für all jene, die sich hierher verirren und mal etwas lesen. Das Tagebuch hatte ich meinem "Quatschky", dem Diktierprogramm, das auch nicht fehlerfrei ist, diktiert. Der Augen wegen konnte ich das Niedergeschriebene nicht lesen und korrigieren. Auch die falsch formulierten Sätze, die falsche Interpunktion usw. sind hier gelandet, ohne dass ich sie entdecken werde, da ich all das hier, aus gesundheitlichen Gründen, nicht mehr durchlesen kann.
Die Abfahrt.
1.Kapitel
08.09.92
Das
große Haus steht trotzig und erhaben im Morgenlicht. Als wollte es mir sagen,
entkommen bist du mir, doch ob du eine bessere Heimat findest, das bezweifle
ich.
Ich
werfe einen letzten Blick auf die großen Fenster der Veranda mit den herrlichen
Geranien. Nie hatte ich gedacht, dass ich von hier entkommen werde. Und jetzt,
da es passiert, bin ich am Boden zerstört.
Die
Effektivität meiner Beruhigungstabletten ist gleich Null. Ich heule wie ein
verwundetes Tier.
Definitiver
Schnitt unter die Vergangenheit.
Ich
wage es, meine Familie für mich außer Kraft zu setzen. Nachdem sie bis jetzt
mein ganzes Leben bestimmt hatte. Mich gefangen hielt.
Wir steigen in den Kleinbus, der bis vor unser Haus gefahren kam. Richtung
Deutschland. Paul und ich. Paul, der mir bis jetzt mein Leben zur Hölle gemacht
hatte. Und ich, von der niemand, nicht mal ich, bis vor kurzem gedacht hätte,
dass ich hinter meiner Schüchternheit, Welt- und Menschenfremdheit eine solche
Entscheidung treffen könnte.
Lora,
meine achtjährige Enkelin, wird bald nachkommen, da ich die
Erziehungsberechtigte bin, seit ihre Eltern nach Italien geflüchtet waren.
Was
ist mit den anderen? Mit jenen, ohne die ich glaube, nicht leben zu können? Und
die, die ich nicht mag und von denen ich mich paradoxerweise genauso schwer
trenne? Gibt es je ein Wiedersehen?
Ziehen
wir davon für alle Zeiten?
Alle
Schleusen sind offen. Tränen fließen über das Gesicht meines Sohnes, der
kleinen Enkelin, der Schwiegermutter, der Schwiegertochter, der Cousinen. Selbst
die Augen von Pauls Tante sehen verweint aus. In ihrem Gesicht
entdecke ich weder die Überheblichkeit, noch die Geringschätzung, die sie mir gegenüber in
den letzten dreißig Jahren zur Schau trug.
"Passt
auf euch auf", schluchzt sie.
Wenn
sie in den vergangenen Jahrzehnten etwas von dieser gegenwärtigen Emotionalität
gezeigt hätte, gäbe es heute vielleicht kein Abschiednehmen.
Die
Nachbarn stehen vor ihren Haustoren wie versteinert. Ich kann es nur schwer
ertragen.
Frage
mich, ist das Schicksal? Oder schieben wir dem Schicksal, wenn es uns so passt,
unsre eigenen Entscheidungen in die Schuhe?
Ein
letzter Blick auf mein wunderschönes Zuhause. Das Zuhause, wo ich erst in den
letzten Jahren etwas heimischer geworden war,
weil ein Teil meiner Quälgeister verstorben
war und ich nach Herzenslust schalten und walten durfte. Wo ich den Großteil
meines Lebens verbrachte und die vielen unschönen Seiten des Daseins
kennenlernen durfte.
Die Abfahrt.
In
mir bricht alles zusammen. Teile von mir sterben ab. Alleine der riesengroße
Knoten im Hals und die brennenden Augen sind unerträglich gegenwärtig.
Wir
sind sieben Fahrgäste, drei Frauen, vier Männer. Alle wurden einzeln von
zuhause abgeholt. Alle fahren einer anderen Zukunft entgegen.
In
jede freie Ecke des Kleinbusses wurde ein Stück Gepäck eingepfercht. Ich komme
mir wie eine Ölsardine vor.
In
unseren Aussiedlerpässen stehen unsere Namen und Geburtsdaten. Keine Adressen.
Wir sind Niemandsländer.
Der
Fahrer fährt den Kleinbus mit sicherer Hand, bilde ich mir zumindest ein. Das
Land ringsum ist verdorrt. Traurig, wie alles in mir.
Einzelne
Leute am Straßenrand winken uns zu. Ein jeder Wink ist ein Hammerschlag ins
Gemüt. Es ist, als stünden sie wie gerufen da, damit wir uns von jedem einzeln
verabschieden.
Der
Weg hinter uns, und ich blicke oft zurück, ist mit Schmerz und Trauer
gepflastert. Mit jedem Kilometer wachsen sie ins Unermessliche.
Mein
Herz ist schwer von all jenen, die ich in mir trage. Die Lebenden, die Toten.
Sie folgen meinen Schritten auf diesem Weg ins Ungewisse.
Obwohl
ich in dieser Enge eingeklemmt bin, habe ich den Eindruck, dass ich aus einem
Tunnel hinaus in eine weitgefächerte Landschaft gleite, wo es keinen Halt gibt,
nur noch Suchen.
Ungarn...
Kilometerlange
Blechschlangen. Es ist, als wäre alles, was in Rumänien keucht und fleucht, auf
der Flucht.
Die
ungarischen Zollbeamten lenken mich ab.
Ihre
derben Sprüche belustigen Paul und mich. Diese ewige ungarisch-rumänische
"Freundschaft'' …
Schimpftiraden,
so unterirdisch gemein, dass man sie in
keine Sprache der Welt übersetzen kann, ohne dass sie ihre "Würze''
verlieren, werden großzügig an die Businsassen einer nichts ahnenden
rumänischen Reisegruppe neben unserem Bus verteilt. So was, wie:
"Konntet
ihr eure Ärsche nicht zuhause lassen?'' sind noch die Harmlosesten.
Als
die Zollbeamten merkten, dass wir sie verstehen, lächeln sie zwinkernd zurück.
Traurigkeit fällt von mir ab. Zu meiner Erleichterung geht die Kontrolle
unspektakulär über uns hinweg.
Die
Landschaft, ähnlich wie in Rumänien. Misere, nur raffinierter verpackt.
Ungarn.
Das
Land, dem ich innerlich des Öfteren näher war, als der Heimat. Mein
Rundfunkgerät war jahrzehntelang, an freien Tagen von morgens bis abends, auf
Kossuth-Radio Budapest geschaltet. Von hier bekam ich Informationen über Land
und Leute, Geschehnisse aus der weiten Welt, über Kultur und Fortschritt und
über die wahre Situation in meinem eigenen Land. Zum Glück konnten Ceausescus Handlanger die
Radiowellen, die über die Grenze schwirrten, nicht richtig auffangen.
Dann
sind wir in Budapest.
Budapest
war eigentlich immer die Stadt meiner Träume.
Als
Kind bin ich mit ungarischen Kindern, mit der Sprache, dem Brauchtum und der
Eigenart dieses Volkes aufgewachsen. Ich liebe seine Musik, seine Lebensfreude,
seine Künstler, seine Literatur.
