Selbstgespräche mit Samantha- Kapitel 8


Kapitel 8

01.07.1994. Die Bondars auf Besuch. Zur Übernahme der Wohnung mussten sie noch mal hierher kommen. Sie wohnen und essen bei uns. Bin froh darüber, aber schön wäre es gewesen, wenn sie sich angemeldet hätten.
Ich sollte mit den Senioren nach Rheinsberg fahren und habe mich darüber gefreut. Jetzt wird nichts draus.
Die Zimmerlein schaut böse drein, als ich rüberlaufe, bevor der Bus abfährt. Sie hat mit mir gerechnet. Sie unterstellt mir, dass ich immer eine Ausrede suche, um nicht mitmachen zu müssen. Ja, das tu ich ja öfter, aber diesmal tut sie mir unrecht.
Ich könnte ihr sagen, dass ich Besuch habe. Sie kennt die Bondars ja auch. Aber ich habe keine Lust, mich bei ihr zu rechtfertigen. Sie ist ein Mensch, der mir immer eine Alternative zum Alleinsein und der Langeweile anbietet. Dafür bin ich ihr dankbar. Aber nicht verpflichtet. Trotzdem fühle ich mich danach wieder mal schuldig. So recht weiß ich aber auch nicht warum.
Als der Bus wegfährt, bin ich unglücklich.

02.07.1994. Die Bondars gehen wieder. Die kleine Traurigkeit, die aufgekommen ist, weicht wieder, als Uschi anruft. Wir sollen morgen nach Köpenick kommen. Das bringt mich wieder auf schönere Gedanken.
Dann erzählt mir Lora, dass sie ihre Fahrradprüfung mit sehr gut bestanden hat. Ich versuche jetzt alle trüben Gedanken zu verbannen und mich auf morgen zu freuen.

03.07.1994. Uschi hat alles schön bunt und freundlich eingerichtet. Bunter geht es ja nicht mehr. Das hat mit ihrer einst düsteren Wohnung in unserem Haus nichts mehr zu tun. Man fühlt sich hier sogleich wohl. Mit Raumspray und Parfüms hat sie es sogar geschafft, dass im Haus eine angenehme Luft vorherrscht. Bei Kaffee und Kuchen wird dann entspannt geplaudert.
Timo, stelle ich fest, ist ein prima Gesprächspartner. Uschi ein warmherziger Mensch. Schade, dass sie wieder so weit weg wohnen.
Ich staune nicht schlecht, als ich erfahre, dass Uschi Timo praktisch aus der Gosse aufgelesen hat. Er war arbeitslos, hatte seine Wohnung verloren und schlief auf der Straße. Sie hatte ihn aufgepäppelt, ihn auf den rechten Weg gebracht. Zwar ist sie zehn Jahre älter als Timo, aber klein und zierlich, wie sie ist, passen sie gut zusammen.
Auch das Wiedersehen mit Frank und seiner Familie ist schön. Für mich wird Frank immer unser Held bleiben, dem ich dankbar sein werde, solange ich lebe.
Timo hat im Hof ein Planschbecken aufgebaut. Anna und Lora haben mal wieder Spaß miteinander.
Wir werden eingeladen, hier zu schlafen. Leider geht das nicht, weil wir unsere Fenster zuhause offen gelassen haben. Nur Lora bleibt hier.
Timo, der uns mit seinem Wagen abgeholt hat, bringt uns wieder nachhause.

04.07.1994. Gestern war es schön. Heute fühle ich mich seltsam allein. Abgesehen davon, dass ich Rückenschmerzen habe, habe ich den Eindruck, dass das Schicksal alles fein säuberlich, vor allem was nach Freund anmutete, aus meinem engeren Blickfeld entfernt hat. Kein Mensch weit und breit, mit dem ich mich aussprechen, ein wenig über allerlei plaudern könnte, der Zeit für mich hätte. Als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet.
"Kaffeeklatsch" bei Zimmerlein. Ich habe keine große Lust auf diese Runde. Ich bin den ganzen Tag über und 365 Tage im Jahr zwischen alten Leuten. Da muss ich meine Freizeit nicht auch noch mit ihnen verbringen. Und das nicht weil es alte Leute sind. Es gibt nur keine Gemeinsamkeiten.
Zimmerlein ist wieder etwas echauffiert. Ist mir aber egal. Sie geht in zwei Stunden wieder nachhause und ich bleibe weiterhin unter den alten Menschen. Ich lass mir mein Leben von niemand mehr bestimmen. Besonders nicht von Menschen, die mir innerlich fremd sind. Zimmerlein ist zwar eine gute Sozialarbeiterin, aber ich empfinde sie eher als berechnend, als warmherzig. Kann sein, dass ich mich irre.
Im engen Kreis, verengt sich auch der Sinn. Schwiegerfamilie hatte ich genug. Jetzt will ich es nicht mehr zulassen, mich in Kreisen bewegen zu müssen, die mir aufgedrängt werden. Dann lieber allein sein.

5.7.1994. Hab ich heute einen Schreck bekommen. Es klingelt. Da stehen Frau Ewald und die Frau Leun vor unserer Wohnung.
Frau Ewald meint, ihr sei ihre Brieftasche geklaut worden. Und Frau Leun bekräftigt, dass auch ihre Tasche gestohlen wurde. Wo denn, will ich wissen. Na, zu Hause. Die Taschen wären da gewesen und dann nicht mehr. Sie wollen, dass ich die Polizei rufe.
Ich bekomme einen schrecklichen Schock. Ich war so oft in ihren Wohnungen. Mal konnte die eine einen Schrank nicht öffnen, mal war die andere fast nackt auf die Straße gegangen und ich konnte sie noch rechtzeitig davon abhalten. Oder die eine hatte Angstgefühle eine ganze Nacht hindurch und ich saß händchenhaltend neben ihr.
Die verdächtigen doch nicht mich? So verwirrt wie beide sind. Ich vertröste beide und rufe die Schwiegertochter der Frau Ewald an, um ihr mitzuteilen, dass die Brieftasche der alten Frau abhanden gekommen ist und sie erwartet, dass ich die Polizei rufe.
Bloß nicht! Ich soll mich beruhigen. Eine Brieftasche besitze die alte Frau Ewald seit langem nicht mehr. Man hat ihr Geld und Brieftasche abgenommen. Sie hätte so was gar nicht im Haus.
Ich bin recht erleichtert. Und merke erst heute, wie man sich bei der Hilfe für diese alten Leute selbst einen Strick drehen kann. Ich werde in Zukunft etwas aufmerksamer sein müssen.

7.7.1994. Verdammt schwer ist das Putzen mit der Hitze im Nacken. Die letzte Etage in unserem Haus scheint ein Nagel an meinem Sarg zu sein.
Ich würde in diesen Tagen gerne Rockefeller oder Thurn und Taxis heißen.
Es klingelt. Frau Zion steht an der Tür mit Augentropfen in der Hand. Ob ich so freundlich wäre, ihr die Tropfen zu verabreichen.
"Aber gern. Kommen Sie rein."
Sie sieht sich um.
"Oh, wie schön sauber Sie es haben. Und die Gardinen! So weiß! Meine sind schon recht vergilbt."
Ich walte meines Amtes. Sie sitzt gemütlich im Sessel und erzählt. Sie war über vierzig Jahre Reinigungskraft in einem großen Berliner Kaufhaus. Darum hat sie einen geschärften Blick für Sauberkeit. Doch jetzt ist sie allein und keiner kümmert sich um sie.
"Mein Sohn ließ mich sogar entmündigen. Dem bedeute ich nichts."
Jetzt begreife ich. Nicht die Augentropfen, das Einsamsein trieb sie zu mir runter.
Sie rollt mir ihre dreiundneunzig Lebensjahre wie einen endlosen Teppich auf. Wiederholt Geschichten, bis ich sie freundlich drauf aufmerksam mache, dass ich noch etwas Dringendes zu tun habe. Und verspreche ihr, dass ich die zwei Wochen, solange sie ihre Augentropfen angeblich nehmen muss, jeden Tag zu ihr komme.

11.7.1994. Bin bei Dr. Landreke nebenan. Er plauscht mit mir mehr über persönliche Dinge als über mich. Kein Patient sonst in der Nähe, hat er wohl Langeweile. Er verschreibt mir eine Beruhigungstablette und dann bin ich wieder entlassen. Irgendwie bin ich verärgert und weinerlich. Hatte was anderes erwartet. Weiß selbst nicht was.
Frau Zion ist sehr geschmackvoll eingerichtet. Man sieht, dass hier eine aktive Greisin am Werk ist. Angefangen von den teuren Gardinen, die allerdings schon vergilbt sind, ist die Wohnung perfekt aufgeräumt. Sie beginnt wieder mit den alten Geschichten. Ich höre ihr eine Weile zu und verabschiede mich dann, als es mir zu viel wird.

