Selbstgespräche mit Samantha- Kapitel 7


Kapitel 7

8.1.1994. Ich vergesse mein Tagebuch immer öfter. Hab etwas mehr zu tun als früher. Zeit hätte ich aber trotzdem, zu schreiben, mir fehlt nur die Muse dazu. Und öfter frage ich mich, wozu es gut sein soll.
Unerträgliche Kopfschmerzen heute.
Abends sind sie noch immer nicht weg. Das kenne ich.
Als sie trotz Medikamente nicht weggehen, entschließe ich mich, ins Krankenhaus um die Ecke zu gehen.
Ich muss meinen Schwindel und meine Angst überwinden, um über die Straße zu kommen. Es ist 1Uhr nachts.
In der Notaufnahme erklärt mir eine Ärztin mit steinernem Gesicht, dass Kopfschmerzen kein Grund sind, in die Notaufnahme zu kommen. Dazu gäbe es den Notarzt. Wenn sie aus Erfahrung wüsste, was Kopfschmerzen außer Kopfschmerzen sein können, würde sie nicht kommentieren.
Ein Zittern im ganzen Körper macht mir zu schaffen. Als die Ärztin sich entschließt, mir eine Spritze zu geben, kann ich kaum auf diese Liege steigen.
Sie piekt mir zweimal in den Nacken.
Ich lege mich zurück. Die Ärztin verschwindet.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier veröde. Die Zeit vergeht unerträglich langsam. Die Schmerzen quälen mich nach wie vor. Es ist kein Deut besser.
Als ich fürchte, den Höhepunkt des Wahnsinns erreicht zu haben, kommt die Ärztin wieder.
"Wie geht es Ihnen?"
Ich sage ihr, dass die Schmerzen noch intensiver geworden sind. Kann meine Augen kaum noch offen halten. Das Hämmern in meinem Hinterkopf beherrscht meinen ganzen Körper. Ich habe den Eindruck, dass mir das Herz zerreißt.
Bekomme eine Spritze in den Hinter. Die Ärztin geht wieder.
Der Schmerz tobt noch einige Zeit. Dann ebbt er langsam ab.
Irgendwann wird es mir zu viel. Der Schmerz ist weg. Kein Mensch um mich herum. Ich entschließe mich, zu gehen. Mein Mantel hängt auf der Stuhllehne. In der linken Tasche ist meine Uhr. Es ist 3Uhr morgens. Ich ziehe mich an und gehe. Schon als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, ärgert mich, dass ich meine Versicherungskarte auf dem Tisch habe liegen lassen.
Eine frische Morgenluft schlägt mir entgegen. Ich bin etwas unsicher auf den Beinen. Doch in diesem Moment habe ich den Wunsch, dass diese Straße nie enden sollte. So, wie sie vor mir liegt, menschenleer, hell erleuchtet und morgenfrisch, so könnte ich sie jetzt bis ins Unendliche durchschreiten. Ziellos und anspruchslos. Mit diesem Gefühl von Unbeschwertheit und Freiheit.

9.1.1994. Habe heute Morgen von sieben bis acht geschlafen. Jetzt fühle ich mich wie gerädert. Am liebsten würde ich ins Bett zurücksinken. Doch ich weiß, das bringt nichts. Es könnte noch schlimmer werden.
Frau Wiener meldet sich. Sie schlägt mir vor, ab dem nächsten Monat auch das Nachbarhaus zu putzen. Zwar bin ich in diesem Moment noch sehr lädiert, doch ich stimme zu.
Es ist mehr, um ihr einen Gefallen zu tun. Denn wenn es nach mir ginge, müsste ich mir eingestehen, dass ich mich vor den Konsequenzen fürchte.

12.1.1994. Meine Kopfschmerzen sind sehr hartnäckig. Nicht mehr so arg wie  Samstag und Sonntag. Doch sind sie ständig präsent. Und irgendwie bin ich von einer undefinierbaren Traurigkeit erfüllt. Ich fühle mich total kraftlos und verspannt.
Paul bringt seine erste Verdienstbescheinigung nachhause. Das zaubert mir dann doch ein Lächeln aufs Gesicht. Wie schön wäre es, endlich mal etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben.
Jetzt müsste sich noch der Himmel etwas aufhellen. Ich bräuchte Licht, mehr Licht! Sagte auch der alte Goethe. Er brauchte das Licht zum Sterben. Ich bräuchte es zum Leben.

15.1.1994. Ich gebe mir wirklich soviel Mühe, von diesen Kopfschmerzen loszukommen. Ich mache Gymnastik, halte mich vom Fernseher weg, esse kaum etwas.
Ich habe den Eindruck, dass ich trotzdem immer mehr zunehme.
Was mich mit Erstaunen erfüllt, ist, dass wir hier eine Menge Getränke zu Weihnachten geschenkt bekommen haben. Doch Paul rührt keins davon an. Und seit er seine Arbeit hat, kann man mit ihm wieder normal sprechen. Er ist gut gelaunt und wenn ich nicht meine Wehwehchen hätte, könnte ich zufrieden sein.

17.1.1994. Wenn Paul morgens um sechs aus dem Haus geht, beginne ich Ordnung zu machen. Danach wird Lora für die Schule vorbereitet. Bereite alles für das Mittagessen vor, gehe einkaufen, beantworte Briefe. Zu Mittag wird gekocht. An den Putztagen wird nicht eingekauft.
Dieses Programm versuche ich einzuhalten. Damit ich einen bestimmten Lebensrhythmus bekommen.
Die Sonne zeigt sich endlich. Es tut gut, von Licht umflutet zu sein.
Nur scheint der Schmerz aus dem Kopf jetzt in den Rücken gewandert zu sein. Fühle mich unheimlich verspannt.

18.1.1994. Mein heutiger Putztag ist nicht so reibungslos verlaufen wie sonst. Alle Knochen schmerzen mir. Hitzewallungen ohne Ende. Ich kann von Glück sagen, dass ich Hauswart bin. So kann ich mich immer für fünf Minuten hinlegen und mich erholen.
Frau Wiener kommt mit einer neuen Nachricht vorbei. Wir könnten noch vier Häuser übernehmen. In der unmittelbaren Nachbarschaft.
Dieser Vorschlag erfreut mich. Zeigt es doch, dass unsere Arbeit geschätzt wird. Zugleich erschrecke ich über meinen eigenen Mut, als ich den Vorschlag annehme.
Nie wieder Sozialamt, Arbeitsamt!

19.1.1994. Eine schlaflose Nacht hinter mir. Die gestrige Anstrengung war halt zu groß. Ich bin so ziemlich KO. Jeder Millimeter an meinem Körper schmerzt. In meinem Gehirn sitzt eine Schläfrigkeit, ein scheußliches Gefühl.
Trotzdem musste ich heute zwei weitere Häuser sauber machen und bin fast von einer Wendeltreppe gestürzt. Der Schreck sitzt mir noch immer in den Gliedern.
Mir wird schlecht. Ella hat mir vorgeschlagen, sie kauft das Material dazu, ich soll die Buletten machen. Hätte nein sagen müssen. Habe trotzdem ja gesagt. Nur im Laufe des Essens zeige ich deutlich, dass sie mich stört. Ich bin recht einsilbig und bemühe mich recht unhöflich zu sein. Der Mut fehlt mir, ihr klar zu sagen, dass ihre Gesellschaft mir zuwider ist.

22.1.1994. Heute putzen wir eins der neuen Häuser. Ist das ein Dreck! Ich habe sogar zwischen den Zähnen Staub. Und habe den Eindruck, hier wurde seit einem Jahrhundert nicht mehr geputzt. Im Eingangsbereich ist ein herrliches Fliesenmosaik ausgelegt. Das ist so von Schmutz bedeckt, dass wir eine geschlagene Stunde bloß hier herumschrubben. Der Erfolg lässt uns zufrieden aufatmen.
Es sind fünf Etagen im Haus. Kein Aufzug. Die Eimer voll Wasser rauf runter zu schleppen, ist schon ein Kraftakt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ab jetzt Paul dieses Haus alleine sauber macht. Ich werde nur hin und wieder nach dem Rechten sehen.
Hundemüde bin ich nach diesem Ausflug. Aber unheimlich stolz und zufrieden.