Deutschland
war immer weit, weit weg und recht fremd. Wer hätte uns auch von Deutschland
erzählen sollen? Einzig unsere Schulbücher haben uns die Schriftsteller und
Poeten der deutschsprachigen Welt näher gebracht. Was wir konkret von
Deutschland wussten, waren die Geschichten die vor Jahrzehnten oder
Jahrhunderten dort passierten. Und ich wusste, wie die Zugspitze aussieht. Das
Bild über den Schlafzimmerbetten mit dem geschnitzten Holzrahmen, der
Ansichtskarten mit der Zugspitze in der Mitte und den mit Moos und Edelweiß
bedeckten Rand war lange mein erster und einziger Bezug zu Deutschland. Erst
später bekam Deutschland ein anderes Gesicht. Und zwar durch die
Neckermannkataloge, die von Hand zu Hand gereicht wurden.
Ab
Budapest wird es schöner. Und westlicher, bilde ich mir ein. Was bedeuten soll,
dass es so aussieht, wie ich mir den Westen ausmale.
Ich
hatte gehofft, dass wir bei Hegyeshalom nach Österreich abbiegen. Es geht aber
über Breslau hin durch die Slowakei und Tschechien.
Die
Nacht umgibt uns langsam und geheimnisvoll. Sie wäre auch in Österreich genau
so dunkel gewesen.
Hell
erleuchtet strahlt uns die Donaubrücke an. Wie eine Verheißung.
Und
ab jetzt hoffe ich tief innen in mir auf ein Wunder.
Erstmals
tschechischer Boden unter den Rädern.
Die
Dunkelheit blickt mich durch die Scheiben mit feuchten Augen an.
Ich
versuche, mich dem Rütteln des Wagens hinzugeben. Erhasche hin und wieder ein
Schlummern. In meiner Brust flammt wieder ein Schmerz hoch, wenn ich
zwischendurch aufwache.
Prag
liegt unter einem Wald von Lichtern. Es ist viel Licht, so viel, wie ich noch
nie gesehen habe. Wunderschön.
Im
tiefsten Tschechien verbringen wir den Rest der Nacht am Rande des Weges. Der
Fahrer muss sich ausruhen. Ringsherum Konturen von Bergen und kühlem Dunkel.
Geruch von Fichten, taufeuchtem Gras und Menschenferne.
Wir
im Wagen liegen aufeinander herum. Mir fällt auf, dass ein Pferdestall
angenehmer riecht als ein Raum, in dem sich Menschen längere Zeit aufhalten.
Statt in Kissen, schmiegen wir uns an Schultern. Es gelingt mir, zu schlafen.
09.09.92.
Um fünf Uhr morgens sind wir im gelobten Land.
Deutschland!
Ein
kühler Morgen und ein Gefühl von Müdigkeit ist das erste Empfinden auf diesem
neuen Heimatboden.
Am
Grenzübergang machen wir Kaffeepause. Die kleine Raststätte scheint mir der
Eingang ins Paradies zu sein.
Es
ist für mich ein Rätsel, woher ich die Courage genommen hatte, um diesen
entscheidenden Schritt in meinem Leben zu wagen. Ich war nie mutig genug. War
schüchtern, bin es noch teilweise, und unternehmungslustig war ich nie. So bin
ich geneigt zu glauben, dass es eine Bestimmung gibt, der man nicht entgehen
kann und der man sich nicht widersetzen kann.
Nur,
wie hoch hängen die Früchte dieses Wunderbaumes
Deutschland? Werde ich je davon pflücken können?
Vorahnungsvoll
hat Eva auch schon ihr erstes. Problem. Sie findet in diesem Eden nur mit Mühe
die Klospülung.
Wehmutsvoll
bemerke ich all die Köstlichkeiten in den Regalen. Ich würde uns gerne etwas
kaufen, doch ich weiß nicht, wie man an die Dinge herankommt. Selbstbedienung,
wie funktioniert das? Eva, nackt und frisch aus dem Nichts entsprungen, war wohl genauso orientierungslos gewesen.
Es
fällt mir auf, dass wir erst heute miteinander sprechen. Bisher haben wir
unsere Gefühle und Gedanken totgeschwiegen. Auch jetzt sprechen wir nur
einsilbig belangloses Zeug.
Wir
fahren durch Bayern.
Schönfrisierte
Landschaften und helle Häuser überall. Als hätte hier kein heißer Sommer
gewütet wie in Rumänien. Als hätten sich die Bayern vom Himmel extra ein
Stückchen saftiges Grün verdient.
Kein
Mensch, soweit das Auge reicht. Keiner winkt uns zu. Lebt hier überhaupt
jemand? Das könnte auch eine fremde Galaxie sein. Wir scheppern in diesem engen
Bus durch die Geografie und die Bewohner dieser Traumstätten sind sicherlich in
ihren Raumschiffen unterwegs.
Im
Radio spricht plötzlich jemand über "fremdenfeindliche
Ausschreitungen"... Mein armes Herz schrumpft. Ich versuche in den Augen
der Mitreisenden Halt zu finden. Da ist alles stumpf.
Eine
Odyssee beginnt, von Naila nach Memmingen, von Memmingen nach Rastatt. Von hier
nach Straßburg, dann nach Duttweiler. Schon spät am Abend.
Der
Bus spuckt seine Gäste nach und nach aus. In eine ungewisse Zukunft.
Wir
schlafen die zweite Nacht im Wagen. Bin riesig erkältet. Mein Hals schmerzt und
ich habe keine Medikamente. Und friere.
Nachts
spaziere ich alleine durch die Lastwagenreihen der Raststätte. Ich bin steif
vom vielen Sitzen und Liegen. Achtundvierzig Stunden sind wir im schlecht
gelüfteten Kleinbus unterwegs, ungewaschen, müde. Die längste Reise meines
Lebens.
Ich
versuche, an zuhause zu denken. Alles ist so fern. Meine Gefühle scheinen
immerhin im Tiefschlaf zu sein. Und ich bin froh, dass sie mir nicht zusätzlich
das Leben erschweren. Wie ich mich kenne, wird das große Erwachen kommen, wenn
ich es gar nicht erwarte.
Die
Menschen, die mir in der Nähe der Raststätte begegnen, sind kein Maßstab für
ein ganzes Volk. Sie sehen durch mich hindurch. Keiner schaut mich an. Keiner
fragt mich was. Ich werde immer kleiner.
Ich
bin nicht mehr in Rumänien, wo dir jeder, der dir begegnet, etwas mitzuteilen
hat. Ich bin eine Fremde. Fühle mich wie ein Sonnenstrahl, der sich auf einen
Gletscher verirrt hat.
Mein
Fremdsein wird mir plötzlich bewusster.
10.09.
92. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur Autobahn, Autobahn, Autobahn…
Der
Fahrer irrt durch die Stadt, wo unser Heim stehen soll. Dann sind wir im
Aussiedlerübergangswohnheim. Das klingt genauso lustig wie das Wortspielen in
entfernten Kindertagen: "Donauschifffahrtskapitänskajütentürangel…'' Nur
lachen kann ich nicht drüber.
Vor
uns ist ein großer Hof. Auf beiden Seiten stehen moderne Gebäude. Alles sieht
sauber und aufgeräumt aus. Paar Leute stehen im Hof herum, sonst merkt man es
kaum, dass man in einem Aussiedlerwohnheim ist. Als ob ich je gewusst hätte,
wie ein Aussiedlerwohnheim auszusehen hat.
