3.Kapitel
01.01.1993.
Morgens 6 Uhr.
Der
neue Tag im Jahr fühlt sich wie alle alten Tage der letzten Monate an. Mein
Kopf ist schwer. Die stickige Luft im Zimmer haut mich um. Paul und Lora
schlafen noch.
Ich
taumele aus dem Bett. Nehme Handtuch und Duschgel und versuchte den
schnatternden Weibsbildern zuvor zu kommen. Wie wunderschön ist diese Ruhe.
Im
Bad höre ich eine Stimme. Ich sehe mich um. Die Rybowa lehnt mit dem Kopf an
einer Kabinenwand und spricht laut vor sich hin. Ich hatte sie schon einmal in
dieser Pose erwischt. Diesmal möchte ich mich am liebsten, wie sonst, aus dem
Staub machen. Da höre ich, wie sie zwischen zwei, drei schnell gesprochenen
Sätzen aufschluchzt. Dann spricht sie weiter mit einem fast normalen Ton, um
irgendwann wieder dieses gänsehauttreibende Schluchzen hervorzubringen. Es
läuft mir kalt über den Rücken.
Ich
rufe leise:
"Ljuba".
Sie
scheint mich nicht zu hören. Ich gehe auf sie zu und berührte leicht ihre
Schulter.
"Geht
es Ihnen nicht gut, Ljuba?" frage ich leise.
Ich
bin aus Glas. Sie sieht durch mich hindurch. Irgendwo hinter mir scheint sich
etwas zu befinden, dass ihre Aufmerksamkeit verdient. Und sie spricht schnell
und ununterbrochen. So, dass ich Angst bekomme.
"Ljuba,
ich verstehe kein Wort. Sprechen Sie langsamer. Nje ponjemaju nischto. Kommen
Sie, ich bringe Sie in ihr Zimmer."
Ich
versuche sie aus dem Baderaum zu führen. Sie trottet neben mir her und spricht
weiter. Den ganzen Flur entlang, bis zu ihrem am Ende des Flures gelegenen
Zimmer.
Ich
öffne die Tür und schiebe sie behutsam hinein. Links an der Wand steht ein
wuchtiger Schrank mit schiefen Türen. Dann ist da ein großes Bett. So groß,
dass die kleine fünfjährige Renata kaum zu sehen ist. Sie sitzt aufrecht und
schaut uns mit großen, traurigen Augen an. Ihre ganze Erscheinung wirkt wie
eine Marmorstatue. Wenn ich nicht wüsste, dass sie lebt, könnte ich denken, sie
ist nur ein Kunstwerk.
An
der gegenüberliegenden Wand steht ein anderes Bett. Ich führe die Rybowa dahin
und setzte mich neben sie. Ich nehme ihre Hand und sehe sie unsicher an.
"Geht
es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?"
Sie
sieht mich an. Scheint mich endlich wahrzunehmen. Ich kann den Ausdruck dieses
Gesichtes nicht beschreiben. Aber wohl ist mir nicht dabei. Sie beginnt auch
noch zu weinen. Herzzerbrechend.
Ich
bin hilflos. Weiß nicht, was ich tun könnte. Dann sprudelt es aus ihr heraus.
Halb russisch, halb deutsch. Ein kleines Drama.
Sie
hat einen Freund, den sie über alles liebt, in Kasachstan zurückgelassen. Der
Vater der kleinen Renata. Sie vermisst ihn so sehr.
"Warum
ist er denn nicht mitgekommen?" will ich wissen.
Sie
sind nicht verheiratet. Er schon. Aber mit einer anderen Frau, mit der er zwei
Kinder hat. Sie, die Rybowa, ist seit sieben Jahren seine Geliebte. Seine Frau
weiß das auch. Doch er kann sich nicht entscheiden, sich von ihr zu trennen.
Sie
zeigt mir Schrammen auf ihren Händen und Armen, auf ihren Beinen, am Rücken.
Sooft die Frau ihres Geliebten sie erwischte, verprügelte sie die Rybowa. Mit
was sie eben in der Hand hatte.
Mein
Gesicht brennt wie Feuer. Sie tastet unter ihrem Kissen herum und zieht einen
Briefumschlag hervor. Fotos von Renata sind da, von Ljubas Eltern, die schon in
Deutschland wohnen und vom ihrem Geliebten.
Ich
beginne zu begreifen, warum sie so verrückt an diesem Mann hängt. Er ist
verdammt attraktiv. Habe selten ein so schönes Gesicht gesehen.
Dann
zeigt sie mir ein Bild von seiner Frau. Eine kleine, pummelige und hässliche
Frau schaut mich da an. Ich begreife nichts mehr. Warum schleppt diese Rybowa
ihr ganzes Drama, inklusive diesem hässlichen Bild vom einen Ende der Welt bis
zum andern mit sich?
Mein
Blick fällt auf Renata. Die Kleine sitzt noch immer in der gleichen Position
da, wie vor einer halben Stunde. Ich bin so aufgewühlt, dass ich schreien
könnte, so weh tut mir dieser Anblick.
Ich
weiß selbst nicht, was mich jetzt hochreißt. Ich eile zum Kind. Nehme es hoch.
Es hängt wie eine Marionette in meinen Armen. Ich setze die Kleine neben der
Rybowa aufs Bett. Dann fasse ich das Bett der Kleinen und zerre es herum. Es
ist verdammt schwer, aber ich schiebe, stoße, zerre wie besessen.
Die
Rybowa steht da und weiß nicht, was ihr geschieht.
Mit
Ach und Krach habe ich das Bett der Kleinen neben das Bett der Rybowa gezogen.
Meine Nackenhaare sind klatschnass. Mein Herz pocht rasend. Doch ich habe noch
was vor. Die Fotos einsammeln. Ich nehme den Briefumschlag und stecke diesen in
die Schublade am Schrank. Ich hohle mir die Kleine und lege sie der Rybowa in
die Arme. Ich knie vor ihnen nieder, nehmen ihre Hand und lege sie auf die
Brust des Kindes.
"Das
hier, Ljuba, ist dein Leben. Dein Kind braucht dich. Zerreiß das Foto dieser
hässlichen Frau und das dieses feigen Mannes. Und schau in die gemeinsame
Zukunft mit deinem Kind. Bringe deinem Kind bei, wie man lacht und wie man sich
freut. Diese Kleine braucht dich. Sei stark und versuche ein neues Leben zu
leben."
Jetzt
bleiben mir die Worte im Hals stecken. Ich kann beide nur durch einen Schleier
sehen. Die ganze Situation hat mich etwas überfordert. Jetzt bin ich am Ende
meines Lateins.
