31.5.23

Zwischen Tag und Traum

                Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
                Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
                dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
                und Herde glühn und hellen ihren Raum.

                Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
                Dort wo die Abendglocken klar verklangen
                und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
                sich müde stützen auf den Brunnensaum.

                Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
                und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
                rühren sich wieder in den tausend Zweigen
                und wachen wieder zwischen Tag und Traum.


Rainer Maria Rilke

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30.5.23

Wenn es nur einmal


                Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
                Wenn das Zufällige und Ungefähre
                verstummte und das nachbarliche Lachen,
                wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
                mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:

                Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
                bis an deinen Rand dich denken
                und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
                um dich an alles Leben zu verschenken
                wie einen Dank.

Rainer Maria Rilke
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29.5.23

Du darfst nicht warten

                  Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
                  und sagt: Ich bin.
                  Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
                  hat keinen Sinn.
                  Da musst du wissen, dass dich Gott durchweht
                  seit Anbeginn,
                  und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,
                  dann schafft er drin.

Rainer Maria Rilke
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28.5.23

Es müsste mich einer führen


                Es müsste mich einer führen,
                aber nicht der Wind;
                weil der Orte und Türen
                so viele sind.
                Wen
                soll ich um alles fragen;
                soll ich immer nur gehn
                und es wie im Traum ertragen,
                dass die Berge und Burgen ragen
                an dem Saum
                der fremden Seen?...


Rainer Maria Rilke
**************


Da, wo ich geboren wurde, durfte ich zwar die deutsche Schule besuchen, ich wurde in meiner Muttersprache mit den großen Klassikern der deutschen Literatur bekannt gemacht, aber irgendwie zählte der auch deutschsprachige Rilke nicht zu den erwähnenswerten Klassikern und so entdeckte ich ihn erst 1990, als mir eine Nonne, die mit der deutschen Caritas in unserem Land tätig war, einen Rilkeband schenkte. Sie schlug das Buch da auf, wo der Panther mit geschmeidig starken Schritten sich im allerkleinsten Kreise dreht und ich brach in Tränen aus, weil ich das Gefühl hatte, Rilke hätte mir selbst das Gedicht gewidmet. Seitdem ist, mag wohl blasphemisch klingen, dieses Buch meine Bibel. Hier kann ich mit Rilke über Gott sinnieren, mit Gott sprechen, beten und alles klingt so offen und ehrlich. Dabei darf ich diese wunderschönen Verse genießen, von denen ich eine Menge auch auswendig kann.
Schon lange hatte ich vor, es mal mit einer Rlikeserie zu versuchen. Und heute ist es soweit.

27.5.23

Traumweberei

Heraustreten

aus dem grauen Lebensbuch,

den vorgezeichneten Weg

Makulatur sein lassen,

in eigenen Lebensfarben

Schritte weben

aus seidigem Seelengarn

hin zur eigenen

Geschichte.

Das Privileg der Jugend.

Ich webe nur Träume.

© Lisa Nicolis


25.5.23

Donnerstag

Und zu diesem Bild fiel mir nichts ein. Nur plötzlich hatte ich diese Geschichte entdeckt und dachte mir, naja, muss nicht immer schlechte Lyrik sein, ich stell mal da eine Geschichte rein, die schon Geschichte ist.

Höllenherrschaft

Seit vielen Jahren wohne ich in demselben Haus. Das hat seine Vor- und Nachteile. Man kennt all die Nachbarn, man muss aber auch Nachbarn ertragen, die man viel zu gut kennt.

Da war die Frau Richter.

Sie humpelte mit ihren krummen Beinen und ihrem Stock durch alle sieben Etagen und klopfte, ja, ja, sie klopfte, sie klingelte nicht, da, wo sie sich vorgenommen hatte zu klopfen.

Wer sie noch nicht durchschaut hatte, war so unvorsichtig und öffnete die Tür. Keine noch so verborgene Kraft hätte nun Frau Richter aufhalten können, durch diese Tür auch hindurch zu hoppeln. Und wenn sie mal saß, wozu man sie nicht auffordern musste, dann saß sie ganz fest. Und sie saß, und saß, und saß solange sie eben sitzen wollte. Und man musste anhören, was in jeder der fünfzig Wohnungen des Hauses vor sich geht.