Der
Fahrer, die letzte Bindung zur Heimat, fährt den Bus durch das Tor zurück. Als
wenn ein Stück von mir mitgehen würde. Als Fremden habe ich ihn vor zwei Tagen
kennengelernt und ich könnte ihm jetzt wie einem verlorengehenden Kind
nachweinen.
Wir
stehen verwirrt und unbeholfen da.
Dann
beginnen die deutschen Mühlen zu mahlen. Diesmal ist unser Korn dabei. Keine
Zeit für Gefühle.
Das
Hasten von einem Büro ins andere beginnt. In kurzer Zeit habe ich einen Stapel
Papiere in den Händen. Alles geheimnisvolle Rätsel, die ich entwirren muss.
In
"unserem" Zimmer angekommen, bekomme ich zuerst einen Schock. Eine
sechsköpfige russische Familie haust schon hier. Die Luft ist stickig, das
Hochbett beängstigt mich.
Paul
wählt das untere Bett. Ich habe mich für oben entschieden. Als ob ich eine
andere Wahl gehabt hätte…
Bin
so müde, dass ich mich angekleidet auf meine Etage schmeiße. Gedankenlos, in
einem einzigen Gefühlchaos gebettet.
Russische
Sätze fliegen uns um die Ohren. Egal. Ich verstehe selbst von meinem eigenen
Leben noch nichts.
Wir
müssen schnell zur ärztlichen Kontrolle. Seit mehr als zwei Tagen sind wir
ungeduscht, staubig und schlimm anzusehen. Ich habe noch diese schreckliche
Erkältung ins Gesicht geschrieben.
Ich
entschuldige mich bei der Dame vom Roten Kreuz.
"Das
kennen wir,'' heißt es lakonisch.
Mir
klingt es wie ein Vorwurf in den Ohren. Sie schaut uns in den Mund und auf den
Bauch. Wir sind gesund. Wir können gehen.
Der
schale Geschmack in meinem Mund hat sich verschärft.
Das
Lager ist voller Russen und Polen. Scheinen zivilisierte Menschen zu sein. Ich
hatte Schlimmeres befürchtet.
Versuche
die kargen Reste an Russischkenntnissen hervorzukramen. Nach mehr als dreißig
Jahren ist da nicht mehr viel zu holen.
Wozu
hat man Hände und Füße?
Schicksal
nimm deinen Lauf …
11.09.92.
Heute haben Paul und ich Dienst in der Küche. Alles ist blitzblank und
ordentlich. Es macht Spaß, sich zu beschäftigen.
Es
ist normal, dass man Dinge, die einem in den Schoß fallen, nicht als
selbstverständlich anzunehmen hat. Wir leben auf Kosten eines Staates, für den
wir noch keinen Finger krümmen konnten. Da hat man ein schlechtes Gewissen.
Die
Abwechslung tut gut, obwohl ich mich ständig unsicher fühle, in allem, was ich
tue. Jeder Handgriff ist ein Übergriff auf mein Selbstvertrauen.
Ich
gehe zur Post. Will Briefmarken kaufen. Eine Frau steht vor mir am Schalter.
Ich drängle dicht an sie ran, wie es in Rumänien üblich war. Da war drängeln
nötig, damit der nächste Kunde sich nicht dazwischen stellt und man selbst
vielleicht nichts mehr bekam, weil die Ware ausgegangen war.
Die
Frau dreht sich nach mir um, wie von einer Tarantel gestochen. Giftblitze
fliegen aus ihren weit aufgerissenen Augen.
"Die
faucht mir ins Genick. Eine Unverschämtheit!''
Ich
trete automatisch weg von ihr. Bin mir keiner Schuld bewusst, aber unglücklich.
Ein Kloß sitzt mir im Hals. Soviel Widerwillen!
Als
sie geht, sagt mir der Mann am Schalter, ohne mich anzusehen:
"Sie
müssen immer an der Markierung stehen bleiben, bis Sie dran sind.''
Ich
weiß nicht, um welche Markierung es geht. Sage kleinlaut:
"Ja,
danke. Kann ich, bitte, zehn Briefmarken bekommen?''
Erst
beim Weggehen bemerke ich den weißen Streifen am Boden. Jetzt weiß ich, um
welche Markierung es geht… Ein Schaudern lauft mir den Rücken lang. Wie viele
Markierungen wird es noch geben, bis ich nicht mehr auffalle, bis ich Teil
eines perfekt zusammengeführten Puzzles bin?
Aufgewühlt
gehe ich durch die menschenleeren Straßen. Es ist, als sei ich auf dem Mond
gelandet, wo ich nichts weiter entdecke, als die Spuren der Schritte, die mich
hierher geführt hatten.
An
der Ecke zu unserem Heim entsteht ein wunderschönes Haus. Ich komme aus dem
Staunen nicht heraus. Eine Baustelle und trotzdem kein Chaos. Alles ist in
perfekter Ordnung.
Am
Gehsteig ist ein Band von roten Pflastersteinen eingebaut. Weiß eingefasst. Ich
gehe da entlang. Wunderbar glatte Steine. Hier kann man nicht stolpern.
Ein
Fahrrad flitzt an mir vorbei. Der junge Mann im Sattel dreht sich im
Vorbeisausen um und ruft mir entrüstet zu:
"Wohl
keine Augen im Kopf, was? Das ist ein Fahrradweg!''
Ich
bin in der Nähe des Heimes angelangt. Der Mann wusste, wohin ich gehöre. Ich
bin gekleidet wie eine Ausländerin, benehme mich wie eine Ausländerin. Werde
Zeit brauchen, um mich hier auszukennen, um mich anpassen zu können. Diese
Erkenntnis tut weh.
Ich
habe erstmals Heimweh. Sehne mir einen Ort herbei, wo ich mich verkriechen
könnte, um zu weinen.
Mit
Paul haben wir hier unseren ersten Streit. Nichts Neues. Ich dachte, die neuen
Eindrücke würden uns ablenken. Die Eindrücke mögen neu sein. Wir sind noch die
alten. Ich versuche mich zurechtzufinden. Er aber ist in einem noch größeren
Tief als ich. Das zieht mich runter.
Bald
wird Lora kommen. Ahnen ihre Eltern in Italien, was wir, nein, was ich
durchgemacht habe, damit sie nachkommen kann? Der Gang nach Canossa ist nichts
im Vergleich zu den monatelangen Behördengängen in Rumänien.
Wir
wissen nicht, ob sie bleiben darf. Sie ist meine Enkelin, ich hab sie seit
ihrem Babyalter erzogen. Acht Jahre lang. Sie fehlt mir. Wenn sie abgeschoben
werden sollte, dann gehe ich mit zurück. Sie ist der Sinn meines Lebens. Ich
weiß, dass auch sie ohne mich unglücklich wäre, selbst wenn ihre Eltern, die
sich seit Ceausescus Zeiten illegal in Italien aufhalten, sie zu sich holen
könnten.
12.09.1992.
Lagerleben ist wie Luftkurort in Rumänien. Man hat zwar seine Pflichten. Das
lenkt aber ab und tut gut. Küchendienst und Bad reinigen- es gibt Schlimmeres.
Nur
das Essen! Lecker schon. Aber ungewohnt. Ich bin gebläht wie ein Luftballon.
Ach.
Hier habe ich erstmal im Leben einen richtigen Luftballon gesehen.
Faszinierend. Ich dachte, die seien seit Jules Verne längst ausgestorben. Der
bunte Pilz dort oben schien sich besser zu fühlen, als ich hier unten.