Die
Rybowa starrt mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. Und nach einer
langen Pause sagte nur leise:
"Spassiva,
Lisotschka, spassiva!"
Ich
sehe noch, wie sie das Kind an sich drückt und es mit Küssen überschüttet.
Dann
eile ich zurück ins Bad und als ich unter der Dusche stehe, rinnt ein Gemenge
von Tränen und Wasser an meinem Gesicht herunter.
Dieses
kleine Kind tut mir so leid. Ich glaube nicht, dass die Idylle lange halten
wird. Ich weiß, dass mein Handeln nur eine vorläufige Wirkung hat. Ich glaube
kaum, dass diese liebeskranke Frau von jetzt auf gleich geheilt wurde.
Ich
gehe den halben Tag mit Kopfschmerzen herum. Und das neue Jahr fühlt sich echt
beschissen an.
Erst
am Nachmittag erhole ich mich etwas. Kathrin kommt mit ihrem Mann zu Besuch.
Sie haben gute Neuigkeiten für uns. Im Haus, wo auch Klaus wohnt, wird bald
eine Wohnung frei. Beide haben so freudige Gesichter, dass ich sie nicht
enttäuschen möchte.
Nein,
in dieses Haus ziehe ich nie und nimmer. Zwar hat Klaus eine schöne Wohnung,
aber bis man dahin kommt, geht man durch ein Treppenhaus mit tausenden Fugen
und Ritzen, in denen noch die Leichen der Heuschrecken stecken, die sich im
Sommer im ganzen Haus getummelt hatten. Der Geruch von Moder und Schimmel
überall. Im Eingangsbereich stolpert man über einen holprigen Lehmboden. Nee,
niemals! Aus einer hässlichen Wohnung kann ich ein Paradies schaffen. Aber eine
hässliche Umgebung, die kann man nicht ummodeln. Hier haben wir überhaupt keine
Aussicht auf Arbeit. Die Entfernungen zu allen wichtigen Institutionen ist ein
Manko. Ich würde da krank werden. Und wenn ich mir Paul ansehe, weiß ich, dass
er das Gleiche denkt.
Den
Mankes sage ich natürlich nichts dergleichen.
Ich
will weg von hier. Wenn es geht, weit weg. Irgendwohin, wo ich nicht
kilometerweit bei Wind und Wetter zu Fuß zum Einkaufen muss. Und zum Arzt, wenn
ich krank bin. Und Lora in die Schule.
02.01.1993.
Aus der Küche dringt das Geschnatter der Frauen rüber. Klingt wie das Geschrei
von Wildgänsen im Flug über ein Nichts. Nur dass Wildgänse mich sehr
faszinieren. Vielleicht weil man sie so selten hört. Und keine unter ihnen
heißt Katja Radtke.
Lora
hilft Paul bei den Hausaufgaben. Der kommt mit seinem Sprachkurs nicht
besonders gut voran. Das Bild der beiden hat Seltenheitswert.
Lora
mag ihren Großvater nicht besonders. Sie hatte mich früher zu oft weinen
gesehen. Auch wenn ich mich in ihrer Gegenwart nie geäußert hatte, wusste sie,
dass der Opa mich traurig gemacht hatte. Ich versuche ständig, eine Normalität
zwischen beiden herzustellen. Fast ohne Erfolg.
Ich
bibbere dem Briefkasten entgegen. Da liegt aber leider nur eine
Glückwunschkarte aus Rumänien mit den üblichen nichtssagenden Glückwünschen.
Nichts zum Aufmuntern.
Zurück
im Zimmer, beuge ich mich über Pauls Schulter, um sein Geschreibsel zu
kontrollieren. Da geht mir ein stechender Schmerz durch die Lenden und strahlt
wie ein Blitz in das rechte Bein. Kommt wohl von den ewig kalten Füßen, die ich
in den letzten Tagen hatte. Ich hoffe, es bleibt bei diesem einen Stich. Aber
ein Brennen bleibt und quält mich weiter.
Irgendein
Landrat kommt vorbei. Wir haben ein längeres Gespräch. In einer nahen Ortschaft
werden Wohnungen gebaut. In einem Jahr ungefähr sind sie fertig. Wir könnten
uns da vormerken lassen. Mich berührt zwar diese Anteilnahme, doch schon wieder
sträubt sich alles in mir gegen die Vorstellung, in diese Einöde zu ziehen.
Wenn wir ein Auto hätten, wäre das kein Problem.
Im
Grunde genommen lebt in meinem Herzen der Wunsch, in den Westen oder in den Süden
zu kommen. Dort sind alle Verwandten, Freunde und einstige Kollegen.
Nur
scheinen die Leute hier an uns einen Narren gefressen zu haben. Alle bemühen
sich, uns irgendwie hier zu behalten. Die Englers, die Mankes, Killing, der
Superintendent, der Landrat. Schon komisch. Als hätten sie eine Wette
abgeschlossen, wem es gelingt, uns hier festzutackern.
03.01.1993.
Draußen sind es -15°. Die Heizung streikt mal wieder und im Zimmer ist es wie
im Gefrierfach. Zuerst hat sie das vor dem Neuen Jahr getan und jetzt tut sie
es wieder.
Paul
war damals die ganze Nacht auf. Und das muss er jetzt auch. Öl nachgießen oder
so was ähnliches. Die ganze Installation ist für die Katz. Dabei ist er wieder
allein da, ohne dass es die anderen Herren juckt.
Auf
einer Zimmerwand haben wir schon einen großen Schimmelfleck entdeckt. An einer
Außenwand, die sich bei uns im Zimmer scheinbar auch nicht wohl fühlt. Genau
wie ich, mit meinem brennenden Schmerz in der Hüfte und im Oberschenkel. Vom
Brennen in der Seele will ich gar nichts mehr sagen.
05.01.1993.
Es regnet. Halleluja! Ist auch nicht mehr so kalt.
Nur
innen ist's noch immer frostig.
Drei
Familien sind schon in den Westen gezogen und die Mallingers sind auch schon
aufbruchsbereit.
Für
uns scheinen keine Aussichten da zu sein.
Sind
meine Ansprüche zu hoch? Aber wäre der Mensch nicht noch in der Steinzeit, wenn
er sich nicht immer höhere Ziele gesteckt hätte? Ich bin sicherlich kein
Unikum. Nur, weil ich mich niemandem mitteilen kann, fressen sich diese Zweifel
immer tiefer.
06.01.1993.
Schwester Gitte und Ingeborg sind wieder auf Besuch bei uns. Bei Kaffee und
Kuchen haben wir zwei recht schöne Stunden zusammen. Die Stimmung ist
ausgelassen, wir lachen viel. Ingeborg entpuppt sich als eine lebensfrohe und
witzige Person. Meine Kopfschmerzen haben sich ohne Schmerztabletten in Nichts
aufgelöst. Eine solche Therapie lasse ich mir gefallen.