16.07.1994. Paul hat sich meiner erbarmt und ist mit mir und Lora in den angrenzenden kleinen Park gegangen. Ich setze mich auf eine Bank und sie beide spielen Tischtennis. Es ist mal ein anderes Gefühl, als immer nur Wände um sich haben. Diese Position des unbeteiligten Zuschauers ist genau das Richtige für mich. Dabei sein und doch meine Ruhe haben. Das habe ich als noch schöner empfunden, als den Besuch in Köpenick, der mich mehr ermüdet hatte, als ich gedacht hätte.

18.07.1994. Wieder wahnsinnige Schmerzen im Hinterkopf. Auch sonst tut mir alles weh. Kommt wohl daher, dass ich nachts wegen der Hitze fast nackt schlafe und das bei offenem Fenster.
Ein gläubiger Christ würde sagen, Gott schickt mir soviel Leid, um mich zu prüfen. Warum muss ein Gott, der allwissend ist, mich testen, wo er doch wissen müsste, wo meine Grenzen liegen? Könnte er es nicht einfacher machen? Und mir zeigen, wo's langgeht, wenn man seinen seelischen Frieden finden will?

19.07.1994. Lora muss täglich zum Verbinden der Wunde am Knie. Diese Wunde hatte sie sich zugezogen, als wir zu Kathrin nach Wohldorf fuhren. In Potsdam ist sie, ich weiß nicht mehr wie, aus der noch fahrenden S-Bahn gehüpft und hingeklatscht. Zuerst sah die Wunde am Knie harmlos aus, infizierte sich aber irgendwann. Und jetzt, nach allerlei Behandlungen ist sie noch immer nicht geheilt.
Frau Zions Sohn klingelt und bedankt sich, dass ich mich um seine Mutter kümmere. Er macht mir nicht den Eindruck, als wäre sie ihm egal. Die alte Dame kann sehr resolut sein und sicherlich lässt ihr Sohn sich nicht alles gefallen.

20.07.1994. Habe für den 27. eine Tagesreise nach Rügen gebucht. Paul mault mal wieder. Ich hätte Benno vergessen, der aus Rumänien kommt und uns vielleicht besuchen wird. Und wir sind nicht zu Hause. Außerdem hätte Timo ihn gebeten, ihm beim Autoreparieren zu helfen. Das sagt er mir mit der Miene eines Strafrichters. Ich bin danach kaum mehr so richtig froh über diesen Ausflug. Ich war noch nie die Nr.1 in seinem Leben gewesen. Warum ich das auch in den seltenen Momenten, wenn ich entspannen könnte, fühlen muss, ist die große Frage.
Es kommen immer erst die Bennos, die Timos und Franks, dann kommt Paul, dann lange nichts, dann die Kinder und irgendwann bin auch ich da in seiner Wahrnehmung. Freundschaft ist etwas Schönes. Ich freue mich immer, wenn er Anschluss hat und sich wohl fühlt. Doch brauch ich auch mal etwas für die Seele, wenn sich nun mal keine Freunde um mich reißen, denen ich was reparieren sollte.
Statt dass er sich mal sagt, ja, wird meiner Frau auch mal gut tun, unter Menschen zu sein. Oder, ich bin froh, mal mit der Familie was zu unternehmen- nein. Ach, da muss er ja paar Stunden die Freunde vernachlässigen…
Und ich kann mich wieder schuldig fühlen, dass ich so unnachsichtig bin.

21.7.1994. Heute fühle ich mich ganz gut. Um sicher zu sein, dass ich mich ganz gut fühle, müsste ich eigentlich auf die Straße gehen. Ist die Angst noch immer da?
Abends 10:00 Uhr. Wir sitzen beim Fernseher. Das Telefon klingelt. Eine Frau fragt, ob sie mit Margarete Nicolis spricht. Nein, sage ich, ich heiße Elisabeth. Ob ich das "Lenau Lyzeum" absolviert hätte und wann? Ja das habe ich. Es war in 57, 58.
Dann gab sie sich zu erkennen. Es ist Gerda Hansen. Eine gewesene Klassenkameradin.
Im Oktober sei Klassentreffen in München, zu dem ich herzlichst eingeladen bin.
Ich gebe an, dass meine finanziellen Möglichkeiten für eine solche Reise nicht ausreichend sind. Kein Problem, einigen von uns muss man eh unter die Arme greifen. Besonders jenen, die direkt aus Rumänien kommen. Oder es in Deutschland noch schwer haben.
Teils freue ich mich über diesen Anruf. Teils aber bin ich auch sehr erstaunt, dass die mich in Rumänien nie zu einem Klassentreffen eingeladen hatten. Sie hatten meine Adresse nie.
Komisch, seit ich in Deutschland bin, finden mich schon sehr lang vergessene Menschen problemlos. Sogar die einstigen Klassenkameraden, denen ich während der Schulzeit schnuppe war, weil sie was Besseres waren als ich.
Dieses "Margarete" stört mich noch mehr. Nichtmal meinen richtigen Namen wusste meine einstige gute und so sympathische Klassenkameradin. Obwohl wir in der gemischten Klasse von 40 Schülern nur zehn Mädchen waren. Ich kann mich an jede Einzelne mit Vor- und Nachnamen erinnern.
Ich weiß, nach München würde es mich nicht ziehen, auch wenn ich noch so viel Geld hätte. Im Grunde genommen würde ich da fast nur unbekannte ältere Leute treffen. Ob da die Erinnerung an die Schulzeit eine Rolle spielen würde? Ich bin darauf nicht neugierig. Denn es war nicht die schönste Zeit meines Lebens. Einziges Arbeiterkind unter Professoren- Anwalts- und Reicheleutesprößlingen. Ich, nur kleinlaut, menschenscheu, schlecht gekleidet, ungeschickt. Einzig allein meine witzigen Gedichte über unsre Lehrer gingen genau so lautlos während der Unterrichtsstunden unter den Bänken von Hand zu Hand.
Dann musste ich noch zwei Monate vor der Matura die Schule aufgeben, weil mir ein Holzstück beim Holzhacken das rechte Augenlicht ausgelöscht hatte. Kam an einem kalten Februarnachmittag von der Schule nach Hause. Die Eltern waren nicht da. Es war eisigkalt und ich beschloss, Holz zu hacken, damit ich Feuer machen kann. Da flog mir ein Holzstück mit voller Wucht auf das rechte Auge und weg war mein Sehvermögen. Konnte nichts mehr lesen. Bekam riesige Kopfschmerzen dabei.
Fast erleichtert war ich damals, dass mir dieses Malheur passierte. Denn  meine Mutter weinte täglich, weil sie mir kein Kleid zum Abschlussball kaufen konnte und ich wie erstarrt vor dem großen Rätsel stand, wie ich da bestehen sollte, ohne mich zu blamieren.
Die Anderen sind fast ausnahmslos nach der Hochschule irgendwelche höhergestellte Personen geworden. Ich brachte es bis zur Lohnbuchhalterin, die ihre Arbeit nur machen konnte, wenn sie ihre Schmerz- und Beruhigungstabletten schlucken konnte.
Es kommt wieder alles hoch. Und grade jetzt kann ich diese Erinnerungen nicht gebrauchen.

26.07.1994. Einmal Hitze von außen und einmal Hitze von innen- das ist zu viel. Ich glaube, ersticken zu müssen an soviel Glut.
Bei Frau Zion mache ich eine interessante Entdeckung.
Immer wieder verschwinden die Aushänge der Hausverwaltung aus dem Eingangsbereich. Ich war mir sicher, dass es Frau Schreiber war, die sie beseitigte. Frau Schreiber klagte, dass es die Polen sind, die in der ersten Etage wohnen und Frau Lindenberg und Ella beschuldigten sich gegenseitig.
Jetzt habe ich den Sündenbock. Ich suche eine Zeitung, um die Apfelschalen, die einen unangenehmen Geruch verbreiten, einzupacken und sie in den Müll runter zu bringen. Unter der Zeitung finde ich den letzten Aushang, der nach kaum einer halben Stunde von der Pinnwand verschwunden war.
Ich wedele mit ihm vor Frau Zions Augen und drohe mit erhobenem Zeigefinger. Ob das hilft die kleine Papierelster zu entmutigen, kann ich jetzt noch nicht beurteilen.