Ich
spreche mit Rumänien. Es ist in diesem Moment, als sei die Familie um die Ecke.
Es kommt keine Wehmut auf. Alles ist unwahrscheinlich.
Dann
spreche ich mit meinem Onkel aus Unna. Nach einer Stunde ist er bei uns am Tor,
samt der Tante und meinem gutaussehenden Cousin, der wie aus einem
Hollywoodfilm entsprungen zu sein scheint. Die vertrauten Gesichter muten wie
ein erfrischendes Feuerwerk in dunkler Nacht an. Das
"Fabrucklerdeutsch" klingt wie Musik in meinen Ohren. Mein Herz geht
auf.
Morgen
holen sie uns zum Mittagessen ab.
Erstmal
ist bei mir alles in Ordnung.
Wie
wird es sein, wenn das richtige Leben beginnt?
13.09.1992.
Mein Onkel wohnt in der fünften Etage des Wohnblocks in einer schönen, sauberen
Wohnung. Der Ausblick über die herbstlichen Baumgruppen ist atemberaubend
schön.
Wir
fühlen uns wohl. Als noch Bekannte aus der Heimatstadt dazukommen, ist es wie
zu Hause.
Mein
Onkel holt, wie in meinen Kindertagen in Rumänien, seine Geige hervor. Jetzt
ist er obendrauf stolzer Besitzer einer Art von elektronischer
Orchesterbegleitung. Weiß nicht, wie dieses Wundergerät heißt, das ihn noch
leidenschaftlicher geigen lässt.
Paul
hat einen Kochtopf hervorgekramt und trommelt leise vor sich hin. Das klingt
lustig. Obwohl er richtige Schweinsohren hat, gelingt es ihm, den Takt zu
halten. Wir haben eine gute Stimmung. Es wird viel gelacht.
Vielleicht
haben wir das Glück und dürfen hier in der Gegend bleiben. Das wäre schön.
Am
Nachhauseweg fährt mein Cousin uns noch eine Weile durch die Stadt. Ich bete im
Stillen inbrünstig, dass ich endlich zu Hause sein darf in diesem wunderschönen
Land.
Das
Lagerleben ist nicht das Schlimmste. Morgens um sechs Uhr aufstehen, ins Bad
gehen, frühstücken, spazieren gehen. Dann das Mittagessen und nachmittags
wieder spazieren gehen. Rätsel lösen, Zeitschrift lesen.
Manchmal
wird es laut. Das Zusammenleben mit fremden Menschen, das Fehlen einer
privaten, noch so kleinen Oase, das ist der störende Faktor.
Auf
dem Tisch im Zimmer stehen mindestens zwanzig Packungen Milch. Ich frage mich,
warum die nicht im Supermarkt bleiben wollten und mich hier mit ihrem Anblick
stören? Von der Milch komme ich seit meiner Geburt nicht mehr los, aber in
solchen Massen vergeht mir der Appetit drauf.
Es
kann auch noch schlimmer kommen. Mal sehen was die Zukunft bringt.
14.9.1992.
Paul macht den Hof sauber. Es regnet. Eine gedrückte Stimmung. Wir müssen
jetzt mehr drinnen hocken.
Ich
entschließe mich, Zimmer und Flur gründlich aufzuräumen. Der junge Russe, der
den halben Tag im Bett liegt, macht wilde Nasenlöcher, als ich das Fenster weit
öffne. Ich versuche, es zu ignorieren. Nahezu eine Woche hindurch habe ich
meine Ansprüche auf frische Luft zurückgestellt. Jetzt wird die Welt nicht
untergehen, wenn ich mal lüfte.
Um
den bösen Blick meines Bettennachbarn zu besänftigen, frage ich mit einem stark
gewöhnungsbedürftigen Russisch, was er liest. Er zeigt mir stolz eine Menge
russischer Zeitschriften. Da steht wohl manch Interessantes drinnen. Ich nehme
sein Angebot an und nehme mir welche. Obwohl ich weiß, dass ich sie nicht
durchsehen werde. Meine Augen rebellieren schon bei deutschen Buchstaben. Die
russischen Buchstaben würden mich mit drei Wochen anhaltenden Kopfschmerzen
belohnen. Über die Sowjetunion weiß ich genug. Im Moment will ich nichts mit
dem Osten zu tun haben. Wenn ich hier leben will, muss ich mich auf das
konzentrieren, was sich hier tut.
Bin
gespannt, was ich am Mittwoch erreichen werde. Ob wir von hier wegkommen?
Endlich mal ein Zimmer für uns bekommen? Und was wird mit Lora?
Die
Angst und die Verantwortung um sie erdrücken mich.
15.9.1992.
Schon wieder mit Paul gezofft. Es schwirren Gerüchten herum, dass wir alle in
den Osten kommen. Er ist todunglücklich darüber.
Ich
versuche, nicht daran zu denken. Versuche, ihn zu trösten. Als unser
"Küchenmesser" verschwindet, gibt es keine Kompromisse mehr. Er
wettert los und spricht sich in einen Tornado hinein. Ich versuchte ihn zu
beschwichtigen. Der Verlust seines schönen Messers, ein Andenken an seinen
Onkel, macht mein Bemühen zunichte.
Ich
fühle mich schrecklich einsam. Er vielleicht auch. Dass wir nicht zueinander
finden, macht mich unendlich traurig. Wir haben nichts Besseres als uns. Und
wir verschwenden uns an belanglose Dinge.
Meine
Erkältung hält an. Mir ist übel und dann habe ich noch diese Geldsorgen zu
ertragen. Ich komme mit dem Essen in der Kantine nicht zurecht. Öfter muss ich
mir etwas Leichtes kaufen. Doch alles ist viel zu teuer. Bald ist unser Geld
dahin. Wo finde ich Trost und Kraft?
16.9.1992.
Wir sind in Deutschland.
Sind
wir in Deutschland? Das, was ich hier an Deutsch höre, habe ich auch in
Rumänien gehört. Es muss noch ein anderes Deutschland geben. Eins, das ähnlich
ist, wie ich es erträumt habe. Dahin möchte ich.
Morgen
werde ich einen Termin haben, um das mit Loras Aufenthaltsgenehmigung zu
klären. Es wird dauern und wir werden noch hier bleiben müssen. Die Anwesenden
ziehen langsam davon. Andere kommen nach. Bei mir muss es immer anders laufen,
als bei dem Rest der Welt. Ich bin der geborene Pechvogel.
Wenn
ich die Taschen jetzt so voll mit Münzen hätte, wieviele Menschen das Gleiche
von sich denken, wäre das Telefonieren keine Qual, denn Münzen habe ich nie
genügend. Und ich weiß auch nicht, woher ich sie nehmen könnte.
Ich
setze mich auf eine Bank, die am Weg zur Kapelle, im hinteren Bereich des
riesigen Hofes steht. Sehe dem Treiben zu. Und frage mich plötzlich, was will
ich eigentlich hier?
17.
09. 1992. Heute ist Donnerstag. Mein Termin wurde bis Dienstag aufgeschoben.
Bis Lora da ist. Dieser Herr Rath ist nett gewesen. Am nettesten unter all den
Beamten.