Paul
scheint doch ganz gute Fortschritte mit seinem Sprachkurs zu machen. Obwohl er
es doppelt so schwer hat wie die anderen. Denn der Lehrer, der die Kurse im
Klubraum hält, spricht nur deutsch und russisch. Und ungarisch, weil er ein
Ungar ist. Aber ungarisch kann er mit Paul nur privat sprechen. Im Kurs geht
das nicht. Eigentlich hatte ich nie erwartet, dass Paul sich überhaupt so gut
durchschlägt. Ein Mensch steckt voller Überraschungen. Selbst wenn man dreißig
Jahre verheiratet ist, kann man mit dem Partner Wunder erleben. Andere
Verhältnisse und ein Mensch entwickelt sich zu einem fast neuen Menschen. Vom
Alkoholiker zum Abstinenzler zum Beispiel. Die Männer um ihn herum saufen ihren
Wodka und er kann plötzlich nicht mal den Geruch ertragen. Manchmal fürchte
ich, ich träume nur und wache bald in der Wirklichkeit auf.
07.01.1993.
Wenn ich hier über die Banater Deutschen erzähle, wie wir unsere Sitten und das
Brauchtum gepflegt hatten, staunen die Leute. Ist doch Quatsch. Wer braucht
diese verstaubten Sitten?
Ich
finde es schade, dass sich die Deutschen hier, von allem was war, distanzieren.
Nationales Bewusstsein und Nationalsozialismus sind doch zwei verschiedene
Schuhe. Wie kann ein Volk ohne nationales Bewusstsein weiter bestehen? Viele
hier fühlen sich besonders deutsch, weil sie "Ausländer raus"
schreien. Ob das wohl genug ist?
Eleonore
ist wohl noch immer in Indien. Ich warte sehnsüchtig auf Post von ihr. Auch von
den anderen. Alle scheinen mich vergessen zu haben. Kein Brief, keine
Nachricht. Kein Lichtstrahl. Ich bräuchte sehr oft einen Ansporn, um das alles
um mich zu ertragen. Trage mich nur mit Sehnsucht nach den Kindern, Geschwistern,
nach den verstorbenen Eltern herum. In der Gegenwart bin ich längst nicht so
richtig angekommen.
08.01.1993.
Es regnet.
Gestern
hatte ich mit Paul ausgemacht, dass wir mal die Gegend erkunden. Einmal einen
langen Spaziergang durch den Wald machen. Alleine traue ich mich nicht dahin.
Für ihn aber sind Spaziergänge eine Qual und dass der liebe Gott ein Mann ist,
sieht man. Er lässt es schön regnen, damit mein Mann nicht in den Wald muss.
Das nenne ich Solidarität. In der Werkstatt gibt es so viel zu tun! Was sollen
Männer auf einem Spaziergang denn erleben? Zwischen Schrauben und verstaubten
Fahrrädern ist das Leben voller Überraschungen …
Vom
vielen Fernsehen habe ich wieder Kopfschmerzen. Da kommt die Einladung der
Lydia, nach Werder mitzufahren, eigentlich ganz gelegen.
Sie
jammert, sie hätten kein Geld mehr.
Ich
leihe ihnen etwas, da es bei uns gerade noch reicht. Kaufen will ich aber
nichts. Es tut nur gut, eine andere Welt zu erleben.
In
Werder gefällt es mir sehr und es ist auch eine schöne Ablenkung vom Alltag.
Sogar meinen Lebensmut habe ich wieder.
09.01.1993.
Peinlich, peinlich. Kathrin hat mich wieder wegen der Wohnung, die bei Klaus
frei wird, angesprochen. Ich hatte keine andere Ausrede, als dass der Landrat
Soundso uns eine Wohnung in der Nähe versprochen hätte. Das dauert noch eine
Weile, sei aber verlockend. Ich sehe, wie Kathrin im Gesicht scharlachrot
anläuft. Es tut mir ehrlich leid. Ich wollte ihr nicht wehtun. Sie hat sich
samt ihrem Mann für uns eingesetzt und ich weise sie ab. Ich versuchte ihr zu
erklären, dass wir uns nie ein Auto kaufen können, dass keiner von uns
überhaupt einen Führerschein hat. Das ist ein Motiv, dass wir nicht hier
bleiben können. Wir werden auch nicht jünger. Es wird immer schwieriger. Sie
scheint langsam zu begreifen, dass ich Recht habe. Trotzdem ist es für mich
kein gutes Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Ihre Freundschaft ist mir wichtig.
Der
Hintergrund, nicht in besagtes Gemäuer zu ziehen, ist der, das ich mich
sträube, in diesem grauen Etwas zu wohnen, weil ich fürchte, dann kleben wir
bis ans Lebensende hier.
11.01.1993.
Ein Brief von Eleonore. Mit all den Kleinigkeiten als Beilage, die die Seele
braucht. Etwas mehr Worte hätte ich erwartet. In den wenigen Zeilen steckt die
Eile, mit der sie sich an so viele Menschen verschwendet. Ich hätte gerne mehr
von ihr. Aber gleichzeitig respektiere ich ihre Art, sich auf das Wesentliche
zu konzentrieren.
Sie
hat vor allem meine Bitte, eine Sendung ins Heim zu schicken, an Schwester
Clementine weitergegeben. Ich rufe also Schwester Clementine an, um ihr zu
danken. Man hat sich schon an das Verpacken der Hilfsgüter gemacht. Schwer wird
es werden, ein Fahrzeug zum Transportieren zu finden.
12.01.1993.
Heute kommt ein fremder Herr in Begleitung von Kathrin vorbei. Er schaut sich
in unserem Zimmer um. "Schön, sehr schön". Sagt einige freundliche
Worte und weg sind sie.
Später
ruft mich der Heimleiter. Der Herr, der uns besucht hatte, ist von der
Versicherungsagentur, die unser Heim versichert hat. Er hat ein Häuschen in
Berlin zu vermieten. Weil er es bei uns so schön und sauber fand, lässt er
nachfragen, ob wir denn Interesse hätten, nach Berlin zu ziehen.
Ich
bin natürlich sogleich Feuer und Flamme. Das ist unsere Chance.
Bekomme
seine Telefonnummer und rufe ihn gleich an. Er muss noch mit seiner Mutter und
seiner Schwester sprechen. Denn diese Idee mit dem Vermieten sei ihm erst
spontan gekommen, als er bei uns im Zimmer war.
Er
ist in meinen Augen unsere Rettung. Unser Engel.