27.07.1994. Mit viel Mut und Erwartung geht's heute an die See.
Frühmorgens am Alex holt uns der Bus ab.
Im Bus komme ich mir vor wie ein Backhähnchen im Gefrierfach. Es ist viel zu kühl, im Vergleich zu draußen.
Doch die Eindrücke lassen alles relativieren.
Herrliche Prignitz. Wallende Kornfelder auf dem Buckel der Landschaft. Kleine Waldstreifen im Goldgelb der Weizenfelder. Hie und da ein Baum, von Stürmen komisch oder malerisch zurechtgezupft. Seen mit Seerosenaugen. Wiesen. Und wieder Felder mit Korn, mit Sonnenblumen, die uns tausendfach zulächeln. Das ist meine Welt. Das mutet nach Heimat an.
Rügen, Saßnitz, Binz.
Als ich aus dem Bus steige, mit eiskalten Füßen, schlägt mir eine solche Hitzewolke entgegen, dass ich plötzlich mein Herz bis an den Hals klopfen höre. Ich bekomme kaum Luft. Ich drohe, die Herrschaft über meinen Körper zu verlieren. Ich muss stark bleiben. Nicht den Kopf verlieren.
Versuche mich auf die herrlich weißen Villen zu konzentrieren. Wir ziehen den anderen nach.
Strandpromenade und Promenadenmusik. Das Bild und die Atmosphäre dieses Ortes würden mich, wenn ich mich nur besser fühlen würde, ungemein ansprechen. Es ist eine so ganz andere Welt, als die, die ich bisher kannte.
Paul und Lora gehen hinunter an die See, ziehen sich aus und gehen ins Wasser.
Ich versuche ein schattiges Plätzchen zu finden, von wo aus ich sie beobachten kann. Vergeblich. Ich unterlasse es.
Lora geht immer weiter ins Wasser. Ich kann sie kaum noch sehen. Paul, statt sie im Blickfeld zu behalten, schaut nur narzisstisch auf seinen eigenen Körper herunter und sieht nicht, wie das Kind sich in Gefahr begibt.
Ich rufe vergeblich. Er kann mich nicht hören. Mit letzter Kraft wate ich durch den Sand, immer mit der Angst, ich könnte Paul nicht mehr erreichen und Lora ist verloren.
Als er sich dann endlich, nach meinen verzweifelten Worten, Lora zuwendet, meine ich sterben zu müssen. Ich kann mich kaum zurückschleppen.
Die ganze Zeit hindurch fühle ich mich unbeschreiblich schlecht. Ich kann mich erst nach Stunden auf der Rückreise wieder erholen.
Doch als wir in Mitte aus dem Bus entlassen werden, schlägt mir die ganze Schwüle der Großstadt entgegen.
Wir verirren uns. Ich weiß nicht, wo wir sind und ich weiß nur eins, wenn ich nicht bald einen kühlen Ort finde, werde ich kollabieren.
Ein Hotel ist meine Rettung. An der Rezeption bekomme ich ein Glas Wasser und noch eins, das ich mir über den Kopf kippe. Die Dame ist so freundlich und ruft ein Taxi.
Es ist, als wäre mir alles Blut aus meinem Körper in den Kopf gestiegen. Erst Stunden danach kann ich mich erholen.

28.07.1994. Unerträglich warm. Wobei unerträglich darauf hinweist, dass man schon gestorben ist. Aber soweit ich noch lebe, heißt es, ich ertrage es noch. Nur, wie lange?

29.07.1994. Ich leide unsagbar.

01.08.1994. Radio, Fernsehen, Zeitung sind nur da, damit ich das Wetter verfolge. Heute sind es 39° und schwül zum Umkippen.
Frau Schwepper hatte mich vergangene Tage gebeten, wenn es mir recht ist, einmal pro Woche bei ihr sauber zu machen.
Als ich klingle, öffnet sie. Sie ist völlig nackt. Scheint sie aber nicht so zu stören wie mich und ich frage mich, wenn es der Postbote gewesen wäre? Kein erbauender Anblick für einen jungen Mann, das klapprige Knochengerüst in aschgrauen Falten verpackt zu sehen.
Vor Hitze kriege ich kaum Luft, als ich mir ihre Wohnung vornehme.
Sie steht dabei in einem dünnen Bademantel und beobachtet jeden Schritt von mir. Auch ohne ihre Argusaugen hätte ich es mir nicht leicht gemacht.
Als ich fertig bin, sagt sie:
"Alle Achtung, Frau Niki, jede andere Putzfrau hätte für das Gleiche doppelt soviel Zeit gebraucht, schon um ihre Chancen, etwas dazuzuverdienen zu vergrößern."
Wir hatten uns auf zehn Mark die Stunde geeinigt. Ich habe für die kleine Wohnung etwa fünfzig Minuten gebraucht, um sie in jeder Ecke zu putzen. Bin müde und verschwitz und warte auf meinen Lohn. Sie aber schlägt mir vor, sie gibt mir als Entgelt für meine Arbeit eine " kaum gebrauchte Decke, die mein verstorbener Mann so geliebt hat."
Ich versuche, meine Enttäuschung nicht zu zeigen und nehme diese Wunderdecke an, um sie später im Keller als Sperrmüll zu entsorgen. Ich fühle mich wie ein begossener Pudel. Nicht des Geldes wegen. 10 DM machen mich nicht reicher. Aber wieder ließ ich mich über den Tisch ziehen. Von einem alten nackten Weib. Erniedrigend!
Da ich merke, wie anstrengend diese Frau sein kann, muss ich mir was einfallen lassen, um ihr für die nächste Woche schonend eine Absage zu erteilen.

02.08.1994. Heute von meiner einstigen Bürokollegin Rodica einen Brief bekommen. Bin erschüttert, wie schlecht es ihr geht. Ich kann mein Gewissen nur mir einem 20 DM- Schein beruhigen. Mehr habe ich auch nicht. Hoffentlich klauen sie den nicht aus dem Brief, den ich ihr gleich schreiben werde.

03.08.1994. Benno und Irina auf Besuch. Er war der Chef meines Mannes in Rumänien. Jetzt wohnen sie in Rostock.
Gott sei Dank, gab es eine kleine Abkühlung, einen frischen Wind, sonst hätte ich sie wie Frau Schwepper empfangen müssen.
Irgendwie erwartet jeder von uns Wunder. Irgendwie denkt jeder, wir haben es geschafft und wir können jetzt allen den Weg ebnen. Es liegt wie ein Druck auf mir, dass auch Benno denkt, ich könnte bewirken, dass er nach Berlin kommen kann.
Es ist trotzdem schön, wieder mit jemandem aus der Heimat zu kommunizieren, was Neues zu erfahren.

06.08.1994. Endlich wieder angenehmes Wetter. Ich kann es kaum fassen, dass dieses endlose Leiden ein Ende hat.
Frau Ludgers hat mich zu einem Kaffe eingeladen.
" Weil Sie und ihr Mann so freundlich und hilfsbereit sind."
Sie ist eine elegante, erhabene Erscheinung. Mit ihrem kupferroten Harr, der modischen Brille und ihrem taktvollen Auftreten war sie mir von Anfang an aufgefallen. Sie sprach mich freundlich an, hat sich aber nie länger als paar Minuten mit mir unterhalten.
An der Einrichtung sieht man, dass sie einmal bessere Tage erlebt hatte. Dass sie aber stets am Vorsatz, die Wohnung zu putzen, scheitern mag.
Der teure Teppich ist besonders reinigungsbedürftig. Die weißen Möbel erwarten eine minutiöse Säuberung und die schönen Plastiken einen Staubwedel.
Was ich denke, scheint sie zu erraten.
"Ich weiß, meine Wohnung würde eine Grundreinigung verdienen. Aber ich kann das nicht mehr und fremde Menschen dulde ich nicht um mich herum."
Kann sein, dass wir seelenverwandt sind, denn ich kann sie gut verstehen.
Es ist ihre Wohnung, ihr Leben und ich wende mich ihr zu, um den Menschen Ludgers näher kennenzulernen.
Weit gefehlt.
Sie lässt durchblicken, dass sie über sich nichts erzählen wird. Stattdessen passiert etwas, was noch nie passiert ist, seit wir in Deutschland sind. Sie erkundigt sich genau über unser Motiv, nach Deutschland gekommen zu sein, wer wir waren und sind, wie es uns geht.
Nach einer Stunde verabschiede ich mich.
Für mich war das eine Auszeichnung. Wenn sie keine fremden Menschen um sich duldet, so ist sie über ihren Schatten gesprungen, um mich einzuladen. Das hat gut getan.

08.08.1994. Habe heute die Fenster der unteren vier Etagen geputzt. Ist mir recht warm und übel geworden, aber ich habe etwas geleistet.
Im Fernsehen sehe ich die Kinder aus Ruanda. Sie haben Augen, die nichts mehr sagen. Keine Trauer, kein Lebensfunke da. Als hätten sie keine Seele. Sie sitzen allein, verwaist inmitten der verpesteten, nach Lawawüste anmutenden Gegend. Kein Dach überm Kopf, kein Wasser, keine Nahrung. Keiner da, der ihnen über das krause Köpfchen streichelt. Ich könnte heulen.

09.08.1994. Manchmal habe ich den Eindruck, ich stecke in einem Kleid, das mir zu eng geschneidert wurde. Nein, es ist eine zweite Haut, aus der ich nichts wie raus möchte. Doch sie ist an mir fest gewachsen. Ich wehre mich vergeblich.

13.08.1994. Timo hat Lora mit nach Köpenick genommen. Ich erlebe diese Momente, wo ich Lora in guten Händen weiß und sie nicht da ist, oftmals wie eine Erleichterung. Nicht wenn sie in der Schule ist, oder bei Riecke zum Spielen. Sondern, wenn sich andere Menschen um sie kümmern und ich nicht diese ewige Verantwortung spüre. Dann ist es, als würde eine Last von mir fallen. Oder als hätte jemand zumindest einen Teil der Bürde von meinen Schultern und meinem schlechten Gewissen genommen.