23.1.1994. Heute liege ich bis um zehn Uhr im Bett. Es ist das erste Mal nach langer Zeit, dass ich mich morgens ohne Beschwerden fühle. Den Morgen so richtig genießen kann. Keine Schmerzen, keine sonstigen Wehwehchen. Meistens muss ich schon um sechs Uhr unbedingt raus, weil ich nicht liegen kann.
Das ist ein Sonntag, wie vom Arzt verordnet. Mit der richtigen Rezeptur.

25.1.1994. Mein Gott, in meinem ganzen Leben wurde ich noch nie so direkt beleidigt. Komme vom einkaufen, öffne meinen Briefkasten und Ella steht plötzlich neben mir. Sie beschimpft mich lautstark.
" Egoistin", "Lügnerin", "Doofe aus der Vorstadt" schwirren mir um die Ohren. Ich beneide sie, die einstige Schuhverkäuferin, wegen ihrer Intelligenz, ihrer guten Figur und ihrer Faltenlosigkeit. Ich bin auch nicht besser als diese Asozialen hier im Haus, wirft sie mir vor.
Ich weiß es schon lange, dass diese Frau eine Schraube locker hat. Geschieht mir recht!
Was hatte ich mir nur eingebildet, als sie sich bei mir in der Wohnung breit gemacht hatte, als würde sie dazugehören? Ich habe gehofft, eine Freundin zu finden. Doch bei einer so gestörten, aufdringlichen Person ist das ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich bin den ganzen Tag über von gegensätzlichen Gefühlen gerüttelt. Teils von Freude, einen Quälgeist weniger am Hals zu haben, teils auch von Mitleid, weil mir diese Frau in ihrer Einsamkeit auch leidtut. Vielleicht bin ich doch eine Egoistin, ein einsichtsloser Mensch.
Diese schlimmen Worte brennen mir noch lange in der Seele.

26.1.1994. Mir scheint erstmals, dass es sich gelohnt hat, Paul ein Leben lang zu ertragen. Wir können wieder normal miteinander sprechen. Meine vielen Opfer scheinen nicht ganz sinnlos gewesen zu sein. Was habe ich nicht alles erdulden müssen, um unsere Ehe zu retten. Wenn ich dran denke, dass ich schon am Hochzeitstag gerne ausgerissen wäre, ist es schon immerhin eine Ewigkeit her, dass ich mich endlich auf eine Normalität einstellen kann. Nur traue ich diesem Frieden nicht so ganz. Wir sind beide nicht auf Normalität eingestellt. Es hängt von uns beiden ab, ob sich das Gegenwärtige bewährt.

27.1.1994. In den letzten Wochen hat sich bei mir ganz unmerklich eine Angstsituation eingeschlichen. Ich wache schon morgens mit einer Beklemmung in der Brust auf. Immer mit einem Hauch von Katastrophe im Inneren. Bin in allem, was ich denke und mache unsicher. Habe den Eindruck, dass ich irgendwie immer mehr schrumpfe, immer unbedeutender bin. Oft frage ich mich, wohin geht mein Leben? Lohnt sich dieser tägliche Kampf um ein unerfülltes Dasein noch? Weder Lora, noch Paul, noch die Arbeit geben mir genügend Halt. Das Unergründliche, das in mir auf ein Wunder lauert, hat keinen Namen und solange es kein Wunder erlebt, wird es mir auch immer verborgen bleiben. Aber ich fühle es. Und es bestimmt mein Wohlbefinden, mein Selbstbewusstsein.

28.01.1994. Der letzte Putztag der Woche. Hab ihn gut überstanden und mein Rücken gibt klein bei. Scheinbar hat es ihm sogar gut getan, dass ich ihn ein wenig gequält habe. Dieser kleine Masochist.
Oh, welch eine Freude! Will 50 DM abheben und auf dem Konto sind 1400 DM verzeichnet. Ich fasse es nicht! Wir sind reich!!! Soviel Geld hatte ich in den letzten Jahren nicht mehr beisammen. Ist das ein Glücksgefühl. Eine Ladung Steine fällt mir von Herzen.
Und ich schwöre mir selbst, dass ich nie wieder die Tür irgendeines Sozialamtes öffnen werde.

30.01.1994. War heute in der Kirche. Bilde mir ein, dass ich mich danach besser fühle. Doch irgendwie wird die Kirche nie so richtig meine Freundin werden. Bin viel zu sehr von Zweifeln gerüttelt. Ob es einen Gott gibt oder nicht, darüber gibt es keinen Grund zu diskutieren. Aber Kirche ist mir zu sehr mit Machthaberei von alten Männern und Augenwischerei verbunden. Ich kann mir da nicht helfen. Was ich mir trotzdem versprochen hatte, war, dass das Gefühl, unter Menschen zu sein, mir gut tut.
Danach muss ich mal wieder die Fahrstuhltür säubern. Frau Schreiber hat sonntags Waschtag. Da darf niemand die Waschküche betreten. Sie bringt ihre Wäsche in den Keller. Doch während sie nach unten fährt, schwingt sie ihren Gehstock so, dass der von einer Wand des Fahrstuhls zur anderen pendelt. Das ganze Haus weiß, jetzt zieht die Frau Schreiber in den Hades. Dann hört das Poltern auf. Eine Zeit lang, solange sie in der Waschküche beschäftigt ist, ist unheimliche Stille. Wenn das Getöse wieder losgeht, fährt Frau Schreiber wieder in ihre Etage. Und ich muss die Fahrstuhltür säubern, denn sie lässt, ganz sicherlich mutwillig, ihre feuchten waschpulververschmierten Hände solang über die polierte Stahlfahrstuhltür gleiten, bis sie so circa 20cm lange Fingerspuren hinterlassen. Ich versuche immer wieder, mich nicht aufzuregen. Und es gelingt mir auch meist.

01.02.1994. Putztag bei uns im Hause. Hier habe ich immer den Eindruck, dass ich hinter jeder Tür belauert werde. Nein, ich habe die Gewissheit. Ekelhaftes Gefühl. Werde ich je im Leben mein eigener Herr sein? Werde ich jemals unabhängig sein? Werde ich einmal bereit sein, meine Umwelt nicht mehr so ernst zu nehmen? Meine Unsicherheiten überwinden? Meine Ängste?
Das Putzen an sich macht mir Spaß. Es ist kein Traumjob, aber es ist eine Abwechslung und ich verdiene dabei auch etwas Geld. Und bin froh, dass mich meine einstigen Kollegen nicht sehen, die Verwandten kaum etwas von mir wissen, was sie nicht wissen sollen.
Ich entdecke an Lora immer mehr einen Hang zur Unordnung. Es macht ihr nichts aus, wenn ihr Zimmer in einem heillosen Durcheinander verschwindet. Es gibt täglich hitzige Gespräche zwischen uns. Die fruchten aber leider nicht.
Nachts muss ich Paul wecken. Meine Finger sind so geschwollen, dass die Ringe mir tief ins Fleisch schneiden. Der Ringfinger an meiner linken Hand ist so angeschwollen, dass ich die Schmerzen kaum ertrage. Paul muss die Blechschere holen und mir die Ringe von den Fingern schneiden.

11.02.1994. Paul scheint gerne in "sein" Krankenheim zu gehen. Jeden Tag erzählt er mir von seiner Arbeit, von seinen Kollegen. Es ist was Neues. Das hat er früher nie getan. Wann hätte er es auch tun sollen, wenn er täglich betrunken nach Hause kam?
Nur das Verhältnis zwischen Lora und ihm will sich nicht verbessern. Das bekommt er einfach nicht hin.