Ich
hatte in den vergangenen Monaten so viele Türen sich öffnen und sich schließen
gehört, dass ich nun erwarte, dass sich endlich eine Tür öffnet und auch offen
bleibt, bis wir die Schwelle übertreten habe. Ich hoffe, das Schicksal schlägt
diesmal nicht so ungestüm um sich, dass diese Tür von seinem Flügelschlag
wieder zufällt.
13.01.1990.
Ich bin gerne mal in den Bergen. Berge finde ich faszinierend. Doch leben
könnte ich da nicht. Nach zwei Wochen Urlaub kriege ich keine Luft mehr. Ich
brauche Raum für meinen Blick, das Weite. Erst dann fühle ich mich wieder frei.
Hier
in Wohldorf, oder besser gesagt, in der Nähe von Wohldorf, ist auch alles eben.
Doch vor meinem Fenster ist ein Stück Hof, davor ein Weg und dann der dichte
Wald. Meine Blicke sind wieder gefangen. Gerade im Winter konnte ich in
Rumänien, wenn ich aus meinem Fenster blickte, bis an den Horizont schauen. Das
fehlt mir hier.
Herr
Kuhl, der Versicherungsagent, hat angerufen. Er will im nächsten Jahr, anstelle
des Häuschens in Köpenick, ein Haus bauen. Mit vier kleinen Wohnungen. Wenn wir
uns mit ihm gut verstehen, können wir da auch eine Wohnung bekommen. Das macht
mich ein wenig stutzig. Klingt alles so kühl, so geschäftlich. Ich denke, wenn
er das Häuschen abreißen will, dann wird es wohl in keinem guten Zustand sein.
Wohl auch so ein winziges Häuschen, wie es hier so zahlreiche gibt. Winzige
Zimmer wie für Liliputaner. Na ja, mal sehen. Immerhin hätten wir in Berlin
vielleicht mehr Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden. Was nun mal sehr wichtig
ist.
15.01.1993.
Am Montag wird Eleonores Bruder mit Hilfsgütern kommen. Ich habe kein gutes
Gefühl. Habe diesen Menschen da drüben zusätzliche Arbeit gemacht. Ich weiß
nicht, wie ich mich dafür bedanken soll. Dann ist da noch das Problem mit den
Neuankömmlingen. Was ich bestellt hatte, wird den Neuen nicht passen. Es wird
wieder Unzufriedene geben.
16.01.1993-Samstag.
Heute ist es soweit. Wir fahren nach Berlin!
Ich
habe keine Ahnung, wie wir nach Berlin kommen sollen. Unsere Welt war bis jetzt
so eng, dass dieses "Berlin" so klingt, als läge es in einer anderen
Welt.
Paul
und ich nehmen den Bus von Wohldorf bis Kirchdorf. Dann den Bus bis Potsdam.
Den Weg weiter weiß ich nicht. Als wir aussteigen, der Bus wegfährt, die Leute
verschwinden, fällt es mir ein, dass ich nach dem Bahnhof hätte fragen müssen.
Die Straßen sind menschenleer. Kein Fahrzeug, kein Zeichen, dass wir auf dem
Planet Erde sind. Es ist zum Verzweifeln. Wir laufen aufs Geratewohl eine
Straße entlang. Ins Ungewisse. Dann endlich ein Taxistand.
Ich
frage einen Fahrer, wieviel uns eine Fahrt bis Köpenick kosten würde. Erkläre
ihm, dass wir Aussiedler sind, uns hier überhaupt nicht auskennen und nur wenig
Geld haben. 60 DM, heißt es. Aber nur bis Schönefeld, weil er bis Köpenick mehr
verlangen müsste. Ich stelle mir vor, dass er flunkert. Aber ich sehe keine
andere Chance, ans Ziel zu kommen.
Fremd
mutet alles an. Von Schönefeld kommen wir mit dem Bus ohne Probleme bis in die
Nähe der Waldzeile.
Herr
Kuhl ist noch nicht da. Wir spazieren lange auf der gegenüberliegenden Seite der
gesuchten Adresse auf und ab. So können wir das Haus besser begutachten. Auf
den ersten Blick sieht es nicht so schlecht aus.
Herr
Kuhl lässt lange auf sich warten. Als er endlich da ist, treten wir auf den
Boden unserer Begierde. Es ist sein Elternhaus, das seit dreißig Jahren nicht
bewohnt wurde. Sie sind damals in den Westen gezogen und haben das Haus nach
der Wende zurückbekommen. Nur sein Sohn war hin und wieder an den Wochenenden
hier.
Von
außen sieht es einigermaßen in Ordnung aus. Vor dem Haus stehen zwei riesige
wunderschöne Nussbäume. Wie in Rumänien. Der Eingang ist vom Innenhof zu
erreichen und wild verwachsen mit Fliederbüschen. Die Eingangstür hat Risse,
durch die man problemlos eine Hand durchstecken kann. Ein winziges Vorzimmer,
eine größere Küche, zwei Zimmer tun sich auf. Das eine Zimmer hat intakte weiße
Tapeten. Es ist trocken und wohnlich. Das hintere Zimmer ist ein Gruselkabinett
mit einem Bett und einem rußigen Ofen. Von der Küche, wo die Decke in Fetzen
herabhängt, führt eine Tür zur Toilette. Grauenvoll. Es stinkt bestialisch. Es
gibt keine Kanalisation, nur einen Abfluss in eine Blechtonne, die draußen in
die Erde eingebaut wurde. Überall Riesenspinnen und Käfer. Ich hasse Spinnen.
Alles riecht fürchterlich nach Moder, Schimmel, nach riesig viel Arbeit. Noch
viel, viel schlimmer, als bei Klaus. Aber es ist Berlin.
Der
Hof, Garten sind ein kleines Paradies. Viel Rasen, Bäume und Büsche. Im Sommer
muss es ein Traum sein.
Die
Gegend ist schön und sauber. Überall gepflegte Einfamilienhäuser.
Natürlich
habe ich Bedenken. Werden wir die Renovierung hinbekommen? Schaffen wir es
finanziell? Wird Lora sich hier wohl fühlen? Zuerst habe ich sie aus dem
vertrauten Heim in Rumänien gerissen, dann aus A. weg, dann aus dem Lager in
Sorgdorf und jetzt aus Wohldorf. Immer musste sie ihre lieb gewonnenen
Freundinnen zurücklassen. Wie oft kann man einem Kind so was schadlos antun?
Für
mich ist diese Waldzeile ein Sprungbrett. Hier kann man eh nicht lange bleiben.
Ohne Bad, ohne einem sicheren Dach über den Kopf. Denn das hier scheint es
nicht mehr lange zu schaffen.
