
Stadt trennte. Wo auch die Fabrik lag, wo meine Kinder und mein Mann arbeiteten.
Wir erstarrten vor Angst. Mein Mann, meine Schwiegertochter waren dort.
Plötzlich
kamen tausende Stimmen durch die Luft geschwirrt. "Nieder mit
Ceausescu…!"
Mein
Sohn rannte wortlos davon. Ich wäre ihm so gerne gefolgt. Da war aber Lora und
meine kränkliche Schwiegermutter. Ich konnte nicht.
Die
Straße war voller Menschen. Keiner konnte mehr seiner Arbeit nachgehen.
Es
vergingen qualvolle Stunden des Wartens. Heimkommende wurden auf der Straße bei
jedem Schritt ausgefragt. Man wollte begreifen, was geschieht.
Generalstreik!
Die halbe Stadt hat sich am Opernplatz versammelt um gegen das Regime zu
demonstrieren.
Ich
hätte jauchzen können. Mein Herz war voller Freude, aber tief in mir machte
sich auch eine schreckliche Angst breit. Meine Kinder, mein Mann sind da
draußen. Was wird noch passieren?
Nachmittags
kam ein Chef meines ältesten Sohnes vorbei. Ich soll meinen Sohn suchen gehen,
denn die, die ihre Arbeit niedergelegt haben, werden mit Konsequenzen zu
rechnen haben. Ich schluchzte los. Sagte ihm aber, wenn jede Mutter ihr Kind
suchen geht, dann wird sich in diesem Land nie was ändern. Wenn tausende
Menschen da draußen ihre Rechte fordern, würde ich die Meinen verachten, wenn
sie sich drücken würden.
Mutige
Worte, die den Mann verjagten. Aber mein Inneres war zerfetzt von Stolz und vor allem von unermesslicher Angst.
18
Uhr. Endlich kam Dominique die Straße herauf. "Nieder mit Ceausescu!"
rief sie schon von weiten. Ich rief ihr zu "nieder mit Ceausescu!"
Plötzlich
war die Straße wie leergefegt. Kein Mensch war mehr zu sehen. Diese Feigheit
der Leute enttäuschte mich sehr.
Dominique
legte sich für zwei Stunden hin. Dann kam auch Robert. Nachdem er gegessen
hatte, gingen sie wieder los. Mein Jüngster, seine Frau und meine Mann kamen
gar nicht nach Hause.
Ich
saß wie auf heißen Kohlen. Fand keine Ruhe, konnte kaum paar Minuten
stillsitzen.
Drei
Tage und drei Nächte hielt die friedliche Wache am Opernplatz an. Mit dem
Militär zusammen. Zwei Nächte lang habe ich am Opernplatz mit gebrannt. Sonst
hätte ich das Erhabenste meines Lebens versäumt.
Es
gab in diesen Tagen keine Kraft in dieser Stadt, die größer war als der Wunsch
nach Freiheit, der Wille, besser und menschlicher zu leben.
Wir
waren alle heiser von Parolen schreien und gemeinsamen Beten.
Doch
am 22.ten, als Ceausescu fliehen musste, ging die Hölle wieder los.
Seine
Flucht, das war so um 12Uhr mittags. Ein Freudenschrei ging durch die Stadt.
Autohupen, Fahnen, Jubel. Fremde Menschen fielen sich in die Arme. Als ich von
der Demonstration nach Hause ging, begrüßte mich auf dem Weg jeder
Entgegenkommende mit dem Siegeszeichen und strahlendem Gesicht. Ob Kind, Greis,
Mann oder Frau.
Nachts
waren nur noch wenige Menschen auf den Straßen. Der Tyrann war ja weg. Aber
sein System kämpfte ums Überleben. Das Morden ging wieder los.
Wir
saßen grade beim Fernsehen, als die Gewehre wieder zu sprechen begannen. Und
wir wussten, wenn uns Bukarest jetzt nicht hilft, wenn die Menschen dort nicht
auch selbst etwas unternehmen, dann sind wir verloren.
Doch
sie hatten etwas unternommen. Und ihre Sache gut gemacht.
Nur
kann man ein System nicht von heut auf morgen ummodeln. Zwar hatten wir uns
riesig gefreut, als man Ceausescu umgebracht hatte. Doch jetzt weiß ich, dass
ein einziger Mensch keine Geschichte beeinflussen kann. Wenn er keine
Handlanger hat, kann er nichts ausrichten. Und oft sind die noch gefährlicher als der Initiator.
Und
so versank die schöne Idee von Freiheit und menschenwürdiges Dasein wieder in
Chaos und Hoffnungslosigkeit. Frei sein und vernünftig leben lernt man nach fast 50 Jahren in Dunkelheit und Ignoranz kaum von jetzt auf gleich. Das muss erst alles Schritt für Schritt neu erkämpft werden.
20.12.1993.
Nun sind wir etwa vier Monate hier im Haus. Die Arbeit strengt mich nicht an.
Aber
dieser Alleingang ist nicht förderlich für mein Seelenheil. Mir fehlt ein wenig
Gemeinschaft. Hier im Haus versuche ich, keinen Bewohner mehr zu nah an mich
ran zu lassen. Die Netten haben Anschluss an Verwandte, Bekannte. Die sind
nicht auf meine Freundschaft erpicht.
Meine
Freundschaft suchen jene, die herausbekommen haben, dass sie mich regelrecht
manipulieren können und die auch sonst keinen Anschluss zu anderen Menschen
haben. Weil sie unerträglich sind. Das will ich mir nicht mehr antun. Wenn
jemand unbedingt Hilfe braucht, kann er sie gerne bekommen. Aber sonst gibt's
keine Annäherungen mehr.