14.02.1994. In einer Nachbarin habe ich endlich so was wie eine Freundin gefunden. Uschi ist ein lieber Mensch. Sie wohnt in der dritten Etage und kümmert sich um meine unmittelbare Nachbarin, einer älteren Frau.
Ich habe sie zum Kaffee eingeladen. Zeige ihr einige Fotos. Auch die aus Köpenick.
Sie ist hell begeistert, als sie die sieht. Feuer und Flamme, bittet sie mich, mit Kuhl zu sprechen. Sie möchte das Häuschen zum Wochenendaufenthalt mieten.
Ich rufe ihn auch gleich an. Er steht schon wieder vor einer Auslandsreise. Ich soll ihn am 25.ten anrufen, wenn er zurück ist.

25.02.1994. Uschi ist so aufgeregt, dass sie nicht mehr still sitzen kann. Kuhl kommt vorbei, um mit ihr über sein Häuschen in Köpenick zu sprechen. Er ist nett und freundlich wie immer, kann sie aber nicht beruhigen. Solange er bleibt, rutscht sie aufgeregt von einem Hinternteil auf das andere. Und ich dachte, ich bin die Einzige auf der Welt, die sich vor Emotionen nicht schützen kann.
Als Kuhl geht, kann Uschi nur noch vom Häuschen sprechen und wie sie alles einrichten wird.
Ich freue mich, dass ich mal wieder was Gutes tun konnte. Oft hatte ich hier den Eindruck, dass ich eigentlich gar nicht gebraucht werde, weil alles, was ich tu, auch jemand anderes tun könnte. Nicht wie in Rumänien, wo meine Familie so auf mich fixiert war, dass kaum einer einen Schritt tat, den ich vorher nicht abgesegnet hatte. Das wurde mir oft zur Last. Aber hier fehlt mir dieses Gefühl total, dass ich für jemand wichtig bin.

28.02.1994. Habe auf Nr.2, um die Ecke, den Garten gesäubert. So viele Blätterleichen habe ich noch nie gesehen. Hier wurde sicherlich schon sehr lange nichts mehr getan. Das Schlimme ist, dass ich, nachdem ich sie auf einen Haufen gezogen habe, die Blätter mit den Händen in die Kartons, die ich aus dem Papiercontainer genommen habe, heben musste. Dann entsorge ich den Inhalt in die Biotonne. Kein Wunder, dass ich am Ende der Aktion total verschwitzt und verstaubt bin.
Zu Hause angekommen, dusche ich und föhne grade meine Haare, als es klingelt. Ich werfe mir meinen Morgenmantel um und öffne. Ein junger Mann steht vor der Tür. Hochgewachsen, ein breites Lächeln um den Mund, freundliche Augen, ein sympathisches Milchbubi Gesicht.
"Hallo, ich bin Thomas Gerstl. Wohne nebenan in der 32. Frau Wiener hat mir gesagt, dass ich mich bei Ihnen melden soll. Ich habe nämlich einen kleinen Schrank, den ich entsorgen müsste. Da er aber noch sehr schön ist, habe ich mal nachgefragt, ob sie jemanden wüsste, der ihn haben möchte. Ich soll es bei Ihnen versuchen." So ähnlich stellt er sich vor.
Ja, sage ich, vielleicht nehmen wir ihn, ich muss ihn bloß erst sehen.
Er lächelt mich so an, dass ich verlegen werde. Er könnte mein Sohn sein. Ich fühle mich gar nicht wohl in meiner Haut.
Der Morgenmantel steht mir gut, meint er.
Ich entschuldige mich, habe eben geduscht, nachdem ich vom Putzen kam. Zugleich frage ich mich, was diese Entschuldigung soll. Aber der Kerl macht mich richtig verlegen mit seinem aufdringlichen Grinsen.
Ich schicke später meinen Mann rüber, sage ich, aber jetzt muss ich mich entschuldigen. Bald kommt meine Enkelin nach Hause und ich habe das Mittagessen noch nicht fertig.
Ich habe ihn los, denke ich. Aber weit gefehlt. Er sieht mich mit großen Augen an.
"Sie, Enkelin?" fragt er scheinbar überrascht.
"Ja, ich Enkelin!"
Das sei unmöglich. Er plappert weiter, indem er mir Komplimente macht. Ich stehe wie auf Kohlen. Brauche eine ganze Weile, bis ich ihn endlich los bin.
Später schicke ich Paul alleine rüber. Der Schrank passt prima ins Vorzimmer.
Der Geschäftsführer meiner Firma hat Paul vorgeschlagen, täglich den Parkplatz vor dem Geschäft zu säubern. Probeweise haben wir für einen Monat zugesagt. Dazu muss Paul morgens um vier aufstehen.

01.03.1994. Wir haben heute Gäste. Uschi und ihren Lebensgefährten Timo. Und natürlich die beiden "Kinder", die Pudel Basti und Chico.
Basti ist ein quirliges Hündchen und sitzt jetzt brav bei Papa. Er sei aber ein Muttersöhnchen. Während Chico, wie es sich einer älteren Hundedame geziemt, mit vornehmer Zurückhaltung in Mamas Arm kuschelt.
Nachdem wir über beide reichlich informiert wurden, weiß ich nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Mit Hundegefühlen kenne ich mich nicht aus. Unsere Hunde in Rumänien tollten in Hof und Garten und selbst auf der Straße herum. Die ließen sich kraulen. Aber so im Arm zu sitzen, da hätten sie sich vehement gewehrt.
Ich bitte Uschi und Timo, es sich gemütlich zu machen. Und die Hunde dürfen sich frei bewegen, es stört uns nicht.
Chico springt zuerst zu "Vati", dann, weil sie mich ja schon kennt, hüpft sie neben mich auf den Sessel und drückt ihr winziges Köpfchen wie verschämt an mich. Ich bin gerührt von diesem Vertrauen.
Basti hingegen springt wie ein Besessener auf "Mutti" zu, wedelt mit dem Schwänzchen und leckt Uschis Nase, Mund, Ohren und was er noch so erwischt.
Ich bin recht erkältet. Hab Uschi bei der Ankunft aber auch auf der Wange geküsst. Habe ich da ein Virus hinterlassen?
Bekommen Hunde eigentlich Menschengrippe?

4.3.1994. Ich bin nicht so recht in der Wirklichkeit verankert. Irgendwie habe ich immer den Eindruck, dass ich träume, dass ich bald irgendwo ankomme, wohin ich erstmal nicht hingehöre.
Wahrscheinlich sind meine Träume daran schuld. Ich träume immer wieder denselben Traum. Nacht für Nacht. Ich bin in Rumänien und muss wieder nach Deutschland zurück. Aber ich finde meinen Ausweis nicht, meine Kleider liegen überall in der Wohnung verstreut, ich weiß nicht wie ich zum Bahnhof komme und dergleichen. Immer fürchte ich mich im Traum, in Berlin meine Wohnung zu verlieren, meinen Arbeitsplatz und bin, wenn ich aufwache heilfroh, dass ich in Deutschland bin.
Doch im Laufe des Tages passiert das Gegenteil. Ich denke nur an Rumänien und habe den Eindruck, dass ich hier ein wenig den Boden unter meinen Füßen verliere.
Warum das so ist, kann ich mir nicht erklären. Ich bin im Traum nicht da, wo ich sein möchte und bin in der Realität nicht richtig da, wo ich sein müsste. Und mit diesen Gefühlen kann ich nichts anfangen.

6.3.1994. Da Paul morgen Geburtstag hat, haben wir die Bondars zum Essen eingeladen. Wie immer, habe ich den Eindruck, dass mir nichts gelungen ist. Zu solchen Gelegenheiten schalte und walte ich immer unter einem besonderen Druck. Ich habe überhaupt kein Selbstwertgefühl. Ein spontaner Besuch macht mir weniger zu schaffen. Eine Einladung ist etwas ganz anderes. Hier muss ich bestimmte Dinge tun, die ich glaube, nicht gut beherrschen zu können. Und ich fürchte, dass alle so genau auf alles achten wie ich. Genauso gnadenlos beurteilen. Und verurteilen.
Dabei bin ich mal wieder riesig erkältet. Mein Kopf ist schwer. Zu jedem Lächeln muss ich mich zwingen. Auch wenn ich diese beiden alten Menschen sehr mag.