Paul
äußert sich nicht. Er sagt nichts, als ich ihn fragend ansehe und so beiläufig
sage: ich glaube, da könnten wir was draus machen.
Ich
sage zu. Er sagt nichts. Aber ich weiß, dass er sich nie zu etwas entschließen
kann. Wenn's gut läuft, wird alles totgeschwiegen. Sollte es schlecht laufen,
hat er was zum Meckern. Ich übernehme halt wieder die Kommandozentrale mit
allen Konsequenzen.
Herr
Kuhl zeigt uns eines seiner Hochhäuser (22 Wohnungen) in der Blumenstraße, im
Westteil der Stadt. Ich frage mich kurz, ob er uns denn nicht hier eine Wohnung
hätte anbieten können? Doch viel Zeit zum Nachdenken haben wir nicht.
Wir
sind an der S-Bahn. Irgendwie kommen wir dann von Potsdam nach Brandenburg. Von
hier weiß ich nicht mehr weiter. Vom Rest unseres Geldes nehmen wir uns wieder
ein Taxi. Es ist schon dunkel, als wir zu Hause sind.
Hier
merke ich, dass Paul riesig enttäuscht ist. Von Berlin, vom Häuschen, von
meiner Entscheidung, dahin zu ziehen. Ich sehe seine Angst in den Augen. Immer
das gleiche. Wenn es drauf ankommt, sagt er kein Wort. Erst wenn ich
entschieden habe, eine Tatsache feststeht, gibt er seinen Senf dazu. Das bringt
mich zur Verzweiflung. Ich habe immer davon geträumt, dass wir uns absprechen
können, dass wir über eine Sache diskutieren können. Dazu sind wir nie
gekommen. Das kann er nicht. Wenn er was kann, dann ist es streiten und
nörgeln.
18.01.1993.
Wenn ich an das Berliner Häuschen denke, erfasst mich nun auch Angst. Heute bin
ich voller Zweifel. Alle sagen mir das eine: Berlin ist ein heißes Pflaster.
Und die Befürchtung steigt, dass es wirklich gefährlich werden könnte. Ich
fürchte mich vor den Deutschen. Ich fürchte mich vor Deutschland. Das hätte ich
mir in Rumänien nie vorstellen können.
Eleonores
Bruder macht mir auch keinen Mut. Er ist kein sehr freundlicher Mensch.
Vielleicht ist er auch nur müde vom weiten Weg hierher. Er ist mit einem
kleinen Transporter mit Hilfsgütern gekommen. Der Osten ist überhaupt nicht
nach seinem Geschmack. Ich merke, dass mich das ein wenig beleidigt, was er
sagt. Scheinbar hat sich bei mir schon so etwas wie Lokalpatriotismus
eingenistet.
Meine
Schwiegertochter aus Italien bekommt am Telefon einen Weinkrampf, als ich ihr
von unserm Vorhaben erzähle. Sie ist geschockt und enttäuscht. Ihre
Vorstellungen müssen noch schlimmer sein als unsere Wirklichkeit.
Dann
versuche ich, die Hilfsgüter irgendwie zu sortieren. Aber es geht nicht. Habe
weder Platz dazu, noch Geduld. Es ist zu viel da. Ich merke, dass es schwer
sein wird, hier etwas Brauchbares zu finden.
Paul
und ich schleppen die Kartons rüber in den Fernsehraum. Da kann sich jeder was
heraussuchen.
Dieser
Tag ist für mich ein schlechter Tag.
19.01.1993.
Als ich heute Morgen aus dem Badezimmerfenster sehe, stockt mir der Atem. Die
Kleidungsstücke, Decken, Sachen aus dem Fernsehraum liegen zerfetzt und über
den ganzen Hof verstreut da. Ich empfinde nichts anderes als Scham. Ich könnte
in Grund und Boden versinken. Fremde Leute haben sich ins Zeug gelegt, um uns
etwas zukommen zu lassen und jetzt das. Ich versuche es zu ignorieren, obwohl
ich innerlich lodere. Es kümmert mich nicht, ob die Sachen für ewige Zeiten da
liegen bleiben. Ich werde keinen Finger krümmen, um sie aufzusammeln.
Gegen
zehn Uhr wettert der Heimleiter durchs Haus. In einer halben Stunde ist der Hof
wieder in Ordnung.
Gesprächsrunde
beim Superintendenten über die Sekte im Dorf. Ich bin gelangweilt, kann mich
nicht konzentrieren. Bin mit dem Gedanken überall, nur nicht hier. Wäre gut, zu
wissen, was die anderen denken. Sind alle hier mit Leib und Seele dabei? Sind
überhaupt die, die Gott dienen, die in seinem Namen organisieren, helfen,
missionieren, immer mit ganzem Herzen dabei? Sind sie in jeder Minute als
bewusste Christen dabei? Oder gibt es bei ihnen auch Momente des Zweifels?
Wir
sind alle Menschen. Können nur schwer an etwas glauben, das wir noch nie
gesehen haben. Wie viel von dem Glauben und den Zeremonien von Thailand bis in
die Tundra, vom Feuerland bis nach Bora- Bora sind einfach nur Brauchtum,
Schauspielerei, Heuchelei? Es wird so viel um Gott herum gefaselt. Glaube
sollte man leben, nicht predigen. Jeder behauptet, seine Religion ist die
bessere. Vom Ajatollah bis zum neuapostolischen Prediger. Und bis zu mir.
22.01.1993.
Der Landrat und der Heimleiter sind bei uns. Die Wohnungen im Nachbardorf
werden teure Wohnungen, heißt es. Da haben wir keine Chance hinzuziehen. Ich
tröste den zerknirschten Landrat. Rücke mit der Berlin- Geschichte heraus.
Zuerst sehe ich betroffene Gesichter. Dann bietet sich der Heimleiter an, uns
unsere Habseligkeiten nach Berlin zu bringen, wenn es soweit ist.
Das
sind Worte, die mich wieder zuversichtlicher machen. Ich hatte mir eh schon
Gedanken gemacht, wie wir hier wegziehen können. Hatte keine Ahnung, wie man
einen Umzug einleitet. Nun scheint es, das Schicksal hat selbst entschieden.
24.01.1993.
Orkanartiger Wind. Ich langweile mich sonntäglich. Da erscheint Frau Engler und
entführt uns zu sich nach Hause zu Kaffee und Kuchen.
Ihr
Haus soll schon hundert Jahre alt sein. Es wurde aber gut in Schuss gehalten.
Sieht jung und frisch aus. Es erweckt bei mir den Wunsch, möglichst bald in
einer so schönen Wohnung zu leben. Ich fühle mich hier wohl. Paul und Lora
scheint es zu langweilen.