15.08.1994. Habe mich zu einem Beratungsgespräch mit einer Psychologin in der Beratungsstelle, nahe von zuhause, in der Achillesstrasse angemeldet.
Fahre mit dem Taxi hin.
Selbsthilfegruppe, lautet ihr Rat. Doch ich weiß nicht recht, wie so eine Selbsthilfegruppe funktionieren soll. Muss ich mir da das Jammern aller Anwesenden anhören? Zieht mich das nicht noch mehr hinunter? Ich würde es vorziehen unter "normalen" Menschen zu sein und mich von denen anstecken lassen, von all dem, was eben ein "Normaler" zu bieten hat. Nur fürchte ich, dass mich erstmals weder die Leidensgenossen, noch die Normalen erreichen können. Ich sehne mich nach sozialen Kontakten, zugleich aber flüchte ich vor solchen.
Ich müsste erstmals mit mir ins Klare kommen. Dann brauch ich weder die Normalen, noch die weniger Normalen mehr.
Ach, ist dieses Leben verworren. Oder auch nicht. Im Kopf hat sich was verirrt, verwirrt, verwickelt. Wie entknote ich das alles?
Nachmittags kommt unser Nachbar, der Sessler, samt Lebensgefährtin. Das Gespräch, nicht schlecht. Aber ich habe einen Fehler begangen. Das Rauchen in der Wohnung erlaubt. Paul raucht auch viel, aber zumindest macht er das vor der Tür. Als Sessler uns spät am Abend verlässt, hustet Lora mit mir um die Wette. Der Hals kratzt fürchterlich und ich muss mich ständig räuspern und habe ein ständiges Schluckbedürfnis. Ist ja schrecklich. Das großzügige Lüften hilft nicht. Die Wohnung stinkt wie ein quadratischer Aschenbecher.

16.08.1994. Schreiben von der Beratungsstelle. Die Selbsthilfegruppe beginnt ihre Tätigkeit am 08.09. von 20 bis 22Uhr.
Ich müsste dreimal den Bus wechseln und nachts alleine durch Berlin flanieren. Ich kenne Berlin nachts nicht. Ich fürchte schon den Gedanken daran.
Also wird daraus nichts.
Irgendwie mutiere ich zu einer Prinzessin auf der Erbse. Es gibt Möglichkeiten, meiner Situation zu entfliehen, aber ich kann mich mit keiner anfreunden. Ich will und ich kann nicht. Als hätte man Lust einen Marathon mitzulaufen und hätte kurz vorher die Beine einbetoniert bekommen.

17.08.1994. Es ist der reinste Wahnsinn. Gegenüber wird ein Haus gebaut, nebenan wird was angebaut, der Hof wird neu gepflastert und auf der Straße wird gebuddelt, was das Zeug hält. Kräne und Baumaterialien überall.
Positiv denken, Lisa. Wenn ich nur meinen Ohren was Gescheites zuflüstern könnte. Erstmals taub bleiben, ihr Lieben. Erstmals weghören. Aber wohin hören? Denn ich habe den Eindruck, ganz Berlin ist eine einzige Baustelle.
Frau Ludgers steckt mir einen Briefumschlag zu.
" Ich mag es, wenn ich auf dem Balkon stehe und das Bild des blühenden Gartens vor mir habe. Danke für Ihre Mühe."
Als ich dann den Umschlag öffne, bin ich sprachlos. Es sind 100DM drin.
Darf ich denn das Geld behalten? Das ist doch zu viel.
Ich muss mir erst vergegenwärtigen, dass diese Frau irgendwo das Bedürfnis hat, unverbindlich einen Kontakt mit Menschen zu haben. Und wenn ich jemandem etwas schenke, dann würde ich mich beleidigt fühlen, wenn mein Geschenk mir zurückerstattet wird. Sie wollte an mich herantreten, ohne dass ich ihr zu nahe komme, sonst hätte sie mich wieder eingeladen, eine Tasse Kaffe mit ihr zu trinken.

20.08.1994. Sind bei Frau Steiner, Sesslers Lebensgefährtin, zu Besuch.
Eine schöne, helle und geräumige Wohnung. Herrliche Aquarellen an den Wänden, keineswegs billige Ölbilder, allerlei geschmackvolle Gegenstände in der Wohnung verstreut. Dazu Grünes in Hülle und Fülle.
Sie ist etwas verhaltener und viel unsicherer als vor Tagen bei uns.

Der arme Sessler wird hier kurz und bündig an die frische Luft gesetzt, wenn er rauchen will.  Auch habe ich den Eindruck, dass er hier nicht viel zu sagen hat. Obwohl er die meiste Zeit bei ihr wohnt, habe ich den Eindruck, dass das eine Zweckgemeinschaft ist und keinesfalls die große Liebe.
Es ist schön hier, trotzdem muss ich eine Beruhigungstablette nehmen. Ich weiß nicht, wieso ich so aufgewühlt bin. Glaube aber, dass mich zu laute Gespräche aufregen. Und Frau Steiner hat ein sehr kräftiges Organ.

22.08.1994. Man freut sich auf den Sonntag eine Woche lang. Dann ist er da und man stellt fest, dass es der langweiligste Tag der Woche ist. Die Arbeit fehlt. Dann ist der Montag da und man schält sich so schwer aus diesem Sonntag heraus. Er haftet noch in allen Poren, trotz Langeweile und einiger Sorglosigkeit.

23.08.1994. Vor Tagen habe ich von meinem Arzt ein Hormonpräparat bekommen. Es sollte mir über meine Symptome hinweghelfen. Das Einzige, das diese Tabletten bewirkt habe, sind Akne. Wie eine Pubertierende sehe ich aus. Akne auf Rezept, sozusagen. Sonst alles beim Alten.

24.08.1994. Anderthalb Stunden mit Hella telefoniert. Wir haben 50 Wohnungen im Haus. Bis sie alle Mieter kritisiert, verhöhnt und besprochen hat, bin ich am Ende meiner Kräfte.
Mein Gesicht ist rot angelaufen. Ich schwitze wie in einer Sauna und mein Kopf brummt wie ein Düsenflugzeug.
Warum tue ich mir so was nur an? Wieso kann ich mich so schlecht wehren? Seit sie mich nicht mehr besucht, bombardiert sie mich mit Anrufen. Und ich will ihr nicht noch dieses nehmen. Warum in aller Welt, denn nicht? Bin ich ihre Nanny?

25.08.1994. Frau Engler aus Kirchdorf ist auf Besuch.
Als sie erfährt, dass ich an diesen Ängsten leide und kaum auf die Straße gehe, schlägt sie mir vor, sie bis in den Tiergarten zu begleiten.
Es ist zwar trüb, aber etwas schwül. Ich gehe nur ungern mit. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen.
Im Park scheint es mir noch schwüler zu werden. Die Luftfeuchtigkeit macht mir zu schaffen. Ich kann kaum mitsprechen, denn ich bekomme nur schwer Luft.
Als ich wieder zu Hause bin, bin ich dann doch froh, dass ich mich verführen ließ.
Schade, dass ich nicht jemanden habe, der mir jeden Tag einen kleinen Rippenstoß verleiht, damit ich mich drauf besinne, dass es noch was anderes gibt, als nur in der Wohnung zu sitzen. Alleine klappt es eben nicht.
Lora hat heute ihren ersten Schultag. Sie freut sich weniger darüber. Ich desto mehr. Ich sah mit Besorgnis, wie sie sich all zu oft vor dem Fernseher wohler gefühlt hatte als sonst wo. Ich fürchte, dass sie mich kopiert. Ich weiß, dass Erziehung nicht pausenloses Einreden auf ein Kind bedeutet, sondern ein Vorleben dessen, was man von seinem Kind erwartet. Und ich bin zurzeit kein gutes Beispiel. Das belastet mich doppelt.

29.08.1994. Montags habe ich immer ein schlechtes Gewissen wegen Zimmerlein. Sie wartet auf mich und ich tu so, als vergesse ich den Mittagstisch. Ihr viel zu lautes Gehabe und ihre Herrschsucht wirken wie ein Schild auf mich. Ein Schild hinter dem sie sich verschanzt und nur drauf wartet, dass andere ihr die Kastanien aus dem Feuer nehmen. Und das unter ihrer Fuchtel. Ich kann in meinem jetzigen gesundheitlichen Zustand aber so was nur schwer ertragen. Wenn sie wenigstens ein Mensch mit ein wenig Humor wäre. Den Humorvollen verzeihe ich alles ganz schnell. Ist sie aber nicht.