7.3.1994. Habe für Paul nicht mal ein Geschenk gekauft. Da wir uns in all den Jahren eh nichts geschenkt hatten, wird ihm das nicht unangenehm auffallen.

9.3.1994. Irgendwie fühle ich mich verpflichtet, meiner Schwester und meinem Sohn ein Paket zu schicken. Erwartet man doch aus Deutschland. Da wir aber keine großen Beträge auf unserem Konto haben, bestelle ich bei einem Versandhaus Sachen. Habe damit noch keine Erfahrung. Ich weiß nur eins, ich werde Schulden haben. Das ist kein gutes Gefühl. Zugleich frage ich mich, warum ich diese Pakete überhaupt schicken muss. Statt mir etwas zu leisten, habe ich dieses "Pflichtgefühl". Und ich tu es nichtmal gerne, so mein Geld zu verplempern.

11.03.1994. Die Pakete sind fertig. Jetzt noch ab zur Post. Wieder eine Herausforderung. Selbst das Senden eines Pakets überhäuft mich mit Unsicherheit und Ängste.

12.03.1994. Paul hat heute einen Anfall von Wut und Enttäuschung. Wie auch nicht. Ich verdiene für ungefähr 8 Stunden pro Woche 1.000DM und er bekommt für 20 Stunden pro Woche, bei einer recht schweren Arbeit, fast das Gleiche. Eine andere Arbeit müsste her. Aber das ist nur ein Wunschtraum. Ich bin froh, dass wir überhaupt Arbeit gefunden haben. Nur kann ich ihn kaum besänftigen. Seine Enttäuschung ist zu groß.
Timo hat in Köpenick das Saubermachen im und um das Haus begonnen. Er bringt Anna mit. Dann entsteht in Loras Zimmer plötzlich ein heilloses Durcheinander, in dem die beiden Mädels fast untertauchen. Ich muss kräftig schlucken, weil ich mit Unordnung gar nicht klarkomme. Und sie mich verwirrt und mich irgendwie paralysiert.
Dann um 15 Uhr ein gewaltiges Donnergrollen. Im März! In der gleichen Sprache wie in Rumänien. Es ist etwas so Urvertrautes. Sonst fürchte ich mich bei Unwetter. Jetzt ist es fast wie Musik in meinen Ohren. Eine Viertelstunde später ein lautes Prasseln am Fensterbrett. Ich blicke auf die Straße. Sie sieht total blass und erschrocken aus unter der Hagelschicht, die sich in Sekundenschnelle gebildet hat. Ich weiß nicht, warum mich diese Phänomene so gut stimmen. Schade, dass es so schnell vorüber ist. Das alles war so urvertraut, dass ich mächtig erfreut bin, dieses Donnerwetter erlebt zu haben.

Paul geht mit Timo mit, um dem die Wasserleitung zu reparieren. Auch Lora fährt mit.
Ich fühle mich plötzlich so entspannt wie noch nie. Diese Ruhe! Diese Sorglosigkeit! Diese Stille!

14.03.1994. Am rechten Oberarm hat sich mir eine Talkdrüse entzündet. Tut höllisch weh.
Das Paket habe ich "nach Hause" geschickt. 79DM hat's mich gekostet. 400DM kostete der Inhalt. Teils trauere ich dem Mammon nach, teils macht es mir Freude, dieses Paket verschickt zu haben.
Erst im nächsten Monat werde ich sehen, ob wir es finanziell verkraften. Ich weiß noch nicht, wie viel Paul letztendlich verdienen wird.
Die Bondars fahren heute nach Budapest. Ich beneide sie ein wenig. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich am meisten an Fernweh gelitten. Atlas und Landkarte waren immer in meiner Nähe. Auch wenn ich nicht reisen konnte, ich war mit dem Finger auf der Landkarte immer unterwegs.

17.03.1994. Hilda, meine Tante aus Wien, die Frau eines Bruders meiner Mutter, schockiert mich mit der Nachricht, dass sie im Magen einen bösartigen Tumor hat. Sie wird morgen operiert. Es tut mir so leid, aber ich finde kaum Worte. Wie tröstet man in solchen Fällen? Kann es auch nicht richtig realisieren. Es klingt so unwahrscheinlich. Diese lebenslustige Frau, mit so viel Energie geladen, dem Tode geweiht? Man kann es einfach nicht fassen.
Zugleich fühle ich eine Ohnmacht, weil ich ja auch nicht weiß, ob und wann es mich vielleicht selbst erwischt. Immerhin hatte mein Vater Blutkrebs, sein jüngerer Bruder aus Ungarn Magenkrebs und seine Schwester aus Graz Unterleibskrebs. Schöne Aussichten…


18.03.1994. Mal donnert's, mal blitzt es, mal schneit es. So ein richtiges Aprilwetter.
Habe in Wien angerufen. Mein Onkel sagt, dass die Operation gelungen sei. Was immer das auch bedeuten mag. Dass der Patient nicht unter der Hand des Chirurgen seine Seele aufgab, oder dass der Patient noch ein wenig leben darf? Ich bete, dass Hilda es schafft!
Und ich habe wieder Grund traurig zu sein. Jetzt ziehen auch Uschi und Timo nach Köpenick und geben die Wohnung hier ganz auf. Ich habe kein Glück mit meinen Freunden. Alles, was mir lieb und wert war hier, außer meiner Familie, strebt davon, als wenn ich einen Antimagneten in mir hätte, der alles Gute von mir fernhält. Es ist zum Verzweifeln. Ich fühle mich so elend und unsagbar allein. Familie ist gut und schön. Aber 24 Stunden Familie. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr…Bin ich ein undankbarer Mensch? Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich so denke? Ich kann mich bei niemandem mehr ausheulen.

21.03.1994. Ich werde immer fetter. Zwar sage ich, dass ich Diät mache. Aber wieso wird man davon noch dicker? Das macht mich unglücklich. Dabei kann ich mich nur schwer an die Lebensmittel hier gewöhnen. Da wir in Rumänien kaum was Ordentliches zu kaufen hatten, lebten wir von den Produkten, die Garten und Hof abwarfen. Eine ganz andere Qualität war das, als es diese Nahrungsmittel aus dem Supermarkt aufweisen. Wieso aber habe ich in Rumänien nicht zugenommen, trotz Schweinefleisch, Speck und Eier? Und hier tue ich es. Und wenn ich richtig sehe, wird es bei Lora auch nicht besser. Ich müsste auf so Vieles achten. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, immer weniger Energie aufzubringen, um meine Vorsätze auszuführen. Es ist, als wäre ich ferngesteuert und könnte kaum noch bestimmen, wohin ich will.
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, frage ich mich, wo diese elegante, gepflegte Frau von früher hin ist. Ich verlier mich immer mehr. Oder entdecke ich eben nur eine Seite in mir, die schon immer da war?

29.03.1994. Vergebens haben wir uns auf den Zusatzverdienst von Pauls frühmorgentlicher Aktivität, dem Parkplatzsäubern, gefreut. Die haben vergessen, uns das Geld zu überweisen.
Jetzt habe ich auch Schwierigkeiten, die Rechnung für die bestellten Kleider zu begleichen. Die wären im Geschäft sicherlich billiger gewesen. Aber ich merke, wie ich immer mehr Geschäfte meide. Gehe ich mal in eins rein, bekomme ich kaum Luft und habe dabei schreckliche Schweißausbrüche. Das kann ja heiter werden!