Habe
mit Lora telefoniert. Morgen fährt sie mit den Mädels der Schule für
Kinderkrankenschwestern, die nach Deutschland eingeladen wurden, von Temeswar
ab. Ich hatte das mit meinem gewesenen Chef abgesprochen, weil ich sie bei
unserer Ausreise wahrscheinlich kaum über die Grenze bekommen hätte. Ich hatte
zwar alle nötigen gerichtlichen Schritte unternommen, die zu ihrer Ausreise mit
uns benötigt wurden, doch ich traute den Grenzlern in Rumänien nicht.
Für
meine Schwiegermutter wird der Abschied von der Urenkelin schwer werden.
Wir
haben mit unserer Ausreise viele Wunden geschlagen. In uns und in unseren
Angehörigen und Freunden.
Ich
war nie ein Mensch, der vorwärts, nur vorwärts wollte, um jeden Preis. Nach
fünfzig Jahren eingesperrt sein in einem kommunistischen Land, eingesperrt,
weil ich Deutsche bin, hatte sich in mir der Wunsch entwickelt, mal über meinen
Zaun zu schauen. Sehen, wie die Welt an einem anderen Ende aussieht. Das eintönige
Plätschern des Lebensflusses mal über Hindernisse, die ich selbst in Angriff
nehmen kann, zu lenken. Die eigenen Kräfte spüren. Prüfen, ob ich alleine
zurechtkomme, nachdem dreißig Jahre hindurch andere mein Leben bestimmt hatten.
Und ich den Eindruck hatte, alleine nie etwas auf die Reihe zu bekommen.
H.
ist wunderschön. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst sehen soll. Es ist eine
andere Welt. Gut wäre es, ein Fahrrad zu haben. Die Beine schmerzen mir vom
vielen Laufen. Meine Schuhe sind unbequem.
Eine
besondere Anziehungskraft für uns hat das Einkaufszentrum. Das Geld reicht
nicht, um all das zu kaufen, was wir benötigen. Habe trotzdem eine Barbiepuppe
für Lora gekauft. Darüber wird sie sich freuen.
18.9.1992.
Heute fährt Lora von zuhause weg. Ich frage mich, ob ich das Richtige getan
habe, sie aus diesem Zuhause herauszureißen.
Wo
hätte ich sie zurücklassen sollen? Weder meine Schwiegermutter, noch ihre
Großmutter mütterlicherseits hätten ihr das bieten können, was sie von mir
bekommen hat, die Liebe und Fürsorge. Die sie vermissen würde, wenn ich nicht
mehr für sie da wäre. Ihre Mutter hatte sie früh entbehren müssen. Die
Ersatzmutter auch noch zu verlieren, wäre für sie zu hart gewesen.
Ich
erwarte sie sehnsüchtig. Mit ihr wird mein Leben wieder einen Inhalt haben.
Wir
fühlen uns heute beide unwohl. Paul hat die Nacht durchgeschnarcht und ich habe
ihn stets geweckt. So gab es für uns beide kein Ausruhen. Und jeder ist auf den
anderen böse.
Aus
150 DM besteht unser Reichtum. In Rumänien haben wir unser Geld ins Haus
gesteckt, damit es nicht heißt, wir wären davongegangen und hätten die
Schwiegermutter im Chaos zurückgelassen. Sie ist abgesichert und hat ein
schönes Zuhause. Was wird aus uns?
Heute
waren wir im Kurpark spazieren. Wie wunderschön und sauber alles ist. Dieser
Park war es wert, den weiten Weg hierher zu kommen. Ich kann nicht genug haben
von all dem Sehenswerten. Erst jetzt wird mir klar, wie wenig Schönes ich im
Leben erlebt hatte. Ich habe erstmals ein Glücksgefühl in mir.
Jetzt
gesund bleiben. Und Arbeit finden. Fernsehen möchte ich auch mal wieder und
kochen möchte ich gerne selbst. Der Fischsalat heute war lecker. Aber meine
arme Verdauung...
20.9.1992.
Es ermüdet mich, dass ich Tag und Nacht diese fremde Sprache ertragen muss. In
der Schule mochte ich russisch. Damals verstand ich mehr davon. Heute ist das
anders. Zu viel Polnisch und Russisch. Wenn's wenigstens eine romanische
Sprache wäre. Da läge mehr Musik in der Luft. Und ich würde was davon
verstehen.
Wenn
es für mich schwer ist, wie schwer muss es für Paul sein, der selbst Deutsch
nicht gut spricht oder versteht? Man sieht es ihm an. Er ist nervös und
ungeduldig.
Trotzdem
beneide ich ihn. Er hängt mit den Männern am Sportplatz herum, spielt Fußball,
Volleyball und er kommt mit den Menschen zurecht. Ich bin diesbezüglich
schlechter dran. Kann mich den Anderen nicht so spontan nähern.
21.9.1992.
Lora ist da. Gott sei Dank! Maria und Bettina haben sie mitgebracht.
Sie
erzählt unermüdlich, wie ein Wasserfall, von zuhause.
Ich
sehe Bettinas Gesicht. Das Entsetzen, wenn sie sich im Zimmer umschaut. Den
Wunsch in ihren Augen, zu flüchten.
Das
macht mich unglücklich. Hat viel zu großen Einfluss auf mich. Ich hatte mir
eingeredet, dass ich mich hier gut eingelebt habe. Dass ich mein Schicksal
akzeptiere. Bettina bringt alles durcheinander.
In
Rumänien waren sie alle meine guten Freunde. Deutsche aus Nordrhein-Westfalen,
die drüben großartige Dinge leisten. Dort waren wir ein Herz und eine Seele.
Hier liegen die Dinge anders. Ich fühle, wie sich eine Distanz zwischen uns
aufbaut. Sie waren dort unsere willkommenen Gäste. Wir sind hier ein neuer
Tropfen in einem allzu vollen Glas der Zuwanderung.
Meine
Freude auf Lora wird dementsprechend gedämpft.
22.9.1992.
Ach!
Termin
aufgeschoben bis zum neunundzwanzigsten.
Habe
Kopfschmerzen.
Lora
spricht vom Heimgehen. Das macht mich unglücklich. Und Paul mit seiner ewigen
Angst vor dem Osten. Ich muss mich in Stücke zerteilen. Links und rechts Trost
spenden und ich fühle, dass ich am Zerbrechen bin. Ich müsste mich in eine
Gefühllosigkeit begeben, in eine Tarnung vor Verzweiflung. Wie?
Es
gibt Momente, in denen ich laut losheulen könnte. Wie heute, als die Dame von
004 mich wie ein lästiges Insekt ansah. Diese unfreundliche Stimme, diese Kälte
im Blick. Diese Verachtung, die an ihren Mundwinkeln hing.
Wo
ist die schützende Mauer, hinter der ich es mir leisten kann, meinem
aufgestauten Schmerz freien Lauf zu lassen?
23.9.1992.
War beim Roten Kreuz. Meine Kopfschmerzen lassen nicht nach. Die Ärztin hat mir
eine Spritze gegeben und etwas scheußliches zum Trinken.
Dann
kommt dieser Brechreiz.
Wunderbar
wäre es jetzt, alleine zu sein. In einem ruhigen Zimmer, um sich mal selbst
bemitleiden zu können. Und möglicherweise noch verwöhnt zu werden.
Der
Russe, der den halben Tag auf dem Bauch liegt und schnarcht, die anderen, die
ihre Bücher lesen und mit frischer Luft arg zerstritten sind, die stickige
Luft…Ich fühle, wie sich alles in mir aufbäumt.