3.9.1994. Paul hat ein großes Problem mit einem Arbeitskollegen. Der mobbt ihn anscheinend. Ich versuche ihm zu erklären, dass sein Kollege vielleicht auch persönliche Probleme hat und dass er mit diesem ein Gespräch suchen sollte.
Er protestiert laut. Nichts will er mit diesem Reinhard zu tun haben. Da kann ich ihm auch nicht helfen.
Frau Leun klingelt heute an meiner Tür. Sie ist eine der ganz Lieben hier im Haus. Sie spricht wenig und huscht meistens nur an den Leuten vorbei.
Ich sei doch die Hauswartsfrau, fragt sie. Da wir schon öfter miteinander sprachen, müsste sie das wissen.
"Ja, ich bin die Hauswartsfrau, wie kann ich helfen?"
"Welchen Tag haben wir denn heute?"
"Heute ist Samstag."
Ob ich ihr denn drei Kartoffeln leihen könnte? Ich gehe in die Küche und bringe ihr sechs Kartoffeln in einer Plastiktüte.
Sie bedankt sich artig. Und trottet davon. Auf halbem Weg, als ich gerade die Tür schließen will, drehte sie sich um und fragt noch mal, welchen Tag wir denn heute haben.
"Samstag ist es, der 3. Oktober."
Dann verschwindet sie hinter der Tür zu unserem Flur.
Menschen wie sie stören mich nicht. Es ist ganz normal, dass manche Menschen im Alter senil werden. Was mich stört sind jene, die im Alter ein immer größeres Mundwerk bekommen. Und es immer dann einsetzen, wenn man es am wenigsten erwartet.
Die Frage ist nur, ist das ein kindgerchtes Umfeld für Lora? In Rumänien hatte sie auch die Oma und die Uroma in der Familie. Aber in jedem Nachbarhaus gab es auch Kinder.
Ein Orakel müsste man haben, das man befragen könnte.

5.9.1994. Wunderbar! Lora geht montags und dienstags Basketball spielen. Montags in die Schule um die Ecke und dienstags in ihre Schule. Endlich hat sie eine Beschäftigung und Bewegung dazu. Mein Gewissen ist erleichtert.
Habe in einen Kurs der Krankenkasse für Übergewichtige hineingeschnuppert. Trotzdem weiß ich, ich schaffe es eh nicht. Hingegangen bin ich zu Fuß, zurück musste ich ein Taxi rufen.
Das kann ich mir nicht jede Woche leisten.

9.9.1904 . Seit einigen Tagen leide ich an Schwindel. Immer wieder was Neues.
Genau vor zwei Jahren sind wir nach Deutschland gekommen. Einige Kleidungsstücke, drei Teller, drei Bestecke, ein Topf, drei Tassen paar Kosmetikartikel und etwas über 400 DM waren unser ganzer Reichtum. Ich frage mich jetzt, wie naiv muss ich gewesen sein, um mit nichts in die Welt zu ziehen, um etwas zu erreichen. Etwas habe ich erreicht, wenn auch keine Reichtümer. Aber was wir erreicht haben, das haben wir, Gott sei Dank, aus eigenen Kräften erreicht. Wären wir im Westen gelandet, hätten wir mehr Hilfe bekommen. Es wäre vielleicht leichter gewesen. Doch jetzt bin ich froh, dass ich niemandem etwas schuldig bin.
Zwei Jahre- eine Ewigkeit. Es ist, als sei ich schon immer hier gewesen.

10.9.1994. So schwindlig, dass ich kaum zu bis zu Tür gehen kann. Wie lange dauert das an?

12.9.1994. Paul hat endlich einen festen Arbeitsvertrag. Eine 40 Stundenwoche ab dem 1. Oktober. Wenn das kein Grund zur Freude ist! Wenn dieser Schwindel endlich aufhören würde, könnte ich wahnsinnig glücklich sein.

13.9.1994. Ich kann dieses Bohren, Schleifen, Hämmern, Brummen, Surren, Schreien einfach nicht mehr hören. Wann hat es endlich ein Ende? Dieser Lärm auf den verschiedenen Baustellen um uns herum ist einfach unerträglich. Leide ich nur darunter, weil ich so empfindlich bin?

14.9.1994. Ich glaube ich leide an Heimweh. Oder ist es nur, weil ich mich nicht wohl fühle?

15.9.1994. Lora ist nicht ein Kind, das viel erzählt. So genau weiß ich nicht, was in ihr vorgeht. Fühlt sie sich hier zuhause? Ist sie glücklich? Wenn ich irgendwelche Fragen stelle, weicht sie aus.
Ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihr einen Teil ihrer Kindheit geraubt habe. Dass ich schuld daran bin, dass sie vielleicht unglücklich ist. Ist es das Alter, oder mache ich was falsch, dass sie sich immer mehr einigelt?

24.9.1994. Frank und Sigrid sind zu Besuch gekommen und selbstverständlich Anna. Lora freut sich riesig. Und Frank freut sich auf Pauls Pizza.
Wir verbringen einen angenehmen Nachmittag miteinander. Ich noch immer schwindelig. Fürchte, ich war keine brillante Gastgeberin.
Ich sehne mich nach menschlichen Kontakten und wenn sie da sind, ermüden sie mich unsagbar. Warum ist das nur so?

28.9.1994. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich wieder mit Wischlappen und Staubtuch durch das Haus flitzen kann. Die meiste Arbeit musste ich in letzter Zeit Paul überlassen. Ich habe ständige Schuldgefühle, weil er von der Arbeit nach Hause kommt und putzen gehen muss.
Frau Ludgers hat Brustkrebs. Sie ist im Krankenhaus und bittet mich, sie zu besuchen und den Schlüssel abzuholen, damit ich ihr frische Wäsche bringen kann.
Ich bin erschrocken über diese Botschaft. Mache mich mit Paul auf den Weg zu ihr.
Im Krankenhaus bin ich geschockt. Die Frau Ludgers, die ich kannte ist nicht mehr. Habe sie seit langem nicht mehr gesehen, aber so eine Veränderung hätte ich nicht erwartet.
Ihre Haare sind grau und glatt nach hinten gekämmt. Die Brillen scheinen größer als ihr Gesicht zu sein und ich kann nicht glauben, dass es die Frau Ludgers ist. Ihre Augen sind eingefallen und muten gespenstisch an.
Sie steckt mir wieder einen Hunderter zu. Der Weg ist weit und ich soll mir ein Taxi nehmen, wenn ich wiederkomme, sagt sie.
In ihrer Wohnung ist es mir peinlich, die Sachen zu suchen, die sie haben möchte. Zwar hat sie mir genau beschrieben, was wo ist, aber jetzt, wo ich vor der riesigen Schrankwand stehe, weiß ich nicht mehr, wo ich suchen soll.
Ich bin erstaunt, welch eine Anzahl von Sachen sie hat. Unterwäsche, ganz neue, die für zehn Frauen reichen würden, Strümpfe, ungezählt viele Paare, Kleider in einer Vielzahl, wie ich es noch nie erlebt habe und von Schuhen ganz zu schweigen. Es sind meist vollkommen neue Sachen da und ich kann mir nicht vorstellen, warum ein Mensch so unsinnig viele Waren horten muss.
Ich finde mit Mühe und Not die erwünschten Sachen und bringe sie ihr auch gleich ins Krankenhaus.

01.10.1994. Besuch bei einer einstigen Schulkollegin aus der Grundschulzeit in Rumänien. Man findet sich scheinbar überall in der Welt. Ist die wirklich so klein?
Elsa und ich, wir haben uns seit etwa 40 Jahren nicht gesehen. Sie lebt seit 23 Jahren in Berlin, ist hier verheiratet. Ihre Mutter wohnt im gleichen Haus. Sie scheinen es gut getroffen zu haben. Sie und ihr Mann arbeiten, haben eine wunderschöne Wohnung. Die Mutter hat mehr Rente als wir zusammen verdienen.
Elsa ist in Vergleich zu mir sehr selbstbewusst und ich habe den Eindruck, dass sie ein wenig triumphiert.
Außerdem bin ich schockiert, welche Kraftausdrücke sie noch immer gespeichert hat. Und sie geizt damit kein bisschen.
Ihr Mann fährt uns nach Hause. Elsa kommt mit und plappert den ganzen Weg über. Sie plant schon, wohin wir miteinander gehen werden, wohin wir sie begleiten sollen. Ich fühle mich überrumpelt, genötigt, unter Druck gesetzt. Wieder will mich jemand beschlagnahmen, habe ich den Eindruck. Und alles in mir sträubt sich dagegen.
Diese Begegnung hat mich nicht besonders aufgebaut. Ich frage mich, bin ich neidisch? Doch wenn ich neidisch wäre, hätte ich die Meders in Bayern viel mehr beneiden müssen.
Fakt ist, dass ich mich an den Meders nicht habe messen müssen. An Elsas Existenz aber messe ich mich scheinbar. Natürlich möchte ich einmal erreichen, was sie erreicht hat. Ist ein wenig Neid denn so abwegig? Egal wer mir auf diese Frage eine Antwort geben könnte, es wäre nur eine Meinung. Recht haben kann kein Mensch richtig. Denn Recht hat man ja scheinbar nur in den Augen einiger, die die gleiche Meinung haben. Also gönne ich mir den Neid, ohne mir große Vorwürfe zu machen.