08.04.1994. Mein Onkel aus Wien hat geschrieben. Hilda geht es nicht gut. Sie hat Wasser in der Lunge. Liegt noch immer im Krankenhaus. Er fühlt sich sehr einsam und hilflos.
Früher haben mich solche Nachrichten aus der Bahn geworfen. Jetzt habe ich den Eindruck, dass alles so unwirklich ist. Als ob ich nur ein Buch lesen würde und die Geschichten nur erfunden wären. Ich glaube, ich bin innerlich mehr mit meiner Vergangenheit verankert, als mit der Gegenwart. Und ich fühle, wie ich mich verändere. Oder schon längst verändert habe. Nur weiß ich nicht, ob das gut oder schlecht ist. Für mich und für die anderen.

09.04.1994. Sooft ich in die Kirche will, passiert etwas. Grade will ich weg, als Herr Neubert klingelt. Sie hätten die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen. Ein ständiges Rauschen sei zu hören. Als wenn jemand Wasser in die Badewanne lässt.
Ich gehe nach oben. Tatsächlich ist es so, als ob in der Wohnung über ihnen Wasser fließen würde.
Ich klappere alle Wohnungen in diesem Trakt ab. Finde aber nichts Verdächtiges. Tröste mich und die Neuberts damit, dass, wenn es um Wasser ginge, sicherlich schon zumindest eine Wohnung überschwemmt worden wäre. Vielleicht liegt es am Abzugsschacht. Werde montags die Hausverwaltung verständigen.
Bis ich die Sache erledigt habe, bin ich verschwitzt und müde und habe keine Lust mehr, in die Kirche zu gehen. Und ich glaube, ich bin sogar froh, ein Motiv zu haben, nicht
weg gehen zu müssen.

11.04.1994. Nun hat mir auch mein Arzt gesagt, es wäre gut, wenn ich mal versuchen würde, zwei Kilo abzunehmen. Zwei Kilo sind ein Witz, denke ich. Denn er hat sicherlich an mehr gedacht. Aber nett, dass er mich nicht unter Druck setzt.
Ich fühle mich bei dieser Bemerkung gar nicht wohl. Mehr als das- ich schäme mich. Nur weiß ich nicht, wie ich mich wieder auf die einstigen Kilos runterhungern könnte. Ganz im Gegenteil. Dieses schlechte Gewissen treibt mich eher zum Kühlschrank, als in eine gesündere Richtung.
Ich bin unglücklich. Und ich fühle mich noch unglücklicher, wenn ich mich im Spiegel betrachte und diese lange Mähne sehe. Ich muss zum Friseur.

13.04.1994. Seit sechs Monaten warten wir auf das Kindergeld. Aber das Geld scheint in jeder Hinsicht vor uns Reißaus nehmen zu wollen. Es ist zum Verzweifeln.

14.04.1994. Was habe ich geheult!
Die Bondars ziehen zu ihrem Sohn nach Stuttgart. Sie habe da eine schöne kleine Wohnung in Aussicht. Und zahlen auch weniger Miete.
Es schmerz ganz fürchterlich. Der Abschied von diesen netten Menschen wird mir sehr zu schaffen machen. Sie sind für mich so eine Art Elternersatz geworden. Ich habe sie sehr lieb gewonnen. Sie werden mir fehlen. Und ich weiß, dass wir kaum wieder jemanden finden werden, mit dem wir uns so gut vertragen könnten wie mit diesen lieben Menschen.
Ein wenig beneide ich sie auch. Wir sind hier in Berlin so unendlich weit weg von unseren Angehörigen. Selbst ein Besuch ist kaum möglich bei unseren finanziellen Möglichkeiten. Ganz anders wäre es, wenn wir irgendwo im Süden der Republik wohnen könnten.
Ich bin mal wieder aufgewühlt. Wieder ganz in der Vergangenheit. In einer Vergangenheit, der ich immer entkommen wollte. Und die mich verfolgt. Die an mir hängt, als wollte sie mich nie mehr loslassen.

15.04.1994. Mit Paul zusammen haben wir Nr.2 geputzt. Dann gehe ich noch rüber zu Nr. 32, um die Fenster in dem langen Flur am Eingang zu putzen.
Dieser Thomas Gerstl steht plötzlich neben mir. Er schwärmt, wie sauber alles ist, seit wir hier putzen. Und übrigens, diese Scheiben sind, seit er hier wohnt, noch nie geputzt worden.
Ich fühle mich gar nicht wohl, denn er vergisst, endlich wegzugehen. Er plaudert noch eine ganze Weile, bis mir einfällt, oh, Gott, ich habe das Essen auf dem Herd vergessen. Ich laufe weg. Natürlich habe ich kein Essen auf dem Herd. Aber ich kann diese frechen Blicke nicht mehr ertragen. Und habe es noch nie ertragen, wenn mir jemand bei der Arbeit zusehen wollte.
Nach fünf Minuten bin ich zurück und er ist nicht mehr da. Halleluja!

16.04.1994. Es klingelt. Ich öffne. Und da steht er. Er, den ich am wenigsten sehen möchte. Der liebe Tommy Gerstl. Mit roten Tulpen. Als Dankeschön für unsere Mühe.
Ich möchte ihm am liebsten dieses verliebte Grinsen aus dem Gesicht wischen. Vielleicht wäre er dann sympathischer. Und Paul ist grade jetzt im Keller. Das mit dem Essen am Herd war gestern. Kann ich heute nicht wieder anwenden. Zum Glück entschließ er sich, nach kurzem Geplänkel, dann doch zu gehen. Nicht bevor er mir versichert, dass ich großartig aussehe. Wie eine richtige Lady. Dann geht er.
Naja, ein wenig habe ich mich rausgeputzt. Wir essen heute mit den Bondars zusammen. Sie sitzen schon auf gepackten Koffern. Morgen kommt der Umzugswagen.
Mir graut es vor dem Morgen.
Der alte Herr ist witzig und sprüht nur so vor guter Laune. Auch wenn ich das an ihm so geschätzt hatte,  ich kann mich kaum zu einem Lächeln durchringen.
Jetzt bereue ich es, mich diesen Leutchen innerlich so genähert zu haben.

17.04.1994. Als ich morgens aufwache, fühle ich zuerst einen tiefen Schmerz in der Seele. Heute ziehen sie davon, unsre lieben Nachbarn. Mit diesen Menschen war es so einfach. Da musste man sich nicht erklären und groß um den Brei herum reden. Wir waren auf einer Wellenlänge. Ich weiß, dass es ein Glücksfall war, sie kennen zu lernen. Man findet nicht jeden Tag Menschen, mit denen man sich auf Anhieb versteht.
Später, mit Bondars Sohn, der aus Stuttgart angereist war, helfen wir, den Laster zu beladen. Das hektische Schalten und Walten hilft uns dann über den Abschied hinweg.
Als der Wagen mit ihnen um die Ecke biegt, um für immer zu verschwinden, bin ich relativ ruhig. Aber ich weiß, in den nächsten Tagen wird mich diese Geschichte immer wieder beschäftigen. Bis auch das alles nur noch eine Erinnerung bleibt.

20.04.1994. Unser Balkon, weil es ja Parterre ist, schimpft sich im Mietsvertrag "Wintergarten". Den habe ich mir als Büro eingerichtet. Von hier aus kann ich auch die Häuserfront uns gegenüber betrachten. Oft habe ich den Eindruck, meine Blicke werden sich hier wundschauen an den Mauern.
In den fünfstöckigen Häusern wohnen auch Menschen. Menschen wie wir. In Rumänien rief man sich über die Straße irgendwas zu. Einen Gruß. Neuigkeiten. Scherze.
Eine Frau lehnt drüben in einer Wohnung an einem Fenster. Wenn ich jetzt rüberrufen würde: Hallo, wie geht es dir?
Ich seufze. Sie würde das Fenster schließen und sich abends bei ihrem Mann beklagen, dass gegenüber eine Verrückte wohnt.
So nah zueinander. So fern voneinander.
Ich weine mal wieder. Die Bondars fehlen mir. Obwohl wir nicht täglich zusammen waren- es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man, wenn man es brauchte, eine Schulter zum Anlehnen hatte. Und Paul wird nie mehr sagen: ich geh mal kurz rüber zu den Bondars. Seit dem Abschied aus Rumänien habe ich nicht mehr eine so große Leere in mir gefühlt. Wieder kommen diese Schmerzen von damals hoch. In meinem Leben fehlt was, das ich nicht benennen kann.