Bekomme
von Frau Engler ein Schränkchen, zwei Nachtschränke, einen Spiegel und Gardinen
geschenkt. Sollte wohl so sein.
Ich
glaube an Vorsehung. Zuerst kommt Herr Kuhl mit paar alten Kleidungsstücken
nach Wohldorf, obwohl er sie auch in Berlin in die Altkleidersammlung hätte
stecken können. Dadurch haben wir bald eine neue Bleibe. Dann kommt der
Heimleiter auf uns zu und wir haben schon den Transport ins neue Zuhause
gesichert. Und mitten im Sturmwind taucht Frau Engler auf und trägt noch selbst
zur Mitgift bei. Obwohl sie es sehr bedauert, dass wir wegziehen. Es geht
Schlag auf Schlag. Als würde das Schicksal oder eine unsichtbare Hand alles
steuern. Ich stehe nur dabei und es geht alles wie am Schnürchen. Habe sogar
den Eindruck, dass wir, egal wie wir uns sträuben würden, diesen Weg gehen
müssen, weil er uns schon vorgezeichnet wurde.
25.01.1993.
Paul fühlt sich nicht gut. Berlin lässt ihn nicht los. Für ihn ist alles etwas
bedrohlich. Ich war von dem Häuschen auch nicht begeistert, aber ich versuche,
aus einer festgefahrenen Situation zu entkommen. Gehe ein Risiko ein,
selbstverständlich. Sehe mit großer Spannung und logischerweise auch mit
Ängsten der Ungewissheit entgegen. Wenn ihm aber eine Situation nicht auf den
Leib geschnitten ist, dann wirkt er wie verloren. Und sieht drein, als käme ein
Weltuntergang. Nach Monaten hat er wieder, angefeuert von Kladschenko, einen
Wodka getrunken. Scheinbar hat ihm das nichts gebracht. Nur in mir steigt die
Angst hoch, er könnte wieder in den Alkoholismus zurückfallen. Das würde ich
ihm diesmal nicht mehr verzeihen.
26.01.1993.
Paul macht mir Sorgen. So deprimiert habe ich ihn noch nicht gesehen. Der
Sprachkurs macht ihn nervös, weil er sich da gar nicht mehr konzentrieren kann.
Eine richtige Arbeit fehlt ihm, eine Abwechslung sicherlich. Der ist total aus
der Bahn geworfen. Lora scheint alles gelassener zu nehmen.
27.01.1993.
Ich platzte vor Ungeduld. Möchte am liebsten gleich jetzt losziehen. Obwohl ich
mich vor Berlin auch etwas fürchte, denke ich doch langsam ans Packen.
28.01.1993.
Bin sprachlos.
Habe
die Kopie eines Antrags auf eine Wohnung zugeschickt bekommen. Den
Dringlichkeitsantrag hat freundlicherweise der Herr Söhnke,
entwicklungspolitischer Sprecher des brandenburgischen Landtags, in unserem
Namen gestellt. Teils gerührt von dieser Hilfsbereitschaft, teils gestört in
meinem Vorhaben, nach Berlin umzuziehen, versuche ich das Ganze, so gut es
geht, zu verarbeiten. Rufe Frau Engler an, danach Frau Emsig. Ich muss jemanden
um Rat fragen. Bin total durcheinander. Die Frauen versuchen mir das
Hierbleiben schmackhaft zu machen. Mein Vorsatz von vorhin ist schon gekippt.
Berlin rückt etwas weiter weg.
Soll
ich all die Freunde aufgeben, die sich hier für uns so ins Zeug legen? Soll ich
hier in dieser Mietskasernen für Heimatlose weiter warten, bis andere über mein
Los entscheiden? Hier, wo ich mir nicht mal eine Zeitung kaufen kann, um eine
Möglichkeit zu finden, mich selbst um mein Vorwärtskommen zu bemühen?
Rein
verrückt könnte man werden bei diesem Dilemma. Auch Lora plädiert nun für das
Bleiben. Sie hat ihre Schule lieb gewonnenen und will nicht mehr weg. Ich bin
wohl die Einzige, die noch von Berlin träumt.
29.01.1993.
Herr Kuhl hat angerufen. Das hat gereicht, um mir klar zu werden, dass ich hier
unbedingt weg will. Diesen Stillstand kann ich nicht mehr ertragen. Vorwärts,
mit Volldampf!
Wie
wird es sein, nachts durchzuschlafen? Keinen Lärm mehr zu hören? Keine
Störenfriede mehr ertragen zu müssen? Mein Leben selbst zu bestimmen?
Dann
kommt der Landrat mit einer Dame vorbei. Ein idyllisches Häuschen sei für sechs
Monate in Kirchdorf zu vermieten. Ich glaube, diese Menschen können es nicht
ahnen, welche peinlichen Momente sie mir bereiten. Kaum dass ich einen klaren
Gedanken gefasst habe, kommt ein anderer daher, um mich in neue Zweifel zu
stürzen.
Ich
habe Tränen in den Augen. Bleibe mir aber diesmal selbst treu. Mein Ziel gebe
ich nicht auf. Das Hinundherschwanken ist viel zu zerstörerisch. Raubt mir
meinen Seelenfrieden. Ich kann mich nicht jeden Tag auf jemand anderen
einlassen. Das kann keiner von mir verlangen, wenn er es noch so gut meint.
Ich
erkläre das den Leuten. Sie verstehen mich. Geben aber nicht auf. Falls es in
Berlin doch nicht klappt, können wir wann immer zurückkehren. Wir werden hier
immer Menschen finden, die uns beistehen werden.
Ich
bin dankbar für diese Worte. Doch hoffe ich, dass es nicht nur in Wohldorf und
Kirchdorf gütige Menschen gibt. Ich wage zu hoffen, dass wir auch in Berlin
Freunde finden werden.
03.02.1993.
Herr Killing kommt vorbei. Er teilt uns mit, dass das Sozialamt die
Umzugskosten, die Miete, Kosten für Brennmaterial und für einige Reparaturen
übernehmen wird. Das klingt nach Schlaraffenland. Fühle mich dabei schon etwas
ungut.
Als
er geht, drückt er meine Rechte mit beiden Händen. Er wünscht uns alles Gute.
"Ich
freue mich, Sie kennen gelernt zu haben", sagte er leise.
Er
hat etwas in den Augen, das mich verlegen zur Seite schauen lässt. Ich kämpfe
mit den Tränen. Da geht einer, dem ich ein großes Stück Sonne zu verdanken habe.
04.02.1993.