4.10.1994. Ich fühle mich doch schon etwas besser. Warum gehe ich nicht aus dem Haus? Ich fürchte mich scheinbar vor mir selbst. Vor meinen trüben Gedanken. Vor meiner Furcht, dass ich mich fürchten müsste.
Es müsste jemanden geben, der mich aus der Wohnung schubst. Oder ich müsste ein Motiv haben, das mich aus dem Haus lockt. Das Ausgehen müsste zu einem riesengroßen Wunsch werden.
Müsste, müsste, ist aber nicht.
Wie Rilke sagt: Es müsste mich einer führen,
                          aber nicht der Wind,
                          weil der Orte und Türen
                          so viele sind…
Das Schicksal hat mir sicherlich einige Türen geöffnet. Aber es vernachlässigt, sie zu beschriften. Ich weiß nicht, welche ich öffnen könnte, wohin sie führt. Ich bin einfach zu feige, um Risiken und Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen.

11.10.1994. Die Mieter verlangen vom mir, dass ich eine schlafende Drogensüchtige, die im Keller liegt, aus dem Haus werfe. Für mich ist das ein Problem. Ich weiß nicht, wie man mit solchen Menschen umgeht.
Ich bitte Ella, dass sie mit mir kommt.
Wovor habe ich Angst? Vor der schlafenden Frau oder vor meinem Entschluss, sie aus dem Haus zu werfen? Teils stehe ich unter dem Druck der Mieter, teils habe ich unendliches Mitleid mit dieser Frau. Das sind Situationen, die ich nicht gerne erlebe.

15.10.1994. Ella hat es mal wieder geschafft, sich zum Mittagessen einzuladen.
Wie sie das nur immer schafft, mich zu überrumpeln? Zum Glück geht sie zu einer angemessenen Zeit wieder. Ich hatte schon Angst, es wird wieder 11 Uhr abends.
Morgen sollen wir wählen. Ich habe keine Ahnung, wen wir wählen könnten. Kohl hat uns hierher gebracht, also wählen wir Kohl.
Das klingt fast so, wie wenn man sagt, Napoleon hat die Schlacht bei Austerlitz gewonnen, darum muss man ihn lieben. Zumindest als Franzose. Hat er nicht. Seine Soldaten haben es gemacht. Dabei werden die Opfer unbekannterweise schon ewig totgeschwiegen.

Kohl hat uns hierher gebracht. Ich vermute, es gibt auch hier eine Menge Opfer. Wie bei jeder Schlacht. Es könnte sogar sein eigenes Volk sein, das die Opfer bringen muss. Beim nächsten Mal wissen wir besser Bescheid.

17.10.1994. Nach einem Jahr endlich eine Entschuldigung von der Kindergeldkasse. Endlich gibt es Kindergeld. Unsere finanziellen Engpässe sind scheinbar überwunden.
Habe den Balkon weiß gestrichen. Dadurch scheint selbst das Wohnzimmer heller geworden zu sein.
Lora beim Zahnarzt. Paul hat Spätdienst. Ich genieße das Alleinsein in vollen Zügen.

18.10.1994. Ich scheine mich wieder etwas erholt zu haben. Muss akzeptieren, dass meine Kräfte nicht größer werden. Wahrscheinlich muss ich damit rechnen, dass ich schneller ermüde als früher. Trotzdem freue ich mich, dass ich einigermaßen "normal" bin. Diese Normalität hat scheinbar nichts mit der meiner Mitmenschen zu tun. Ich merke schon, dass mich einiges von den andern Erdenbürgern unterscheidet. Oder hat jeder zweite Mensch das gleiche Gefühl? Was weiß ich schon, wie sich all die Menschen fühlen, die unter meinem Fenster durchlaufen?
Ich fühle mich wieder wohler in meiner Haut. Das ist schließlich das Ausschlaggebende.

20.10.1994. Paul hat sich sehr zum Positiven verändert. Früher brachte er mich zum Wahnsinn mit dem Trinken. Danach mit der ständigen Nörgelei. Nie war ihm etwas gut genug.
Nicht dass er jetzt perfekt wäre. Das bin ich ja auch nicht. Er ist aber viel lockerer, spricht über seine Arbeit mit mehr Humor und hat manchmal sogar sehr gute Laune. Lora ist für ihn auch nicht mehr der Störenfried, wie früher. Ich höre ihn sagen, sie ist groß geworden oder, sie ist hübsch geworden. Das sind Kleinigkeiten. Aber sie fehlten mir bisher. Es schien, als wäre er ein Mensch ohne Seele. Dazu muss ich sagen, dass auch Lora sich ihm gegenüber freundlicher benimmt.

21.10.1994. Ein Wahnsinn ist das mit diesen Werbungen im Briefkasten. Mit dem Geld, das in den vielen Papieren liegt, könnte man ein Volk, wie z.B. die Chinesen, hochpäppeln.
Leider bin ich noch sehr anfällig für so 'n Zeug. Da sind viele Versuchungen verborgen. Ich könnte Vieles noch gebrauchen. Und wenn ich es vergesse, erinnern mich diese Teufelsdinger wieder daran. Ein Vorgeschmack auf die Hölle ist das. Dabei darf ich nie meinen Kontostand vergessen.
Frau Ludgers wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Sie will keine Chemotherapie. Lehnt jedwede weitere Behandlung, außer Schmerztabletten ab. Sie sei kein Versuchskaninchen.
Ich frage mich plötzlich, war ihre Annäherung an uns kalkuliert, weil sie schon bei der ersten Einladung wusste, dass sie krank und alleine ist?
Ich will es nicht ausschließen, aber es bleibt ja noch immerhin ein Beweis, dass sie uns vertraute und uns unter allen Nachbarn soviel Menschlichkeit zutraute, dass wir sie nicht im Stich lassen.

22.10.1994. Lora hat Ferien. Ich muss sehr aufpassen, dass ihr Zimmer nicht wie ein Flohmarkt aussieht. Sie hat den Hang dazu, alles liegen zu lassen. Das bringt mich zur Verzweiflung. Doch die Kraft, strenger zu sein, bringe ich auch nicht auf. Obwohl ich weiß, dass sie mir das einmal vielleicht sogar vorwerfen wird, dass ich nicht strenger sein konnte.

25.10.1994. Lora will unbedingt ins KaDeWe. Ich muss mich aufraffen, um mitzugehen. Immer wieder diese Angst. Wo ich weder die Straße fürchte, noch die Menschen, noch sonst was. Ich fürchte mich vor- ja, vor mir selbst. Dass mir auf dem Weg Gedanken kommen, die nur um mich kreisen und mich mit allerlei blödsinnigem Zeug infizieren.
Bis zur Potsdamer geht es noch. Wir sehen nach, ob das Kindergeld schon überwiesen wurde. Nein, wurde es noch immer nicht. Haben ein Jahr drauf gewartet, jetzt kommt es auf paar Tage wohl nicht an.
Wegen einer Baustelle kommt der Bus nicht. Wir gehen zu Fuß. Meine Beine schmerzen, mein Herz rast, ich schnappe nach Luft, es wird mir schwindlig, ich muss auf Toilette. Ich bin ein Wrack.
Drehe um und gehe nach Hause. Lora will aber unbedingt ins KaDeWe. Ich entlasse sie nicht gerne. So allein in der Großstadt. Aber sie bleibt hartnäckig und ich kapituliere.
Dass ich nach Hause finde, ist nur dem Umstand zuzuschreiben, dass ich diesmal mehr um Lora bange, als um mich.

27.10.1994. Eine Sendung auf ARD mit einem Pfarrer Fliege. Es ist etwas, was mich interessiert. Diese Welt ist jener Welt näher, in der ich mich geistig bewege. Das Fernsehen bietet hier so viele Varianten an Unterhaltung, aber ich habe den Faden verloren oder besser gesagt noch nicht gefunden und die meisten Dinge sind befremdlich. Vor allem die Freizügigkeit.
Ich bin kein Moralapostel. Ich verurteile die Menschen nicht, die anders fühlen und denken. Nur dass ich in meinen vier Wänden diese Szenen ertragen muss, die ich für peinlich finde, das stört mich. Das rumänische Fernsehen war irgendwie "sauberer". Doch sicherlich ist Vieles für mich auch ungewohnt. Vielleicht gewöhne ich mich auch daran, dass es so viel nackte Haut zu sehen gibt.
Frau Ludgers bittet mich, wenn ich kann, ihr paar Sachen einzukaufen. Als ich zurück bin, merke ich, wie schwach sie eigentlich auf den Beinen ist.
Kaum, dass ich aus ihrer Wohnung weg bin, kommt schon ein Anruf von ihrer Nachbarin. Wir sollen schnell kommen, Frau Ludgers schreit um Hilfe. Da sie uns ihren Schlüssel schon länger gegeben hatte, sind wir schnell in der Wohnung.
Sie liegt auf dem Boden und schreit ständig. Paul, mit seinen Riesenkräften holt sie mit einem einzigen Ruck hoch, als wäre sie nur eine Feder.
Ihre Brust, die linke Schulter und der linke Oberarm sind verbunden. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es drunter aussieht.