30.04.1994. Paul und ich, wir streiten uns schon wieder. Wegen Lora. Sie ist frech und arrogant geworden, sagt er. Ich weiß, dass sie das ihm gegenüber ist. Aber ich kann ihre Gefühle nicht lenken. Da müsste er sich anstrengen. Ich weiß, dass er dazu nicht fähig ist. Er wird es nie begreifen, wie ein Kind funktioniert. Weil er nie Kind sein durfte. Weil er Gewalt erleben musste. Weil er nie Liebe bekommen hatte. Wie soll er da Lora vermitteln können, dass er sie liebt. Wenn er das auch bei mir nie konnte.
Ich habe oft Angst, dass ich versage. Dass ich was falsch mache. Hilflos fühle ich mich an manchen Tagen. Und ich frage mich, warum kann ich nicht nur Großmutter sein? Warum muss ich auch noch Mutter und Vater spielen und die ganze Verantwortung für Lora tragen? Andere Frauen in meinem Alter leben ihre Freiheiten aus, weil die Kinder aus dem Haus sind.
Es ist erstmals in meinem Leben, dass ich um mich herum keinen richtigen Hof, keinen Garten habe. Ich vermisse diesen Auslauf. Fühle mich oft wie in einem Käfig.

27.05.1994. Ich gehe lustlos an meine Arbeit. Muss mich immer mehr dazu zwingen, etwas zu machen.
Eine Arbeit in einer Gemeinschaft bringt sicherlich auch Ärger und Enttäuschungen. Aber auch Abwechslung und Freude. Ich habe auf meinen Treppen all das nicht. Es ist wie ein Selbstgespräch. Niemand widerspricht mir. Niemand lobt mich. Niemand rügt mich. Es ist oft so, als täte ich etwas total Unnötiges. Wenn es nicht so wäre, müsste doch von irgendwo eine Rückmeldung kommen. Aber nichts. Als läge ich unter einem Leichentuch.

31.05.1994. Bin recht depressiv. Denke schon mit Grauen daran, dass Pauls Arbeitsvertrag nur bis zum 9.06 läuft. Ob er dann weiter beschäftigt wird, ist fraglich.
Ich weiß, wie fleißig und zuverlässig er ist. Aber er ist ein Fremder. Andere Transporteure wurden schon eingestellt, sind aber für eine 40-Stunden- Woche beschäftigt.
Aus dem Westen wurden wir hinausbugsiert, weil wir nicht katholisch waren. Hier in der Diakonie scheint Paul aber auch nicht evangelisch genug zu sein. Er fühlt immer mehr, dass er nicht so behandelt wird wie die Einheimischen. Das bekomme ich zu fühlen, weil er täglich schlechtgelaunt und traurig nach Hause kommt.
Ich fühle mich wie in einem dunklen Raum, wo nicht nur das Licht immer schwächer wird, auch die Luft zum Atmen wird immer dünner.

06.06,1994. Allerlei Wahlpropaganda im Briefkasten. Ich lese alles oberflächlich durch. Eigentlich schreiben alle Parteien da schöne Sachen. Sogar bei den Republikanern könnte man zustimmend nicken. Die Wahrheit hat nun mal viele Gesichter. Doch ich bin im Grunde genommen gegen alle Parteien, Glaubensrichtungen, gegen alles, was Menschen abgrenzt, spaltet. Parteien, Kirchen, verschiedene Gruppierungen haben nie was anderes getan, als Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Und wenn die eine oder andere Gruppierung Macht errungen hatte, gab's immer nur Machtmissbrauch, egal um wem es ging. Eine Partei müsste es geben, die alle Menschen aufruft, sich miteinander zu vertragen, ihre verschiedenen Meinungen friedlich und respektvoll auszudiskutieren und dem gemeinsamen Land so dienlich sein. Aber ich weiß, ich bin eine Träumerin. Hier würde man mich utopische Sozialistin nennen.

09.06.1994. Frau Zimmerlein von der Sozialstation, die uns gegenüber logiert, hat mich gebeten eine Frau Kopik aus dem Seniorenwohnhaus daneben am Montag zu einer Besprechung ins Bezirksamt zu begleiten. Weil ich doch auch eine Ansprechpartnerin der Senioren in unserem Haus bin.
Ich weiß nicht, ob ihr Angebot mitzumachen auch mein Wunschtraum ist. Mittlerweile weiß ich, dass ich, sooft ich irgendwo mitmachen will, zu einer Art Packesel mutiere, dem man beliebig viel Gepäck aufbürden kann, ohne dass er, im Gegensatz zu einem normalen Esel, auch noch störrisch wird. Ich bin ein Mensch, dem man es anmerkt, dass er wortlos alles hinnimmt. Und davon profitieren manche Miterdenbürger.
Aber, was soll's. Ich versuche es mal. Und teste mich selbst mal aus, wie ich meine Mitmenschen bei einem größeren Auflauf ertragen kann.

10.06.1994. Lora soll in einer Woche an einem Klassenausflug nach Schwanenwerder teilnehmen. Musste eine Menge Geld investieren. Schlafsack, Badetuch, Bademantel und anderes mehr kaufen. Die Busreise kostet 50DM. Und ich weiß gar nicht, ob sie mitfahren kann. Sie hat plötzlich Hühneraugen, die sie schmerzen. Es tut mir leid. Sie hat sich so auf den Ausflug gefreut! Und ich wäre auch beruhigt gewesen, sie gut aufgehoben unter Gleichaltrigen gewusst zu haben.

13.06.1994. Das Gespräch im Bezirksamt hat mir nichts gebracht. Da wurden so viele Wort Neuschöpfungen gebraucht, dass ich mich in einem japanischen Ikebana Kurs am Fudschijama besser aufgehoben gefühlt hätte. Alles klingt so nüchtern, so amtlich, so steril, so ausgeklügelt. Und dieses Amtsdeutsch! Der alte Goethe bräuchte hier auch einen Dolmetscher.
Zu Hause höre ich ein kurzes Klingeln. Gerade suche ich in allen Taschen nach ein paar Mark. Konto mit 200DM überzogen und bis zum nächsten Lohn sind's noch 10 Tage.
Ich öffne.
Kein Mensch weit und breit.
Auf der Klinke hängt ein Plastikbeutel. Drin eine Schachtel Zigaretten und eine Tüte mit Süßigkeiten.
Ich deute den Beutel als ein Zeichen von: Schön, dass es euch gibt. Danke für alles.
Aber wieso so geheimnisvoll? Warum verstecken sich Menschen, wenn sie was Gutes tun?
Vielleicht auch ein: War mir ein Vergnügen, aber ich bestehe auf Distanz. Wenn's so wäre, hätte der Beutel keinen Wert für mich.

14.06.1994. Paul schleppt die neue alte Couch von Frau Ewald zu uns ins Wohnzimmer. Endlich habe ich diese hässliche alte alte Couch von dem unbekannten Verblichenen los. Auch Lora hat ein neues Bett bekommen. Allerdings fehlt da eine schöne Decke drauf. Und so nach Jugendzimmer sieht es auch nicht aus. Eher nach der Abstellkammer eines Mietshauses. Aber es wird schon. Irgendwann…
Hauptsache ihre Hühneraugen geben es auf. Bis zur Abreise wird wieder alles in Ordnung sein.