Der Superintendent und Herr Sommer sind zu Besuch. Ein Gespräch mit den
Heimbewohnern. Der Sommer will noch Kleidung und Schuhe besorgen. Der
Superintendent will regelmäßig Kaffeenachmittage organisieren. Ich meine, dass
es schöner wäre, wenn die Heimbewohner freiwillig in der Nachbarschaft den
Einwohnern Hilfe leisten könnten. Mehr in das Leben und Treiben des Dorfes
einbezogen werden. Mehr außerhalb des Heimes versuchen, sich anzupassen, sich
zu integrieren. Diese einseitigen Besuche von außen werden auch uns auf Zeit zu
langweilig. Es sind immer dieselben Leute, die mit uns in Kontakt treten, ohne
dass wir etwas zurückgeben können.
Mein
Vorschlag wird angenommen. Ich aber weiß, dass daraus wahrscheinlich nie etwas
werden wird. Ich kenne meine Pappenheimer. Kaum einer wird sich freiwillig zu
solch einer Aktion melden.
Ich
hab's versucht.
05.02.1993.
Immer wieder diese Unkenrufe. Berlin ist ein heißes Pflaster. Es scheint, als
hätten alle voneinander abgeschrieben. Ich höre diesen Satz immer wieder. Ich
habe Kopfschmerzen und kein Medikament hilft. Und wir werden in Berlin vom
Herrn Kuhl erwartet.
Ich
teile ihm telefonisch mit, dass ich wegen der Kopfschmerzen nicht kommen kann.
Er ist ungehalten. Paul soll doch alleine kommen. Der aber will alleine nicht
gehen. Herr Kuhl kann das nicht verstehen, ist nervös.
Dann
sagt er, dass er uns abholt. Ich fühle mich schrecklich. Kathrin gibt mir ein
schmerzstillendes Zäpfchen. Habe so was noch nie ausprobiert. Aber es wirkt,
Gott sei Dank.
Es
regnet in Strömen. Bin jetzt froh, dass ich Kopfschmerzen hatte. Und, dass Kuhl
kommen muss! Sonst hätten wir uns auf dem Weg nach Berlin aufgelöst.
Kuhl
holt uns ab. In seinem Wagen wird mir schlecht. Der Weg bis Berlin ist für mich
die reinste Hölle. Er mietet hier einen Kleinbus. Dann fährt er uns der Reihe
nach in seine Häuser in der Nähe des Halleschen Tors. In den Kellern stöbert er
nach Möbelstücken für uns. Ist aber nicht viel Brauchbares dabei.
Dann
fährt er uns zu seinem Sohn. Wir bekommen einen schönen Wandschrank, eine Couch
und zwei Sessel. Bis wir die Sachen aus der Wohnung hinunter in den Wagen
kriegen, gilt es, die zwei Etagen ungezählte Male rauf und runter zu hecheln.
Am Ende zittern mir die Beine so sehr, dass ich kaum noch aufrecht gehen kann.
Kuhl
kauft uns je einen Kebab. Hab so was noch nie gegessen. Es schmeckt aber
verdammt gut. Ist nur umständlich zu handhaben.
In
der Waldzeile angekommen, mit unseren neuen Errungenschaften, habe ich riesige
Emotionen. Wie werden die Nachbarn auf uns reagieren?
Drüben,
hinter dem Zaun, sehe ich einen Mann, der im Hof herumhantiert. Instinktiv gehe
ich in seine Richtung und rufe ein Hallo rüber. Meine Nerven sind zum Platzen
angespannt. Was wenn er mir den Rücken kehrt? Er aber nähert sich verwundert.
Ich reiche ihm die Hand über den niedrigen Zaun, sage wer wir sind und dass wir
hier wohnen werden. Er ist freudig überrascht, kommt gleich durch die kleine
Gartentür und spricht mit uns, als wären wir schon längst alte Bekannte.
Mir
fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Ich kann mich vor Freude kaum
zurückhalten, laut los zu schreien: epur si muove! Die Welt ist nicht stehen
geblieben, nur weil wir nach Berlin gekommen sind. Auf ihr leben eine Menge
liebenswerter Menschen.
Wieder
in Wohldorf angekommen, sehe ich Paul erstmals wieder ausgelassen und fröhlich.
Eine Last scheint auch von seinen Schultern gerollt zu sein. Ich bin aber so
müde, dass ich keiner Gefühle mehr mächtig bin. Will nur noch schlafen.
06.02.1993.
Wir haben unsere richtigen Ausweise bekommen. Paul ist riesig stolz. Er ist ein
Deutscher. Für mich ist es erstmals eine Formsache. Deutsch war ich schon immer
gewesen. Ich fühle mich dabei weder besser, noch schlechter. Bin nur beruhigt.
Jetzt kann ich mich unserem Umzug ruhigen Gewissens widmen.
09.02.1993.
Nun ist Paul auch im Fieber. Wir können es kaum erwarten, endlich auszuziehen.
Ich würde gerne erst alles renovieren, um dann in eine schöne Wohnung zu
ziehen. Paul meint aber, dass das zu viel kosten würde, immer hin und zurück zu
fahren. Lieber gleich hinziehen und dann können wir nach und nach alles in
Ordnung bringen. Er hat Recht. Nur denke ich mit Grauen daran, dass wir in
Berlin wieder von Amt zu Amt ziehen müssen und das Haus bleibt noch lange in
einem schlechten Zustand.
Frau
Engler kommt mit dem Fahrrad an. Sie ist hochrot im Gesicht und fleht uns an,
es uns nochmals zu überlegen. Ich erzähle ihr, dass es uns mittlerweile in
Köpenick gut gefällt, das wir nette Nachbarn und ein gutes Gefühl haben. Sie
ist traurig. Ich merke immer wieder, dass uns die Leute hier unwahrscheinlich
mögen. Was ist denn an uns so besonders? Ein so ungewohntes Gefühl von
Nächstenliebe ist mir noch nie vorgekommen. Ich kann kaum damit umgehen.
12.02.1993.
Kurzerhand habe ich entschieden, nächstes Wochenende, ziehen wir nach Berlin.
Habe mit dem Heimleiter gesprochen. Er bleibt dabei und fährt uns und unsere
Habseligkeiten hin.
Lora
kommt weinend aus der Schule.
"Meine
gute Klasse", jammert sie.
Es
tut so weh, ihr wieder etwas von der Kindheit zu rauben. Ich hoffe, dass ich
nie wieder der Grund sein werde, wenn sie Tränen vergießt.
15.02.1993.
Endlich zu Hause ankommen. Wie schön wird das sein. Ich wohne auf meinem
Heimatplaneten Terra. Und doch. Eine stille Ecke in diesem Raum, die habe ich
für mich noch nicht gefunden. Wo darf ich mich endlich ausruhen können? Von
Heimatlosigkeit, von Boshaftigkeit, von Fremdbestimmung. Ja selbst von
überschwänglicher Menschlichkeit.