29.10.1994. Das Putzen fällt mir, Gott sei Dank, nicht mehr so schwer wie noch vergangene Woche. Ich hoffe, dieses Wohlbefinden hält noch einige Zeit an.
In diesen Tagen kommt mein Bruder mit seiner Familie für immer in Deutschland an. Wo er wohl hinkommt? Sicherlich auch in den Osten. Wäre schön, wenn er in der Nähe wäre.
Adrian will uns besuchen. Ich freue mich ja riesig, ihn zu sehen. Zugleich bin ich etwas besorgt, dass uns dieser Besuch in finanzielle Engpässe treiben könnte.
Ist das traurig, dass man sich nichtmal auf einen Besuch von Sohn und Bruder so richtig freuen kann.

31.10.1994. Wir müssen uns vom Finanzamt irgendwelche Formulare abholen. Paul ist mal ausnahmsweise sehr gut gelaunt. Was er selten ist, wenn wir außer Haus gehen.
Als ich dann die Formulare sehe, muss ich wohl aussehen wie die Wiederkäuerin vorm neuen Tor. Ist das ein Amtskauderwelsch! Wie können sich Menschen solchen Unfug als offizielles Kommunizieren ausdenken? Ich müsste mir von irgendwo Hilfe holen, um diese Formulare auszufüllen. Aber von wo?

1.11.1994
Paul hat seinen Nebenjob aufgegeben. Es ist zu anstrengend, um 4:00 Uhr morgens schon den Besen zu schwingen und dann müde zur Arbeit zu gehen. Zwar wird das Geld fehlen, aber ich kann von ihm nicht verlangen, dass er sich zu Grunde richtet. Zumal es auf diesem Parkplatz so zieht, als würden sich alle Winde hier ein Stelldichein geben.
Außerdem bin ich froh, dass er sich bei der Arbeit wohl fühlt und scheinbar gut eingelebt hat. Er erzählt mir, dass seine Arbeit geschätzt und er respektiert wird. Seine Meinung ist den anderen auch wichtig. Darüber bin ich sehr froh, denn die gute Laune bringt er dann auch nachhause.

3.11.1994. Ich hätte mir früher nie vorstellen können, dass mir jemand für eine gute Tat Geld zusteckt. In Rumänien half man sich eben freiwillig und unbezahlt. Hier im Haus wollte man mir schon öfter Geld zustecken. Ich bin immer auf und davon gerannt. Es war ein peinliches Theater.
Heute im Keller mit dem alten Niesar. Ich habe ihm gezeigt, wie die Waschmaschine funktioniert, da streckt er mir mit zwei Fingern diesen 10 DM Schein entgegen. Und ich hohle mir ganz ungeniert das Geld und bedanke mich artig. Ich schäme mich gar nicht.
Nur danach mache ich mir Gedanken. Bin ich schon soweit gesunken, dass ich keine Skrupel mehr habe? Ist das ein neuer Schritt zu meiner Veränderung? Bin ich, ist der Mensch im Allgemeinen ein Chamäleon? Was ist richtig, was ist falsch? Wie weit darf man gehen, ohne seinen Stolz zu verlieren? Wer entscheidet, wie weit man gehen darf? Vielleicht immer nur das eigene Gewissen. Welches Gewissen? Das, das sich in Rumänien geformt hat oder das, das sich scheinbar in Deutschland gerade umstrukturiert?
Ich quäle mich mit so vielen unnötigen Gedanken.
Frau Ludgers hält uns ordentlich auf Trab. Kaum dass wir eingeschlafen sind, klingelt ihre Nachbarin, die Ludgers schreie wieder wie besessen. Dann wissen wir, sie liegt wieder irgendwo im Bad oder im Zimmer. Paul ist gefragt.

4.11.1994. Es gibt Tage da könnte man rein verrückt werden. Mal klingelt das Telefon, mal klingelt es an der Tür. Und je mehr Menschen mich stören, desto problematischer wird es mit der Zeiteinteilung. Oft habe ich etwas vor und ein kurzes Gespräch an der Tür bringt mich total durcheinander. Ich bin recht labil geworden.
Freue mich schon auf Adrians Besuch. Obwohl ich nicht weiß, wie ich ihn beschäftigen kann. Berlin kenne ich so gut wie nicht. Es mag wohl viele Sehenswürdigkeiten geben, aber ich kenne nur wenige. Eine Schande eigentlich. Seit wir hier wohnen, hätten wir schon sehr viel mehr kennen müssen.
Wie schön wäre es gewesen, wenn er mit seiner  Frau und unserer kleinen Enkelin hätte kommen können. Die Kleine kennt uns sicherlich nicht mehr und ich verdränge sehr oft den Gedanken, dass ich nicht dabei sein kann, wenn sie aufwächst.

7.11.1994. Habe wieder eine Menge Geld ausgegeben. Schon Adrians Krankenversicherung kostet eine Menge. Habe sie ihm auch gleich zugeschickt. Welch zwiespältige Gefühle das sind, wenn ich an seinen Besuch denke.

8.11.1994. Heute habe ich den Garten in Ordnung gebracht. Ist das herrlich, draußen zu arbeiten! Schade, dass es kein normaler Garten ist. Es ist ein Hochbeet. Das Auf- und Absteigen ist schon ermüdend. Aber ich freue mich, dass es zumindest etwas Grün im Hof gibt. Sonst würden mich diese vielen Wände erschlagen.

9.11.1994. Frühling ist wiedergekommen. Die Erde ist wie ein Kind, das Gedichte weiß, viele, oh viele…
Ach, ist Rilke schön! Habe ihn erst in den letzten Jahren entdeckt. Als mir eine Nonnen aus Nordrhein-Westfalen ein Buch von ihn geschenkt hatte. Wieso haben wir in Rumänien über diesen Dichter nichts gelernt? Es ist schön, dass es einen Goethe und einen Schiller gibt. Was wäre die Welt aber ohne Rilke? Seine Gedichte leihen mir irgendwie Flügel.
Frau Ludgers wird ein Problem. Sie hat mittlerweile einen Pfleger. Wenn sie was braucht, ruft sie aber uns an. Der Pfleger steht dabei und Paul dreht sie im Bett um, hilft ihr ins Bad, füttert sie und pflegt sie, währen der Pfleger von ihr nicht beachtet wird.
Scheinbar schmerzt es sie weniger, wenn Paul sie anfasst, weil er mit seinen Kräften halt schneller und exakter zupacken kann.
Ich bewundere seine Geduld, obwohl es ihn stört, wenn er nachts aus dem Bett geholt wird und um fünf wieder aufstehen muss, um zur Arbeit zu gehen.

10.11.1994. Karl hat mich verzweifelt angerufen. Wie wir einst aus A, wurden sie aus Rastatt verbannt. Kommen irgendwo an der tschechischen Grenze unter. Ich hoffe für Wally, dass sie eine ordentliche Betreuung bekommt. Obwohl ich denke, dass ihr Krebsleiden schon zu weit fortgeschritten ist, als dass man ihr noch helfen könnte.

Meine Schwägerin wurde an Krebs behandelt als wir noch in Rumänien waren. Ich arbeitete in der Nähe des Krankenhauses. Brachte ihr täglich etwas zu essen, weil das Essen im Krankenhaus ungenießbar war. Vielleicht ist damals erstmals der Gedanke in mir gereift, nach Deutschland auszuwandern. Wenn ich diese Misere, diese erdgraue Bettwäsche, diese Trostlosigkeit in den uralten Räumen sah, hatte ich nur einen Wunsch. Ich wollte nicht einmal in solchen Räumlichkeiten sterben. Die waren und sind noch immer wie ein Vorgeschmack auf die Hölle.

Ich weiß, was sie jetzt durchmachen. Selbst wenn man gesund und munter ist, ist dieses Gefühl des Verstoßenwerdens kaum auszuhalten. Erst, wenn man vielleicht nur noch wenige Monate zu leben hat!
Seit langer Zeit fühle ich mich wieder sehr wohl in meiner Wohnung. Ich finde es sogar recht kuschelig. Bin glücklich, dass ich geborgen und beschützt bin in diesem kleinen Hafen.