Ruhig
Blut, meine Liebe! Nicht durchdrehen! Es wird schon...
24.9.1992.
Ich kann mich kaum vom Bett erheben. Die Schmerzen sind vor lauter Langeweile
in das Rückgrat gewandert. Kein Wunder - abends gab's kein warmes Wasser mehr
und ich duschte kalt. Es zieht überall und die Decken sind zu dünn.
Halleluja!
Unsere sämtlichen Zimmergenossen sind übers Wochenende zu Verwandten
ausgeflogen.
Ich
fühle, wie eine ganze Ladung Steine von mir abfällt.
Schnell
das Fenster auf! Besen und Wischlappen sind meine beste Medizin. Ich könnte
schreien vor Glück. Es ist, als wenn ich, wie ein Stück Papier, zerdrückt in
einer dunklen Ecke gelegen wäre und als ob grade das Schicksal mit dem
Bügeleisen glättend über mich hinwegplättet. Ich fühle, wie ich mich
entknittere und sanft und geschmeidig werde wie ein Seidenpapier in einem Poesiealbum.
Wie wenig ich brauche, um in Ekstase zu geraten...
Lora
und Paul spielen im Hof Tischtennis.
Das
reinste Paradies auf Erden.
25.9.1992.
Im Stadtplan war alles klar. Als wir den Vergnügungspark aber erreichen wollen,
finden wir ihn nicht. Müde kehren wir nachhause zurück.
Zur
Abwechslung sind mal wieder die Kopfschmerzen da. Und Halsschmerzen dazu.
Ein
anderes Rätsel. Lora spielt mit den Kindern im Hof. Sie spricht deutsch mit
ihnen. Die sprechen ihre eigenen Sprachen, verstehen kein Wort von ihr. Trotzdem
klappt es. Sie spielen und lachen miteinander. Wie macht man das? Es
funktioniert scheinbar, weil da keine Vorurteile sind.
Ich
kann der Schmerzen wegen nicht lesen, langweilige mich in der einen Ecke. Paul
in der anderen.
Noch
90 DM und wir sind am Ende mit unserem Reichtum. Es wurde zu viel genascht. Die
Verführung ist groß. Das Nichtstun muss man mit etwas kompensieren.
Dann
diese schreckliche Nacht. Diese nicht enden wollende Erkältung. Mein Hals ist
zu und ich drohe zu ersticken. Ich bekomme Panik.
26.9.1992.
Mit dem Malteser Bus wurden wir heute in den Ahrensberger Forst gefahren.
Wunderschön die Natur. Ich hätte stundenlang durch den Wald gehen können. Nur
das russische Geplapper, das Nicht-dazu-gehören-Gefühl, das hat mir das Ganze
verdorben.
Ich
bin trotz des Ausflugs schlecht gelaunt. Etwas liegt in der Luft. Ich mag
dieses Herbstgefühl nicht, wenn sich das Licht so kalt anfühlt.
Viele
Neuankömmlinge sind da. Wahrscheinlich überfluten sie auch unser Zimmer. Da
kommt die Angst aufs neu hoch.
27.9.1992.
Der Vergnügungspark! Das Schönste, das ich bisher erlebt habe. Ich komme mir
wie im Märchen vor. Was Mensch und Natur da gezaubert haben! Ich möchte nicht
mehr weg. Endlich höre ich Laute, die ich verstehe. Kinder und Erwachsene - ich
möchte sie am liebsten umarmen. Es ist unglaublich, wie leicht ich mich fühle.
Und
der Schmetterlingsgarten! Fantastisch.
Lora
kann von dem wunderschönen Spielplatz nicht genug bekommen.
Wir
haben nur einen winzigen Teil Deutschlands gesehen. Wie viel Schönheit liegt
noch überall verborgen? Ich freue mich darauf.
Unser
Ausflug war recht teuer. 25 DM weniger haben wir in der Tasche. Aber es hat
sich gelohnt.
28.9.1992.
Schöne Bescherung heute morgen. Vor dem Frühstück, schon in der Kantine
angelangt, gehe ich schnell dahin, wohin der Kaiser notgedrungen zu Fuß gehen
muss. Gewohnheitsmäßig benetze ich ein kilometerlanges Klopapier sorgfältig mit
den vorhandenen Putz- oder Desinfektionsmitteln und wische den Sitz ordentlich
ab. Dann lege ich den Rest der Materie in Stücken darauf. Zusammen ungefähr so
lang, wie die Entfernung von der Erde zum Mars. Aus Angst, ich könnte mir
irgendwas nach Hause holen, was ich nicht brauchen kann.
Dann
gehe ich zurück zum Tisch, wo Paul und Lora frühstücken. Hole den Becher und
gehe in die Mitte des großen Saales, wo der Kessel mit dem heißem Wasser steht.
Als
ich zurückkomme, kugeln sich beide vor Lachen. Ich bin beleidigt, weil ich
nicht weiß, was an mir so komisch ist.
Am
Ersticken nahe, sagt Lora, ich hätte hinten am Hosenbund eine wippende
Klopapierschleife, die ich durch die Kantine spazieren geführt habe.
Ich
bin stinksauer. Dass sie mir nicht gleich Bescheid gesagt hatten und böswillig
warten mussten, bis ich zurückkomme.
Das
hämische Lachen fällt ihnen den ganzen Tag nicht aus dem Gesicht.
Empörend.
29.9.1992.
Paul sieht freundlicher in den Tag. Das will was heißen. Obwohl wir hier
dreizehn Insassen sind, verstehen wir uns alle gut. Ein Außenstehender könnte
das nicht begreifen. Wir Mensch haben die Fähigkeit, uns den schwierigsten
Situationen anzupassen. Man sollte es nur wollen.
Unser
Termin wurde auf morgen verschoben. Viele kommen in den Osten. Ich habe so ein
Gefühl, dass wir keine Ausnahmen sind. Wenn es das Schicksal oder der liebe
Gott so will, werden wir uns fügen müssen. Wer weiß, vielleicht ist es für uns
gut, so wie es kommt.
Zwei
Nächte habe ich kaum geschlafen. Alle Taschentücher aufgebraucht.
Die
Erkältung lässt nicht locker. Und nachts diese Atemnot …
Lora
scheint sich eingelebt zu haben. Hat schon Freunde und fühlt sich scheinbar
pudelwohl. Welch eine Erleichterung für mich. Auch mit dem Sorgerecht hat es
geklappt. Sie hat die gleichen Rechte als Aussiedlerin wie wir. Gott sei Dank!
30.
09.1992. Ein Stück Himmel ist eingebrochen und uns auf den Kopf gestürzt. Bis
zuletzt habe ich noch gehofft, dass wir hier bleiben können. Nein - wir müssen
nach Brandenburg, in eine Ortschaft an der polnischen Grenze. Nenne es mal hier Sorgdorf. Dazu in eine Juri
Gagarin Straße. Alle Achtung vor dem ersten Menschen im All. Ich bewunderte
ihn. Aber ich hätte gerne so manches hinter mich gelassen. Auch wenn's Gagarin
wäre. Mal ehrlich, jetzt fühle ich mich, als würde ich nach Russland deportiert
werden. Mein Entsetzen ist groß genug.
Vor
allem die Vorstellung, dass Tante sich drüben ins Fäustchen lachen wird, wenn
sie das hört.
"Hab
ich doch gewusst, dass sie versagt", wird sie herumerzählen! Das wäre mir
am peinlichsten.