Denn Frau Richter wusste alles. Sie wusste, wann du weg gehst, wann du nachhause kommst, wer bei dir war, mit wem du dich gezofft hast, von wem du Post bekommst, wen du nicht leiden kannst, wer aufgeräumt hat, wer nicht, und viele, viele andere Sachen von anderen und von dir selbst, die nicht mal du wissen konntest.

Wie viele Leute sich schon hier die Köpfe eingeschlagen hatten, weil Frau Richter sie gegeneinander aufgehetzt hatte, darüber gibt es keine Statistik, aber es sind ganz sicher sehr, sehr viele gewesen.

Sie hatte mich mal überredet, sie zum Arzt zu begleiten, was ich aus humanitären Gründen nicht ablehnen konnte. Danach wusste ich, dass man aus humanitären Gründen Ähnliches durchaus ablehnen kann und soll.

Frau Richter dominierte nicht nur das Wartezimmer mit ihren lautstarken Bemerkungen, sprach nicht nur jeden Leidenden ins Nirwana, nein, der Nachhauseweg kam für mich dem Gang nach Golgotha gleich.

Ich musste ihr in verschiedene Läden folgen. Aus der Mehrzahl wurden wir mit Pauken und Trompeten publikumsgerecht rausgeschmissen, weil Frau Richter Hausverbot hatte und es ihr an der Rückseite vorbeiging, ob die Verkäuferinnen wie aufgescheuchte Hühner hinter uns her hechelten, oder der Ladeninhaber mit der Polizei drohte. Da, wo das passierte, werde ich mich hüten jemals wieder einzukehren, weil ich mich noch nie so geschämt hatte, wie an diesem Tag mit der humanitären Anwandlung.

Dann hatte Frau Richter noch ein sehr prägnantes Hobby. Sonntags war ihr Waschtag, da durfte niemand in die Waschküche im Keller.

Zuerst hörte man im ganzen Haus ein furchtbares Getöse. Da wusste man, Frau Richter hat den Fahrstuhl in den Hades genommen und schlägt aus lauter Vorfreude, von der 4. Etage, wo sie wohnte, bis in den Keller, mit ihrem Stock in Bimbammodus an die Metallwände des Fahrstuhls. Das war ein Spektakel, dass sogar die Kellerasseln das Weite suchten.

Und dass Frau Richter wieder in ihrer Wohnung angekommen war, das konnte man dann an den Fahrstuhlwänden ablesen. Denn regelmäßig griff sie wohl mit nassen Fingern in die Waschpulverdose, um dann, auf dem Weg in ihr engeres Reich, mit ihnen über die Tür des Fahrstuhls zu streicheln. Ob sie die Fahrstuhltür so mochte, weiß ich nicht, aber die Fahrstuhltür und der Hauswart wünschten ihr regelmäßig die Pest an den Hals.

Andreas, der Hauswart, zündete am Tag als Frau Richter ins Altersheim kam, im Hohlen Zahn, der auch Gedächtniskirche genannt wird, eine Kerze an und lästerte nachher wieder, dass Frau Richter Gefängniswärterin in der DDR war. Dann sei sie nach Westberlin geflohen, aber sicherlich wäre das mit Honeckers Einverständnis gewesen, der dem Kapitalismus so eins auswischen wollte.

Und heute erzählt mir Andreas, Frau Richter sei auf dem Weg in die Hölle und er bemitleide den armen Teufel, der es bereuen wird, kein normaler Sterblicher geworden zu sein. Außerdem wird er, Andreas, ab heute alle seine Sünden beichten und bereuen und nie wieder etwas Böses tun, nur um Frau Richter nie wieder zu begegnen. Denn die wird sicherlich die Herrschaft über die Hölle schon am ersten Tag übernehmen.

Ich versuche übrigens das Gleiche wie Andreas zu tun und halte jetzt mal meine Klappe.

Obwohl, eieieieiei, was ich da noch alles erzählen könnte…

Nee, Friede sei mit ihr! Wenn sowas überhaupt möglich ist…

©Lisa Nicolis





 

24.5.23

Hoffnungvoll

 

Ich freu mich auf den nächsten Tag, 

da wird die Sonne sicher scheinen, 

es wird so sein, wie ich es mag

und mich mit warmen Licht vereinen.


Was wär ich, hoffnungsloser, heut?