15.06.1994. Du heiliger Bimbam. Bin ich heute alt geworden. 53. Schon ein halbes Jahrhundert überschritten und kein bisschen stolzer.
Geburtstag habe ich mir anders vorgestellt. Ohne schlechter Laune, ohne diesem komischen Gefühl in den Waden und dieser Müdigkeit, als hätte ich den ganzen Tag Sandsäcke durch die Wohnung geschleppt.

16.6.1994. Paul schiebt Schränke in der Nachbarschaft durch die Gegend. Bei einer Dame die, wie ich höre, viel Geld besitzt. Was ich nicht glaube. Ich glaube kaum, dass hier im Haus jemand wohnt, der viel Geld hat. Ein Seniorenwohnhaus! Wer viel Geld hat, der wählt sich eine ganz andere Wohnung aus. In einer Seniorenresidenz. Und in einem ganz anderen Stadtteil.
Außerdem stinkt es bei dieser Frau ständig nach Schnaps. Und es sieht auch nicht danach aus, als hätte sie große Lust aufzuräumen. Eine so verdreckte Wohnung habe ich bisher gar nicht gesehen. Wer aber weiß, wie es bei mir aussehen wird, wenn ich ihr Alter erreiche? Man verurteilt so leicht andere Menschen. Doch ein jeder lebt sein eigenes Schicksal, seine eigenen Möglichkeiten.

17.7.1994. Es interessiert kaum jemanden, woher wir kommen oder weshalb wir hierher gekommen sind. Lässt man aber durchblicken, dass die finanzielle Lage keine rosige ist, hört man immer das gleiche: Ja, wir hatten es auch nicht immer gut. Auch wir haben mal gehungert.
Natürlich ist es ein Unterschied, ob man 10 oder 50 Jahre lang hungert. Ob man 10 oder 50 Jahre lang kein eigenes Leben führen darf. Ob man 10 oder 50 Jahre lang in einem Gefängnis lebt oder nicht. Dafür aber können unsere Nachbarn nichts.
Ich habe in Deutschland kein Schlaraffenland erwartet. Ich habe nicht davon geträumt, mit offenem Maul auf fliegende gebratene Tauben zu treffen. Ich glaube, ich habe gar nichts erwartet. Ich habe nur erhofft, dass ich mein Leben in andere Bahnen lenken kann.
Und jetzt bin ich deprimiert, nicht weil ich in Deutschland bin. Ich bin deprimiert, weil ich ein überempfindlicher Mensch bin, weil mich wahrscheinlich die Wechseljahre quälen und einiges mehr. Deprimiert wäre ich wohl überall in der Welt gewesen. Depressionen kommen nicht über einen geregnet. Sie keimen und wachsen in einem selbst. Ich kann für mein Empfinden niemandem eine Schuld zuweisen. Vielleicht der Kindergeldkasse, die uns seit acht Monaten auf ein bisschen Geld hoffen lässt. Scheinbar vergeblich.


18.6.1994. Immer wieder die gleichen Träume. Und immer wieder sehe ich meinen Schwiegervater im Traum. In Rumänien hatte ich auch immer von Toten geträumt. Im Traum war es mir immer bewusst, dass diese Personen tot sind, die ich da sehe. Ich hatte mich von ihnen fern gehalten und jeden Kontakt vermieden.
Mit meinem Schwiegervater ist es anders. Ich fürchte mich nicht vor ihm und wir sprechen normal miteinander. Es artet nicht in einen Albtraum aus. Zum Glück. Diese Träume beherrschen mir oft meinen ganzen Tag. Wenn Sie jetzt noch eine schreckliche Facette hätten, würde ich wahrscheinlich wahnsinnig werden. So sage ich mir, der Schwiegervater ist eigentlich nicht böse, dass ich sein Haus verlassen habe. Dass ich sein Lebenswerk verschmäht habe. Es ist, als würde er mir sagen, ich hätte das Gleiche getan, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre. Die Deutung dieser Träume habe ich mir auf meine Gefühle zugeschnitten, sie mir zurechtgebogen. Warum auch sollte ich immer nur das Negative an mich heran lassen. Wo es geht, muss ich mir auch das Positive zu Eigen machen.
Die Möbel, die wir für die Bondars verkaufen sollten, sind nur teilweise verkauft. Einige Sachen gefallen mir ja auch, sind mir aber zu teuer. Wenn sie wiederkommen, müssen sie die Möbel eben selbst entsorgen.
Ich sitze richtig fest im Dreck. Angstgefühle, kribbelnde Schmerzen an den Oberschenkeln, ständiges Krampfgefühl in den Waden. Alles fühlt sich an, als fließe kein Blut, sondern Gift durch meine Blutbahn.
Und ich will mich doch wieder wohl fühlen, ich will wieder wie jeder normale Mensch leben, ich will nichts Besonderes, nur arbeiten können, ich will, ich will, ich will….

19.06.1994. Es geht doch! Es ist noch nicht dieses Tages Abend, aber ich wage es doch zu sagen: ich fühle mich heute gut! Ein Wunder, ich fühle mich gut.

20.06.1994. Ich gehe mit Lora los. Habe Arzttermin. Komme grade noch bis zur Potsdamer Strasse und da geht es nicht weiter. Es ist fürchterlich schwül. Nur irgendwie scheint auch in mir selbst Schwüle zu sein Ich bekomme fast keine Luft mehr. Mein Kopf droht zu bersten. Ich muss wieder das Zuhause ansteuern. Kann mich kaum auf den Beinen halten. Todesangst bei jedem Schritt. Ich bin ein Wrack.

21.06.1994. Paul hat mir beim Putzen geholfen. Ich hätte es alleine nicht geschafft.
Dann bittet mich Zimmerlein, ihr beim wöchentlichen Kochen für die Seniorengruppe zu helfen. Ich freue mich, dass sie mich dazu eingeladen hat. Doch dann passiert, was der Lisa immer passiert. Ich stehe am Herd, serviere, spüle, lass mich hin und her scheuchen und Zimmerlein sitzt mit irgendwelchen Damen im Garten bei einem Plausch.
Habe meine beste Bluse total mit Fett verspritzt, bin müde wie ein Hund nach diesem fünfstündigen Sklaventreiben und auch noch beleidigt, weil mich Zimmerlein mit einem Zehnmarkschein abspeisen will. Ich verstehe ehrenamtlich, aber nicht so. Der eine schuftet, der andere lässt es sich gut gehen.

22.06.1994. Musste die letzten zwei Etagen bei uns im Haus links liegen lassen. Es geht nicht mehr. Meine Beine schmerzen so fürchterlich, dass ich schreien könnte. Wieder dieses Kribbeln in den Oberschenkeln und ein Brennen unter der Haut, als würden meine Erythrozyten Blei gießen.
Ich freue mich über meine Hauswartstelle. Ich kann mir meine Arbeit so einteilen, wie ich will. Früher musste ich in den heißen Sommermonaten im Büro fast nackt dasitzen, um meine Arbeit machen zu können. Und an den Monatsenden, wenn es manchmal sechzehn Stunden wurden, war ich kaum noch fähig, mich bis nach Hause zu schleppen.