Wie
weit doch der Einfluss derer reicht, die unser Leben bewusst oder unbewusst
mitbestimmen oder mitbestimmten. Grenzen sind da keine Hindernisse.
Ade,
schönes Deutschland. Ade, schönes H. Es war ein kurzer Traum. Ich bedanke mich!
Paul
hat drei Flaschenbiere hinunter gekippt. Ich habe meine Beruhigungstabletten
geschluckt. Nach einer Weile sage ich mir, zum Teufel mit allem. Ich wurde in
keiner westlichen Villa in die Welt gesetzt. Woher habe ich die Dreistigkeit,
Ansprüche zu stellen, hier im Westen zu bleiben? Wenn die Ossis nicht mit
Molotowcocktails nach uns schmeißen, wird sich für uns auch dort ein Grund zum
Leben finden.
01.10.1992,Donnerstag.
Kohl
feiert sein 10. Regierungsjubiläum. Ihm verdanken wir es, dass sich "die
Tore nach Deutschland für uns weit geöffnet haben"- wie es drüben stets in
der deutschen Fernsehsendung hieß. Ich müsste jetzt ein Hochgefühl haben. Habe
es nicht.
Wir
werden in einen Bus verfrachtet. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Menschen
so still sein können. Die unendlichen Weiten zwischen H. und Sorgdorf, erwecken tiefe Bestürzung.
Ganze
drei Wochen hat mein Wahn angehalten. Der Pechvogel hat sich eingebildet, ein
Schwan zu sein. Noch immer versuche ich, mir zu sagen, ich träume nur. Es ist
ein Albtraum und bald wache ich auf.
Kann
nicht sprechen, weil mir der Kloß im Hals die Stimme verschlungen hat. Wir sind
arme Wichte, Wachs in den Händen derer, die unser Schicksal bestimmen. Der
Wegweiser mit dem Ziel wurde uns wohlwollend am Wegrand eingerammt. Den Schmerz
beim Straucheln über Stolpersteine müssen wir selbst überwinden. Dazu gibt's
keine Gebrauchsanweisung.
Die
Landschaft scheint mir düsterer zu werden. Man fühlt die Nähe der Erde. Es gibt
kein Paradies mehr.
Die
Hoffnung stirbt zuletzt. Als wir uns dem Berliner Ring, was immer das sein mag,
nähern, bilde ich mir ein, der Bus wird halten und wir können hier bleiben.
Etwas westlicher. Bitte nicht so sehr nach dem Osten!
Der
Busfahrer legt eine Kassette ein. Ich bin sogleich fasziniert von der Stimme,
die durch den Bus schwebt. Und es klingt deutsch.
Ich
sitze hinter dem Fahrer und kann jedes Wort verstehen. Mein Weinen schlägt in
Lachen um. Es ist wie eine Befreiung. Der Fahrer sagt zu dem Beifahrer:
"Die
versteht deutsch.''
Ich frage, wer da auf dem Band spricht.
"Jürgen
von der Lippe,'' heißt es.
Ich
bin dem Himmel dankbar, dass es einen Jürgen von der Lippe gibt, der in diesem
Moment keine Ahnung hat, wie viel Gutes er für einen verzweifelten Menschen
gerade tut.
Es
ist stockdunkel, als wir ans Ziel gelangen.
02.10.1992.
Ich versuche diesem Albtraum gute Seiten abzugewinnen. Es ist vergeblich. Unser
Zimmer ist annehmbar. Aber der Rest…
Das
Bad sieht fürchterlich aus. Es hat von der gegenüberliegenden Wohnung auch
einen Zugang und somit wird es von uns und unseren Nachbarn genutzt. Hier wurde
seit ewigen Zeiten nicht mehr renoviert oder geputzt. Die Wände- kahler,
verschmutzter Beton. Ich habe so einen düsteren Ort wohl kaum gesehen.
Zumindest nicht darin gehaust.
Genauso
sieht die Küche aus. Am Herd scheint eine jahrhundertealte Fettschicht zu
verkrusten. Es tröstet mich nicht, dass ich in Deutschland bin. Ich habe
ungepflegte Wohnungen noch nie ertragen. Ich verzichte lieber aufs tägliche
Brot, aber einen sauberen Tisch möchte ich haben.
Nachts
liege ich wach, hustend und weinend. Tagsüber will ich mir unsere Niederlage
nicht ansehen lassen. Lora und Paul sollen meine Niedergeschlagenheit nicht
mitbekommen. Die kommt noch von der Karl-Marx-Straße und der Straße der
deutsch-sowjetischen Freundschaft, die die Ortschaft schmücken. Das klingt wie
ein böser Sturm, den man schon erlebt hatte.
Ich
kann mir vorstellen, dass die schmucken Häuser des Ortes schöne, saubere Zimmer
haben. Dass die Menschen, die hier wohnen, ein normales Leben führen und
genauso zufrieden sind, wie die im Westen. Vielleicht, wenn ich sie kennen
lernen werde, werden alle meine Zweifel verfliegen.
Erstmal
blutet mein Herz noch.
03.10.1992.
Unsere Nachbarn sind sicherlich Angehörige einer Sekte oder religiöse Fanatiker
überhaupt. Jeden Tag wird von Punkt 18 bis 20 Uhr gesungen. Laut und
markerschütternd. Ich weiß nicht, ob es dem lieben Gott gefällt, dass wir dem
Wahnsinn nahe sind. Ich kann erstmal verstehen, wie Menschen zu Amokläufern
werden. Das ist ein Heim für Viele. Da müsste jeder auf die Anderen Rücksicht
nehmen.
Aber
nein. Störenfriede überall, Geschrei, schlechtes Benehmen. Ich staune nicht
mehr über das, was man Fremdenfeindlichkeit nennt. Auch wenn ich diese kritisch
betrachte und Gewalt nie meine Akzeptanz bekäme.
05.10.1992.
Ich versuche auszurechnen, wie viel diese Unzahl an Unterlagen kostet. Ich habe
einen so riesigen Stapel an Papieren in Rumänien in all den fünfzig Jahren
nicht besessen. Und täglich kommt noch was dazu.
Vielleicht
kann man in einer gut funktionierenden Gesellschaft nur so eine gewisse Ordnung
schaffen. Ob das Chaos in Rumänien auf das fehlende Papier zurückzuführen ist?
06.10.1992.
Heute Termin bei der Beratungsstelle. Tolle Sachbearbeiterinnen. Sind sogar zum
Scherzen aufgelegt. Haben es mir überlassen, zu entscheiden, in welches der
zwei Übergangswohnheime, die zur Wahl stehen, wir ziehen wollen. Einen Tipp mit
Augenzwinkern habe ich bekommen. Das kommt daher, dass sie mit mir mal
ungehindert deutsch kommunizieren können.
Wir
kommen nach, nennen wir es mal Wohldorf in Brandenburg. Es soll ein frisch
renovierter Bau sein. Aussiedler gab es dort noch nicht. Wir werden den Anfang
machen.
Auch
etwas Geld haben wir bekommen. Das ist kein gutes Gefühl, fürs Nichtstun
bezahlt zu werden. Kann so was zur Selbstverständlichkeit führen? Ich hoffe,
nicht.
Jetzt
denken wir daran, wie uns die Bevölkerung dort annehmen wird. Mulmig ist mir
zumute. Lasse mir aber die gute Laune nicht verderben. Paul und Lora tragen es
auch mit Gelassenheit.