Ich säß', vergrämt in meiner Seele,

läge mit meinem Sein im Streit

und merkte nicht, wie ich mich quäle.

© Lisa Nicolis

23.5.23

Das offene Fenster

Hin und wieder schien es,

ich hätte etwas aufgebaut,

ein Schloss,

mal eine Hütte,

mal nur den Rahmen

für ein Fenster,

das in die Ferne schaut.

Sah diesen Sand,

den ich formte,

vom Winde verwehn.

Meine Schlösser,

meine Hütten,

meine Zeit

blieben selten stehn.

Waren aus Sand,

selbst der Sand

purer Traum.

Nur dieses Fenster,

erhaben

über meine Zeit, 

meinen Raum,

steht so lang

es mein Leben noch hält.

Ist mein offenes Herz

hin zur Welt.

© Lisa Nicolis

22.5.23

Gelbe Rosen


Die vollen Rosen hängen schwer
an ihren zarten Stängeln.
Sie wiegen träg sich hin und her.
Sie lösen sich gleich Engeln,
die müd aus ihren Himmeln fallen.

Die Blätter haben keinen Halt,
sie schweben in den Garten
in einen dunklen Zeitenspalt,
wo Blumenengel warten
und ihren Himmel gelb bemalen.

Lisa Nicolis

 

21.5.23

Kosmisches

Die Sonnenscheibe zersägt die Nacht, 
wir wandern kopfüber im All. 
Das habe nicht ich mir ausgedacht, 
ich habe auch sonst keinen Knall. 

Wir sind auch der Kosmos, das ist halt Fakt, 
ist komisch, es zu akzeptier'n, 
sind Partikel im rechten Milchstraßentrakt 
und könnten uns einmal verirr'n. 

Aus Orions Sicht sind wir gar nicht da,
nur Begriff von dem Kleineralsklein.
Wir Menschen allein sind der Ansicht nah,
wir könnten die Allmacht sein.

Die Unendlichkeit schluckt uns Tag für Tag,
das kann ja kein Sterblicher schau'n.
Wenn keiner von uns es auch hören mag,
sie könnt uns wann immer verdau'n.

Lisa Nicolis



Das Wort zum Sonntag
Nee, Leute, ich bin keine Weltuntergangsprophetin, keine Verschwörungstheoretikerin uns keine Diplomphilosophin. Aber bissle Philosoph sind wir doch alle. Und ich habe da noch eine Muse in mir sitzen. Meine sitzt nicht in einer Gehirnzelle. Da sitzt immer nur Erato, superqualifiziert. Meine heißt Meinemuse und sitzt im kleinen Finger. Hat immer ein wenig Fingerspitzengefühl und ist sozusagen selfmade. Sie ist immer präsent und sie treibt mich zum Unsinn. Also müsst ihr das Meinermuse ankreiden, nicht mir.
Hab ich "ihr" gesagt? Nein, du kreide es ihr an. Ihr kommt ja nicht vorbei, weil ihr nichts von mir wisst. Die Werbung fehlt, aber ich mache keine Werbung für das, was ich nicht besonders großartig finde. So plappere ich vor mich hin und ob es jemand glauben würde, oder nicht, danach ginge es mir besser, wenn nicht das Leben dazwischengrätschen würde.
Servus!😁
 

20.5.23

Mein Nimmdichnichtsoernst


Den Hättichgernfreund und Werdniemalsmehrhaben 
vermisseichmanchesmalsehr.
Im Herzendadrinsind Ausgeglichenheitsräume
schon wieder (noch immer) recht leer.

Ist keiner, der hilft dieses Lebensflussschwergewicht 
endlichgemeinsamzutragen,
so muss ich den Restmeinesirdischenlebens
mit stoischer Ruheertragen.

Ichm üsstejet zteigen tlichbes sera ufpasse n,
wiei ch al leW orte hiersetz,
doc hhabeic hheutesog ark eineL usta 
ufdiesd oofSchreibere igesetz.

Hurra, in dem nervigen Buchstabenwirrwarr 
partout für gewisse Stunden,
hab ich dann mit Mühe und Not 
meinen Bestfriend auch wieder gefunden.