11.11.1994. Vor Tagen hat mir Carina ein Buch geschickt. Über seelisches Leiden und so Sachen. Ich habe kurz reingeschaut, aber vom Lesen fürchte ich mich wie der Teufel vor dem Weihrauch. Habe es beiseite gelegt.
Heute habe ich es hervorgekramt und ein wenig durchflogen. Und ich merke, dass mir so viel Leid erspart geblieben wäre, wenn ich schon früher gewusst hätte, dass es anderen Menschen auch so geht wie mir. Angstgefühle, mangelndes Selbstvertrauen, Antriebslosigkeit. Ich fühlte mich schuldig, dass ich so anders war als alle anderen um mich herum. Ich dachte, nur ich hätte solche Symptome. Ich dachte, ich werde sicherlich einmal verrückt. Und kein Mensch, auch kein Arzt klärte mich darüber auf. In Rumänien gab es keine Psychologen. Zumindest für Normalsterbliche.
Diese Erkenntnis beruhigt mich irgendwie. Ich bin nicht allein so urkomisch. Die ganze Welt ist irgendwie ein Irrenhaus.
Ich werde irre. Ich habe Frau Ludgers ins Krankenhaus bringen lassen, weil wir es mit ihr nicht mehr schaffen. Es überfordert uns körperlich und seelisch.
Die Schlüssel übergebe ich dem Rettungsdienst, bevor ich ihre Brieftasche mit einer Menge Geld in eine Schublade lege.
Eine Stunde, nachdem ich aufatme, klingelt die Nachbarin der Ludgers. Diese schreie in ihrer Wohnung wie am Spieß. "Herr Niki, Herr Niki!"
Ich falle aus allen Himmeln.
Gehe nach oben und stelle fest, die haben sie tatsächlich nach Hause gebracht, sie ins Zimmer geschoben und ihre Schlüssel nicht wieder abgegeben. Und sie schreit ohne Pause, dass man sich am liebsten die Ohren zuhalten möchte.
Paul versucht mit einem Handwerker das Schloss aufzukriegen, aber es geht nicht. Erst mit einem Bohrer können sie das Schloss durchbohren und nach einer Stunde, in der wir von den Schreien fast verrückt geworden sind, können wir zu Frau Ludgers rein.
Ich rufe einen Notarzt.
Keine Chance. Sie lässt den Arzt nicht an sich ran." Herr Niki" darf sie anfassen, sonst keiner. Der Arzt ist ratlos.
Dann können wir sie gemeinsam überzeugen, dass sie sich wieder ins Krankenhaus einweisen lässt. Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich fürchte, sie könnte jede Minute wieder zurückgebracht werden.

15.11.1994. Frau Dr.Orban, die mich fast jeden Tag besucht, hat mir angeboten, mir jeden Tag aus dem Buch von Carina etwas vorzulesen. Hat auch gleich zwei Kapitel geschafft. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, genau hinzuhören und dabei nicht eingeschlafen bin. Denn von früher kenne ich das. Wenn andere lesen, dann kann ich mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken gehen ihre eigenen Wege und ich bekomme gewöhnlich kaum was vom Gelesenen mit.
Diese Gewohnheit stammt noch aus der guten alten kommunistischen Zeit, als wir jeden Tag irgendeine unnötige Sitzung hatten, wo wir regelmäßigen Unfug aufgetischt bekamen.

16.11.1994. Schon seit einigen Nächten gibt es kaum Schlaf für mich. Tagsüber bin ich dann mal besser, mal schlechter gelaunt. Fühle mich dementsprechend.
Selbst das sogenannte Wohlfühlen ist eher ein komisches Garnichtsfühlen. Als wenn das Unwohlsein sich bloß einen Schleier umgelegt hätte, um anders auszusehen. Sich anders anzufühlen.
Ich glaube, dass eben das das Leben ausmacht. Dieses Gut und Schlecht. Ich frage mich, könnte ich nur das Gute ertragen, wenn es ewig währte? Wenn ich keinen Vergleich hätte, wie sich gut und wie sich schlecht anfühlt?
Frau Ludgers ist verstorben.
Ich kann es kaum fassen, wie schnell es mit dieser armen Frau abwärts ging. Eine schreckliche Krankheit dieser Krebs.

19.11.1994. Loras Geburtstag. Es gibt zwar keine Geburtstagstorte wie früher, aber ich habe ihr einen schönen Geburtstagstisch aufgebaut, mit gekauftem Kuchen, Blumen, zwei Puppen und zwei Büchern mit Zitaten berühmter Menschen aus aller Welt.
Lora freut sich über alles. Dann lesen wir gemeinsam in den Büchern und sprechen über diese Weisheiten. Und haben ein paar Stunden richtig Spaß an der Sache.

22.11.1994. Dicke, schwarze Wolken hängen wie Tränensäcke am Himmel. Wie ein Weltuntergang mutet das an.
Ich bin auch richtig verstimmt.
Ich denke an blauen Himmel, an Blumenduft, an gackernde Hühner. Ich sehe unseren Weingarten, das freie Feld dahinter. Um diese Zeit konnte ich weit ins Land schauen. Fast bis zum Horizont gab es nur Wiesen. Und nur weit weg den Waldstreifen. Schemenhaft weg sah man die Landstraße und noch weiter hinten fuhr alle Stunde mal ein Zug durch die Gegend, den man bei gutem Wetter auch hörte.
Und plötzlich ist es wieder da. Das Heimweh. Zerstörerisch und umwerfend schmerzlich.
Wo gehöre ich hin? Hierher? Dorthin?
Ich bin zerrissen für ewige Zeiten.
Teils habe ich hier schon Wurzeln geschlagen. Es gefällt mir, dass ich beim Arzt zwar eine Stunde warten muss. Aber keine guten Bekannten oder Verwandten haben den Vortritt, wie in Rumänien. Geht man zu einem Amt, zieht man eine Nummer und wartet geduldig, bis man aufgerufen wird. Es gibt kein zermürbendes stundenlanges Schlangenstehen, keine offensichtliche Korruption. Es gibt Ordnung und Sauberkeit.
Drüben gibt es die Vergangenheit. Es gibt Bilder, die mich nicht loslassen. Komischerweise ist das Böse, das Hässliche, das mir drüben widerfahren ist, verblasst. Hat eine Patina bekommen wie der Berliner Dom. Ein Ausflug in Gedanken dahin hat etwas wie ein Nachhausekommen ins Paradies. Mit Tränen und Weh im Herzen.

15.12.1994. Ich bin richtig enttäuscht. Adrian kam am 12.an und heute ist er schon abgereist. Habe ihm gleich angesehen, dass etwas mir ihm nicht stimmt. Irgendwie muss er sich mit Ghita gestritten haben, denn er telefonierte recht oft mit ihr. Man sah ihm an, dass sich sein Gesicht dabei peinlich verzerrte. Wenn ich ihn fragte, was los ist, sagte er nur, ich habe Heimweh. Ich habe ihm das nicht abgekauft.
Ich denke mir, Ghita machte ihm Vorwürfe, dass sie jetzt alleine zu Hause sitzt. Ich konnte sie ja nicht alle einladen. Aber das verstehen sie sicherlich nicht. Ich weiß selbst, wie ich früher dachte, dass alle die, die im Ausland wohnen wohlhabende Menschen sind. Und wie ich voller Hoffnung war, dass mich vielleicht irgendein Verwandter einladen wird. Ich wollte Deutschland doch so gerne sehen. Und jetzt bin ich hier. Und stelle fest, dass man auch hier, wie überall in der Welt, um sein Dasein kämpfen muss. Auch wenn es hierzulande doch viel einfacher ist. Aber soweit bin ich noch lange nicht, dass ich mein Geld großzügig verteilen kann.

18.12.1994. Eigentlich wollten wir heute Adrians Geburtstag feiern. Leider ist das nicht möglich. Ich habe noch immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich an ihn denke. Die einzige Freude, die ich ihm machen konnte, war, dass wir am Weihnachtsmark waren und er dort beim Dosenschießen, oder wie das Ding hieß, ein Radio mit Kassettenrekorder und Stereoanlage gewann. Worüber er sich diebisch freute.
Nun aber ein neuer Schock für mich. Ich soll versuchen Karl nach Berlin zu holen, weil sie irgendwo in der Pampa gelandet sind, inmitten eines Waldes in Sachsen, wo es fast keinen Anschluss an die nahe Stadt gibt und Wally dringend ärztliche Hilfe brauch.

Ich fühle mich etwas überfordert mit dieser Überrumpelung.

19.12.1994. Habe mit Zimmerlein gesprochen. Die hat mich ans Bezirksamt zu einem Bekannten geschickt, der mich über Umzugsmöglichkeiten meines Bruders informiert hat. Auch seine weitere Unterstützung habe ich zugesagt bekommen.
Mit Frau Wiener gesprochen. Die Wohnung der verstorbenen Frau Leun wird frei.
Ich kann abends Karl anrufen und ihn mitteilen, dass die Wohnung Ende Februar bezugsbereit sei. Unbeschreibliche Freude drüben. Ich höre, wie sie alle jubeln.

23.12.1994. Eine Überraschung. Karl ist samt Wally unangemeldet hier eingetroffen. Und fragt, ob er bei uns wohnen kann. Bis die Wohnung der Frau Leun bezugsbereit ist.
Ich freue mich, dass sie da sind. Und ich habe auch schreckliche Angst, dass wir uns finanziell in die Nesseln setzen. Zuerst Adrian. Jetzt gleich zwei weitere Personen zu versorgen. Das wird hart.
Naja, jetzt muss ich auch noch Weihnachtsgeschenke kaufen. Es muss bei einer Kleinigkeit bleiben. Paar Süßigkeiten werden es wohl auch tun.

31.12.1994. Das Jahr geht zu Ende. Viel Zeit habe ich nicht, um über Sein und Nichtsein nachzudenken. Jetzt habe ich eine große Familie. Und komischerweise habe ich in all den Tagen kaum Beschwerden gehabt. Keine Zeit, um viel an mich zu denken. Ist anstrengend, aber scheinbar auch gesund.
Glückliches Neujahr, Lisa!