07.10.1992.
Wir haben unseren verlorenen Optimismus zurück gewonnen. Alle drei sind wir
guter Dinge. In diesen paar Tagen haben wir gemerkt, wie nett die Leute hier
sind. Wir haben tolle, hilfsbereite Menschen kennengelernt.
Zwar
hatten wir an einem Tag einen Betrunkenen im Hof, der laut "Ausländer
raus!" geschrien hat. Die Angestellten hier haben uns versichert, dass der
nicht für alle Menschen im Osten spricht. Hoffen wir es.
Die
Spaziergänge durch den Ort haben mir gezeigt, dass es überall in der Welt
Schönes zu entdecken gibt. Dass es überall in der Welt Menschen gibt, die aus
demselben Stoff sind wie wir. Nach dieser Erfahrung könnte ich mich überallhin
wagen. Selbst nach Russland.
Es
wird mir klar, dass, wenn die Kreise, die dich umgeben, sich erweitern, sich
auch dein Bewusstsein erweitert, dein Geist. Und je mehr du von der Welt
mitbekommst, umso freier wirst du, weil du auch immer neue Perspektiven zum
Vorwärtskommen erahnst.
Ich
habe mich wiedergefunden.
08.10.1992.
Der Herr von Roloff von der evangelischen Seelsorge hat sich um uns bemüht. Hat
in Köln wegen unseren Kindern nachgefragt. Hat mich getröstet, als ich zu
weinen anfing, weil meine Kinder nicht nachkommen dürfen. Viele Menschen im
Lager heißen nicht deutsch, sprechen nicht deutsch, fühlen nicht deutsch und
sind trotzdem willkommen. Warum gerade meine Kinder nicht?
Die
Menschen hier haben mir Mut gemacht. Haben mir mein Selbstvertrauen
wiedergegeben. Und ich hoffe, dass ich dank solcher Wesen einen Wirkungskreis
finden werde, wo ich etwas zurückgeben kann.
Jetzt
muss Paul seine Sprachkenntnisse vervollständigen. Dann sehen wir weiter.
09.10.1992.
Heute wurden wir in die Kirche eingeladen. Viele Aussiedler und wenige Einheimische
sind da. Die Leute gehören zu einer kleinen Gruppe aus einem benachbarten Dorf,
die mit Kaffee und Kuchen extra für uns gekommen sind. Viel Wärme kommt nicht
auf. Dafür ist es viel zu kalt. Man verständigt sich schwer. Wenn ich
vermitteln könnte, würde ich es tun. Ich will mich nicht in den Vordergrund
drängen. Fände es den anderen gegenüber unfair.
Die
paar Leute können meine Unruhe nicht dämpfen. Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn
ich an unsere künftigen Mitbürger in Wohldorf denke. In unserer Abgeschiedenheit
können wir schwer beurteilen, was in den Köpfen der Menschen außerhalb unseres
Heimes vor sich geht. Ich kann es mir nur vorstellen. Doch dieses Bild ist
nicht das, was ich mir wünsche. Vielleicht sieht die Realität anders aus.
Wir
wurden verständigt, dass wir Mittwoch nach Wohldorf kommen. Eine kleine
Verunsicherung, könnte sagen, ein Anflug von Angst durchzieht mich. Wenn man
Radio hört, kann man nicht mit einem guten Gefühl in die Zukunft blicken. Kann
sein, dass in den Medien alles dramatisiert wird. Kann sein, dass einzelne
unschöne Dinge passieren, was Ausländer betrifft.
Normalerweise
hat, zum Beispiel, ein deutscher Autofahrer genauso viele Dinge zu befürchten.
Er setzt sich täglich ins Auto, fährt los und weiß nicht, ob sein potentieller
Unglücksbringer, hinter ihm oder vor ihm, sein Schicksal wird.
Jeder
von uns ist irgendeiner Gefahr ausgesetzt. Sie hat bei jedem nur einen anderen
Namen. Gefeit ist niemand von Gewalteinfluss. Egal welcher Natur. Ich könnte
mich damit trösten. Wenn nur nicht Hass im Spiel wäre, was uns betrifft.
10.10.1992.
Seit einem Monat sind wir in Deutschland. Private Kontakte zu Deutschen stehen
noch aus. Vielleicht ist es auch gut, dass alles Schritt für Schritt passiert.
Um
meinem Sohn in Italien Fotos von seiner Tochter schicken zu können, haben wir
ein Fotoapparat gekauft. Lora soll ihren Eltern nicht fremd werden.
Der
Verkäufer ist ein netter Mensch. Verwickelt mich in ein Gespräch. Ich sage ihm,
dass wir Aussiedler sind. Er staunt, wie gut ich deutsch sprechen kann. Steckt
Lora eine Menge Spielzeuge zu. Ich bin zu Tränen gerührt.
Es
ist ein Erlebnis, das mir sagt, hör nicht auf fremdes Geschwätz. Mach deine
eigenen Erfahrungen. Es gibt überall auf der Welt nette Menschen. Doch sie
können dir immer nur das zurückgeben, was du ihnen gibst. Sagt auch das alte
Sprichwort: wie du in den Wald hinein rufst, so schallt es heraus.
Ich
stelle immer wieder fest, wie wenig ich zum Glücklichsein brauche. Nicht
Reichtum, ein Lächeln und ein gutes Wort sind für mich das höchste Gut.
11.10.1992.
Wir waren wieder in der Kirche. Wieder kaum Einheimische da. Nur Aussiedler.
Der Pfarrer ist sympathisch und er hält einen schönen Gottesdienst. Ich frage
mich, ob er für diese Menschen mit mangelnden Deutschkenntnissen nicht
einfachere Worte hätte wählen können. Bei so einem Gottesdienst müsste man den
Duden mit sich schleppen, wenn man der deutschen Sprache nicht mächtig ist.
Lora
und Paul sind von diesem Kirchgang nicht begeistert. Beide haben davon nicht
viel verstanden.
Anschließend
schauen wir Lora zu, wie sie mit den Kindern herumtollt. Kind müsste man sein.
15.10.1992.
Heute fahren wir unserem neuen Zuhause entgegen.
Es
scheint eine unendliche Reise zu werden. In verschiedenen Ortschaften hält der
Bus und es steigen ganze Familien aus. Die Heime machen auf mich einen
desolaten Eindruck. Ich weiß nicht, ob ich in einer solchen Umgebung leben
könnte. Zum Glück steigt die Familie, die uns täglich mit ihren spirituellen
Gesängen malträtiert hatte, auch aus. Wenigstens ein Lichtblick.
Je
weiter wir kommen, desto schöner wird die Gegend. Ich bin von manchen
Ortschaften entzückt.
Als
wir in einem Waldstück in der unmittelbaren Nähe von Wohldorf gelangen, hält
der Bus.
Es
gibt einen Gott! Das einstöckige Haus sieht schön und gepflegt aus. Wir werden
freundlich empfangen. Hier haben wir alle drei ein einziges Zimmer. Aber es ist
sauber. Die Küche und das Gemeinschaftsbad für die Frauen, die am Flur liegen,
sind tadellos. Ist alles neu renoviert. Kein Grund zur Panik.
Es
gibt saubere Bettwäsche und ich schlafe, nach einem Monat Lärm, und Hektik, und
Verzweiflung, zufrieden und entspannt ein.
Ende Kapitel 1