Katja
Radtkes Stimme kann ich nicht mehr ertragen. Sie ist schrill und durchschlägt
die Stille wie eine Pfeilspitze. Ich empfinde körperliche Schmerzen, wenn ich
sie höre. Dann singt sie auch noch gerne laut. Ein Gespräch zwischen ihr und
Lena ist der Moment, wo meine Schmerzgrenze endet. So sympathisch mir beide
sind, ich könnte die beiden am besten mit einem Pflaster über den Mund
ertragen.
17.02.1993.
Mit Grauen hatte ich schon daran gedacht, wie es wird, wenn im Sommer keine
Schule, kein Sprachkurs mehr ist. Und von morgens bis abends diese lauten
Stimmen durch die Luft schwirren. Für mich wäre das die Hölle auf Erden
gewesen. Gott sei Dank, haben wir jetzt einen, hoffen wir, schönen Ausweg
gefunden.
Die
Kinder sind in der Schule. Alle anderen sind im Sprachkurs.
Ich
habe Zeit und Muße mal das Bad und die Toiletten im Erdgeschoss in Angriff zu
nehmen. Zwar hat jede Frau an einem Tag Dienst in Küche und Badezimmer, aber
außer Lena und mir nimmt das keine sehr ernst. Heute ist mein letzter Tag hier.
Das soll ein Geschenk zumindest an die Frauen im Erdgeschoss sein.
Ich
gehe rauf zu Kathrin und lasse mir alle möglichen Putzmittel geben, die im
Abstellraum zu finden sind.
Dann
reiße ich alle Fenster auf und lege los. So haben Küche und Bad seit unserem
Einzug nicht mehr gestrahlt. Ich sprühe noch einen Duftspray durchs Bad. Als
die Frauen aus dem Sprachkurs kommen, ist Lena die erste, die freudig
aufschreit:
"Das
hat gemacht Lisotschka. Oi, das gut riecht hier."
Nur
wie lange? denke ich mir. Lasse aber mit Freude die Umarmungen über mich
ergehen.
Es
fällt mir auf, dass ich die Rybowa nicht mehr gesehen habe. Ich frage Katja,
die ihr gegenüber wohnt, nach ihr. Oh, Ljuba ist in Kasachstan.
Ich
mache große Augen. Wie das denn?
Ja,
vor einer Woche war Ljubas Tante aus Westdeutschland hier und hat Renata
mitgenommen und Ljuba ist am nächsten Tag schon nach Kasachstan zurückgegangen.
Ich
kann nur hoffen, dass dieses kleine Mädchen in guten Händen ist. Ich habe sie
nie lächeln gesehen. Und wenn sie mit den Kindern zusammen war, stand sie meist
abseits. Wird ihre kleine Seele je in Ordnung kommen?
18.02.1993.
Es ist Zeit. Die Sachen stehen seit drei Tagen fertig gepackt. Wenn ich etwas
brauchte, hatte ich meine Qual, bis ich es fand.
Der
kleine Laster steht im Hof, jetzt voll beladen, fertig zur Abreise.
Der
Abschied. Die Bewohner haben sich alle im Hof versammelt. Sie hätten es lieber
sein lassen sollen. Es berührt mich doch mehr, als ich gedacht hätte. Diese
Menschen waren fast sechs Monaten hindurch unsere Leidensgenossen, unsere
Familie. Wir haben Sorgen und Freude geteilt, uns gegenseitig unter die Arme
gegriffen, unsere Tränen getrocknet und auch zusammen gelitten und gelacht.
Als
wir aus dem Hof fahren, weinen viele. Die Kinder laufen noch eine Weile hinter
uns her. Mein Herz ist schwer.
Am
Weg nach Berlin beginnt es leise zu regnen. Lora und ich sitzen warm neben dem
Heimleiter vorne. Paul aber sitzt am Laster, auf der Couch. Ich fürchte, er
wird sich erkälten und die nicht perfekten Möbelstücke gehen ganz kaputt.
Als
wir in der Waldzeile ankommen, scheint mir das Häuschen so jämmerlich zu sein,
dass ich am liebsten umkehren möchte. Der Regen hat längst aufgehört, aber es
ist düster und dunstig. Vielleicht scheint in diesem Licht alles so traurig.
Als
der Heimleiter in die Wohnung tritt, ist er sichtlich geschockt. Wir bieten ihm
eine Tasse Kaffee an, aber er hat es plötzlich sehr eilig. Als er gegangen ist,
stehen wir etwas verlassen und unbeholfen in diesem unfreundlichen Loch.
Unser
Nachbar, der Frank, erscheint plötzlich in der Tür.
"Hallo,
da seid ihr ja!" Und gleich darauf, "Kann ich euch helfen?"
Plötzlich
ist Leben in der Bude. Schon zerrt er Paul mit sich.
"Komm
schau dir mal drüben bei mir im Schuppen die Möbel an. Vielleicht kannst du was
gebrauchen."
In
einer Stunde haben wir eine Kücheneinrichtung, Geschirr, Haushaltsartikel aller
Art, Brennholz zum Feuern. Und einen Nachbarn, der sich bei uns zu Hause fühlt.
Uns scheint es, wir kennen ihn seit ewigen Zeiten.
Nebenan
wohnt eigentlich Franks Mutter. Er wohnt mit Frau und Kinder in Lichterfelde.
Wenn er das Haus fertig umgebaut haben wird, dann ziehen sie auch hierher.
Ich
versuche Feuer zu machen. Der Ofen steht im hinteren Zimmer, das nicht sehr
einladend wirkt.
Mein
Vorhaben gelingt mir nicht. Der Rauch zieht nicht ab, sondern verteilt sich
unregelmäßig aber stetig im ganzen Raum. Bis ich mich entschließe, es mit einer
Kaffeekanne voll Wasser zu löschen.
Ein
übler Geruch macht sich breit und dringt in alle organischen und anorganischen
Atome ein. Ich reiße alle Fenster auf, was nichts weiter bewirkt, als dass wir
bald blaue Lippen bekommen und frieren.
Paul
ist so mit Frank beschäftigt, dass es nichts Wichtigeres mehr gibt. Für ihn
scheint sich alles erledigt zu haben und ich bin ein wenig enttäuscht, dass es
ihn nicht interessiert, ob und wie wir hier die Nacht verbringen werden.
So
packe ich die Sachen, die wir am nötigsten haben, aus und versuche sie, so gut
es geht, zu ordnen.
Ich
komme mir plötzlich so verloren vor, so unsagbar alleine und es ist, als säße
ich in einer Falle und könnte nie mehr entkommen.