Damit
ich unter Menschen komme, suche ich in allen Zeitungen nach einer zusätzlichen
Stelle.
21.12.1993.
Um 10:30 Uhr ungefähr kommt der Postbote. Danach scheint für mich der Tag zu
Ende zu sein. Solange ich zu tun habe, ist alles in Ordnung. Wenn ich keine
Arbeit mehr finde, fühle ich mich plötzlich verloren. Vielleicht deshalb weil
die Arbeit, die ich ausführe, mich überhaupt nicht ausfüllt. Mir keine
Genugtuung bringt.
Von
den Mietern haben wir fast 200 DM bekommen- Weihnachtsgeld. Höre erstmal im
leben von Weihnachtsgeld. Das Geld kommt gut. Trotzdem wird es nicht reichen,
Lora ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Vielleicht doch etwas ganz Kleines. Für
eine Tanne und dergleichen reicht es aber nicht.
Ein
bedrückendes Gefühl. Ohne Geld und Mittel zu sein. Nichts Ordentliches zum
anziehen zu haben.
Solange
wir auf das Sozialamt angewiesen sind, wird das auch nichts. Ein ordentlicher
Achtstundentag müsste her, für mich oder für Paul.
23.12.1993.
Heute habe ich erstmals alleine geputzt. Sieben Etagen fegen und nass wischen,
bin schon ordentlich ins Schwitzen geraten. Vielleicht reorganisiere ich nächstens
die Arbeit und versuche sie auf zwei Tage aufzuteilen.
Erstes
Weihnachten ohne selbst gebackenes Gebäck. Aus Bayern haben wir eine Dose
Plätzchen geschickt bekommen. Das muss reichen.
Paul
hat in seinem Keller eine sehr schöne Krippe gebastelt. Aus allerlei
Materialien, die er gefunden hat. Die Figuren hat er von einer Mieterin
bekommen. Die Krippe haben wir neben dem Fahrstuhl aufgestellt. Vor allem die
Verwandten der alten Leute, die in das Haus kommen, fotografieren sie gerne.
Unsere Bewohner sind auch hell begeistert. Im Keller fanden wir eine
Plastiktanne. Mit Glühbirnen und Lametta geschmückt, sieht sie sogar prächtig
aus. Zumindest im Eingangsbereich des Hauses sieht es festlich aus.
24.12.1993.
Die Kinder aus Italien haben uns angerufen. Ich gehe den ganzen Tag mit
verweinten Augen herum. Irgendwie müsste ich mir für Lora etwas Besonderes
ausdenken. Irgendwie eine weihnachtliche Stimmung zaubern. Ich kann es einfach
nicht.
25.12.1993.
Heute sind wir bei den Bondars eingeladen. Herr Bondar ist eine witzige
Stimmungskanone. Wir fühlen uns pudelwohl. Zumindest ist das etwas
weihnachtlicher als Heiligabend.
26.12.1993.
Paul arbeitet. Ich bin mit großen Rückenschmerzen
aufgewacht.
Beim
Sozialamt. Mein Herr Kreiling ist so heiter und ausgelassen wie noch nie. Er
wünscht mir einen guten Rutsch. Sagt man hier wahrscheinlich so. Rutschen werde
ich irgendwie. Nur die Landung will ich mir nicht vorstellen.
Auf
dem Nachhauseweg verliere ich meinen Personalausweis. Wahrscheinlich im Bus.
Als ich das bemerke, bekomme ich riesige Kopfschmerzen. Bin wieder mal sehr
verunsichert und ängstlich. Wo muss sich das melden? Bekomme ich einen andern?
Muss ich irgendeine Strafe bezahlen wie in Rumänien?
Das
Geld, das ich vom Sozialamt bekommen habe, zahle ich auf unser Konto ein. Es
geht für Miete, Strom und Telefon.
28.12.1993.
Habe so gehofft, dass mir jemand meinen Personalausweis zusenden wird. Ist
leider nicht der Fall. Morgen muss ich zur Meldestelle.
29.12.1993.
Um 13:00 Uhr war ich beim Einwohnermeldeamt in der Perleberger Straße. Trotz
meiner Befürchtung, musste ich keine Strafe bezahlen. Habe einen vorläufigen
Ausweis bekommen. In vier Wochen bekomme ich einen neuen. Hat mich bloß 20 DM
gekostet, die ich aus allen Taschen zusammengekratzt habe.
Musste
zwischendurch nachhause kommen, um meinen rumänischen Pass vorzeigen zu können.
Lora hat mich zurück begleitet. Am Nachhauseweg haben wir uns mal wieder
verirrt. Ein Grund, um wieder ausgelassen über uns selbst zu lachen.
Und
wieder mal haben wir, nolens-volens, ein Stück unbekanntes Berlin entdeckt.
31.12.1993.
Wir feiern Silvester bei Bondars. Es ist ein netter Abend. Wir sind nicht
allein.
Wir
bestaunen das Feuerwerk. Es soll etwas ärmlicher ausgefallen sein als in den
vergangenen Jahren. Wohl, weil es regnet. Für uns ist es trotzdem ein Erlebnis.
Die
Straßen sind voller Qualm und Fetzen. Ein ungewöhnlicher Anblick.
Um
1:30 Uhr sind wir wieder zuhause. Es ist warm und sauber. Ich schlafe, trotz
Geknalle und Trubel zufrieden ein.