23.06.1994. Heute Morgen musste mir Paul die Eimer auf die 7.Etage bringen, weil ich Angst hatte, alleine loszuziehen. Trotzdem habe ich keine Beruhigungstablette genommen. Nach fünf Minuten konnte ich ihn schon wegschicken, weil ich mich wieder gefangen hatte.
Bevor es noch zu warm wird, entschließe ich mich noch, den kleinen Rasen auf dem Hochbeet im Hof zu jäten. Ich bin schon recht kaputt, als plötzlich jemand mit Schwung hinter mir auf das Beet springt. Ich drehe mich erschrocken um.
Der Gerstl steht da. Mit einem grünen Zweig in der Hand, den er hier irgendwo von einem Strauch abgebrochen hat. Der schönsten Frau der Welt, sagt er mit seinem breiten Grinsen. Oder ist es wirklich ein ehrliches Lächeln? Er muss mich von seiner Wohnung aus beobachtet haben, denke ich. Kein gutes Gefühl. Ich bin in seiner Gegenwart ärgerlich unsicher. Er quatscht von seiner Arbeit in irgendeinem Forschungszentrum. Dann von seinem guten Freund, mit dem er gemeinsam verreisen will.
Ich höre abwesend zu. Stehe mit schmutzigen Händen und einem genau so schmutzigen Küchenmesser da. Wahrscheinlich mit zerzaustem Haar und verschwitz. Und er sagt mir, dass ich eine attraktive Frau sei.
Da wird es mir zu bunt und ich frage ihn:
"Sagen Sie, Herr Gerstl, gibt es denn keine anderen, jungen, attraktiven Frauen, die Sie anbaggern können? Ich bin grade erst 53 geworden und Sie mit ihren 28, 29 Jahren machen sich unweigerlich lächerlich, wenn Sie mit solchen plumpen Annäherungsversuchen kommen."
Er lacht laut. Hält plötzlich seine Brieftasche in der Hand und sucht drin herum. Dann hält er mir den Ausweis vor die Nase. Ich sehe nicht, was da drauf steht.
"Ich bin 44 Jahre alt", liebe Frau Nicolis, sagt er und steckt den Ausweis in die Brieftasche zurück.
Ich bin erstaunt. Sehr erstaunt. Aber ich habe nicht gesehen, was auf dem Ausweis stand. Er lügt vielleicht. Aber was geht es mich an, ob er 29 oder 44 ist?
Er sieht mich mit einem fragenden Blick an. Spricht weiter. Ich will gar nicht hören, was er sagt. Ich hatte nie irgendwelche Männergeschichten und ich bin eine dumme Gans. Ich habe keine Ahnung, wie man mit Männern umgeht. Ich weiß nicht, wie ich mich benehmen soll. Ich lächele nur. Ich bin so verdattert, dass es mir fast schlecht wird. Ich flehe den Himmel an, dass er einstürzt, dass er mir irgendjemanden aus dem Haus, ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe schickt. Ich bekomme Hitzewallungen und Herzrasen. Und als ich meine, jede Minute in Ohnmacht zu fallen, merkt er wohl, dass ich kein guter Gesprächspartner bin. Und er geht.
Bei Gesprächen, habe ich schon öfter bemerkt, wenn der Gesprächspartner spricht und ich nur zuhöre, könnte ich nach einer Zeit in Ohnmacht fallen.
Ich muss mich sofort hinlegen, denn ich fühle mich tatsächlich sehr, sehr schlecht.

25.06.1994. Heute sind wir bei Kathrin in Wohldorf.
Ein wunderschönes Wetter.
Ihr Mann singt in einem Chor mit. Sie haben ein Konzert auf der Waldbühne in Kirchdorf. Da gehen wir auch hin. Wir treffen eine Menge der freundlichen Leute, die uns hier unsere Tage im Lager versüßten. Es ist ein sehr schönes Erlebnis.
Dann Gespräche bis in die Nacht hinein. Es wird gegrillt. Ein so richtiges schönes Familientreffen, möchte ich sagen.

26.06.1994. Die Nacht bei den Mankes ist gut überstanden. Ich frage mich, wie vor Monaten auch, warum sie wohl in dieses schöne große Haus so winzige Zimmer eingebaut haben. Man kann sich kaum um die eigene Achse drehen.
Aber der Garten ist schön und groß. Sie wollen einen Teich reinbauen. Wenn wir im nächsten Jahr kommen, ist er sicherlich fertig.
Dann spazieren wir bis an das Lager. Ich will aber nicht hineingehen, weil nur noch eine bekannte russische Familie von früher drin wohnt, die aber nicht zuhause ist. Alle anderen sind, Gott sei Dank, ausgezogen in alle Windrichtungen Deutschlands.
Als wir uns verabschieden, kommt mein Dank für die Gastfreundschaft aus ganzem Herzen. Ich habe mich so wohl gefühlt, wie seit langem nicht mehr.

27.06.1994. Bin mit Rückenschmerzen aufgewacht. Kann mich kaum bewegen. Doch beim Putzen wird es immer besser mit dem Rücken und immer schlechter mit den Beinen.
Will wieder zum Arzt und muss umkehren. Das Gesicht knallrot, Herzrasen. Die Straßen fühlen sich an wie Schienen in einem Backofen.
Zuhause muss ich mich hinlegen. Ich falle in einen tiefen Schlaf.
Dann klingelt es heftig an meiner Tür. Ich fahre aus dem Schlaf hoch. Bin völlig benommen und hab ein schreckliches Zittern im ganzen Körper. Ich taumelte zur Tür. Öffne.
Zwei Polizisten stehen vor meiner Tür. Sie fragen mich, ob ich heute auch in Nummer 32 geputzt habe. Ja, habe ich. Ob ich irgendwelche komischen Geräusche gehört hätte? Nein, ich kann mich nicht entsinnen, etwas Ungewöhnliches gehört zu haben. Ob mir nichts oder niemand aufgefallen ist? Ich kann nur verneinen. Auch sonst bin ich nicht die Neugierige und Herumschnüffelnde.
Ob ich Thomas Gerstl kenne? Ich werde hellhörig. Ja, flüchtig eben, wie man halt die Mieter nach einem halben Jahr im Allgemeinen kennt. Ob ich ihn in letzter Zeit gesehen hätte. Ja, wir haben neulich kurz miteinander gesprochen. War er anders als sonst? Nein, ich kenne ihn kaum, also weiß ich nicht, was bei ihm anders ist, wenn er anders ist.
Sie gehen davon. Ich denke mir, der Kerl muss ja was auf dem Kerbholz haben, wenn die Polizei über ihn solche Informationen haben will. Ist dieses sympathische Lächeln nur eine Maske?
Dann merkte ich, dass die Straße voller Fahrzeuge von der Feuerwehr und Polizei ist. Ich habe so tief geschlafen, dass ich nichts gehört habe. Ein Martinshorn ist bei uns ja nichts Neues, da das Krankenhaus um die Ecke ist. Wir haben uns daran gewöhnt. Das Zittern in mir nimmt zu.
Eine Stunde später ruft mich die Hausverwaltung an. Frau Wiener erzählt mir, die Frau des Thomas Gerstl hätte die Feuerwehr gerufen, weil ihr Mann einen Herzinfarkt hat. Als die aber kam, öffnete niemand. Als dann die Wohnung gewaltsam geöffnet wurde, lagen Frau und Mann tot in der Wohnung.
Ich fühle, wie alles Blut in mir erstarrt. Frau Wiener plappert weiter. Die Frau von Thomas Gerstl, von der er getrennt lebt, sei hier auf Besuch gewesen. Sie wohnt in Bamberg. Und jetzt sind beide tot. Kein Mensch weiß, was da eigentlich passiert ist. Die Polizei schweigt sich aus. Übrigens hätte er immer gesagt, welch großartige Hauswarte wir sind. Er hätte richtig geschwärmt.
Als sie auflegt, habe ich einen so großen Knoten im Hals, dass ich kaum noch Luft bekomme. Wenn Paul oder Lora zuhause wären, wie könnte ich dieses haltlose Weinen erklärten, das plötzlich aus mir bricht? Es ist komisch, ich habe diesen Mann kaum gekannt, aber jetzt ist es, als würde etwas in mir auseinanderbrechen.
Ich sehe plötzlich sein Gesicht vor mir und weiß, dass sein Lächeln keine Farce war. Jetzt weiß ich auch, dass ich mir selbst die Möglichkeit genommen habe, wenigstens eine kurze Zeit lang, etwas gefühlsmäßig zu erleben, was mir noch nie gegeben war, zu erleben. Da war ein Mensch in meiner Nähe, der ein ungewöhnliches Interesse an mir hatte, der immer bereit war mir ein Lächeln zu schenken und ich habe aus falscher Scham alles falsch gemacht. Und er wird mich nie wieder anlächeln.