Lisa Nicolis

Mein leichter Anflug von Dadaismus.
Liebe Karin, dazu musst du dich nicht bemühen😉.Mir fehlen auch die Worte😂

19.5.23

einfach vergessen

wie wär es
ich trete hinaus
durch alle Türen

vergesse die Angst
drin im Tagebuch

oder im Hauch
einer Erinnerung

vielleicht an einem andren Ort
oder überhaupt

ich lege sie
in meine Handtasche

da ließe sie sich
schwer finden
auch wenn ich sie
mit mir
über alle Schwellen trage

© Lisa Nicolis

18.5.23

Abends am See

Die Luft schmeckt nach Frühling und See.

'ne Wolke hat kurz ein Gesicht.

Am Waldrand ein scheues Reh

schnuppert das dämmrige Licht.


Die Boote, gekettet am Steg

schaukeln störrisch gluckernd die Ruh.

Der Wind kommt am Wasserweg

abendkühl leis auf mich zu.


Der Mond hängt ganz müde am Baum

sein Licht nur entflutet ihm frei.

An Weiden, durch Wasserschaum,

ziehen still Schwäne vorbei.


© Lisa Nicolis

17.5.23

Gestrandet


Der Sehnsucht Stille lag
im Wellenrauschen
und ihre Tiefe war mein Höhenflug.
Bis mich im Sturm
das Hoch der kühlen Welle
in meine eigne dunkle Tiefe trug.

© Lisa Nicolis

13.5.23

Guten Morgen!


 Neuer Morgen

Aus den Zweigen
früh am Morgen
löst ein Zwitschern sich
zu mir
und zur zarten
Morgenröte
findet sich
der Tag zu ihr.
Schwer noch lähmt
die Nacht die Lider,
Stimmen
schwirren durch die Luft.
Fenster öffnen!
Tief durchatmen
-stadtgetränkten
Lebensduft.

© Lisa Nicolis

12.5.23

Baustelle


          aus dem Fenster schau ich
          nicht mehr die Schriftgröße
          auch wieder zu klein die
          Platten liegen mir im
          Magen der Hof braucht
          sie nicht und der Nachbar 
        hängt die Hundematte
          auf das Schutzgitter wenn
          ich am Fenster stehen sollte
          fallen meine Blicke eh in Würfeln
          zerlegt über die Stäbe ins Nichts
          der Mai aber zieht hundertfach
          buntes Beikraut aus dem Schutt

            Lisa Nicolis

Unserem Hof gewidmet, der seit drei Jahren in Schutt und Asche dahindümpelt, als Pendant zum Berliner Flughafen, nachdem man die drei Tannenbäume und das Hochbeet beseitigt hat. Die Natur allein arbeitet und macht mir jeden Tag die Freude, ein neues Unkrautblümchen, pardon, ein neues Beikrautblümchen auf dem Erdhaufen, den Bauresten zu entdecken.

11.5.23

Einen schönen Tag dir!

Die Brombeerenmär

Der Brombeerenbär liebte Brombeeren sehr,
drum fiel er so gern über Brombeeren her.
Da sagte 'ne Brombeere, Brombeerenbär,
ich bilde ab heut eine Brombeerenwehr
und Brombeer'n vernaschen wird für dich dann schwer.
Der Brombeerenbär sagt, nadann, bitte sehr,
 ich räum jetzt erst recht alle Brombeeren leer.
Die Worte die flogen ganz bös hin und her,
von Brombeere hin zu dem Brombeerenbär.
Am Ende da war in dem Brombeerenmeer
keine einzige Spur von 'ner Brombeere mehr.
Die Saison war zu Ende.

Lisa Nicolis

9.5.23

Natur

Sonne

atmet meine Haut.

In meinen Ohren

wohnt der Wind.

Im Blick ist tief

ein Bunt gefangen

Nach frischer Erde

schmeckt das Hier.

Ein Blütenmeer

verrieselt sanft.

Es flüstert

Freiheit pur in mir.

So leuchtend spinnt

der Mai mir heut,

aus gras’gen Düften,

bunten Garn

zu meines Sinnes

leichtem Kleid.

© Lisa Nicolis

6.5.23

Sonne


Die Sonne hat die Kraft,
den Horizont zu erweitern,
dich zu erheitern,
dir Freude zu geben,
dich aus den Tiefen zu heben,
dir Düfte zu schenken,
dich mit Licht zu tränken,
all die Schatten zu bewegen,
damit sie sich nicht auf deine Seele legen.

Lisa Nicolis