25.5.23

Donnerstag

Und zu diesem Bild fiel mir nichts ein. Nur plötzlich hatte ich diese Geschichte entdeckt und dachte mir, naja, muss nicht immer schlechte Lyrik sein, ich stell mal da eine Geschichte rein, die schon Geschichte ist.

Höllenherrschaft

Seit vielen Jahren wohne ich in demselben Haus. Das hat seine Vor- und Nachteile. Man kennt all die Nachbarn, man muss aber auch Nachbarn ertragen, die man viel zu gut kennt.

Da war die Frau Richter.

Sie humpelte mit ihren krummen Beinen und ihrem Stock durch alle sieben Etagen und klopfte, ja, ja, sie klopfte, sie klingelte nicht, da, wo sie sich vorgenommen hatte zu klopfen.

Wer sie noch nicht durchschaut hatte, war so unvorsichtig und öffnete die Tür. Keine noch so verborgene Kraft hätte nun Frau Richter aufhalten können, durch diese Tür auch hindurch zu hoppeln. Und wenn sie mal saß, wozu man sie nicht auffordern musste, dann saß sie ganz fest. Und sie saß, und saß, und saß solange sie eben sitzen wollte. Und man musste anhören, was in jeder der fünfzig Wohnungen des Hauses vor sich geht.

Denn Frau Richter wusste alles. Sie wusste, wann du weg gehst, wann du nachhause kommst, wer bei dir war, mit wem du dich gezofft hast, von wem du Post bekommst, wen du nicht leiden kannst, wer aufgeräumt hat, wer nicht, und viele, viele andere Sachen von anderen und von dir selbst, die nicht mal du wissen konntest.

Wie viele Leute sich schon hier die Köpfe eingeschlagen hatten, weil Frau Richter sie gegeneinander aufgehetzt hatte, darüber gibt es keine Statistik, aber es sind ganz sicher sehr, sehr viele gewesen.

Sie hatte mich mal überredet, sie zum Arzt zu begleiten, was ich aus humanitären Gründen nicht ablehnen konnte. Danach wusste ich, dass man aus humanitären Gründen Ähnliches durchaus ablehnen kann und soll.

Frau Richter dominierte nicht nur das Wartezimmer mit ihren lautstarken Bemerkungen, sprach nicht nur jeden Leidenden ins Nirwana, nein, der Nachhauseweg kam für mich dem Gang nach Golgotha gleich.

Ich musste ihr in verschiedene Läden folgen. Aus der Mehrzahl wurden wir mit Pauken und Trompeten publikumsgerecht rausgeschmissen, weil Frau Richter Hausverbot hatte und es ihr an der Rückseite vorbeiging, ob die Verkäuferinnen wie aufgescheuchte Hühner hinter uns her hechelten, oder der Ladeninhaber mit der Polizei drohte. Da, wo das passierte, werde ich mich hüten jemals wieder einzukehren, weil ich mich noch nie so geschämt hatte, wie an diesem Tag mit der humanitären Anwandlung.

Dann hatte Frau Richter noch ein sehr prägnantes Hobby. Sonntags war ihr Waschtag, da durfte niemand in die Waschküche im Keller.

Zuerst hörte man im ganzen Haus ein furchtbares Getöse. Da wusste man, Frau Richter hat den Fahrstuhl in den Hades genommen und schlägt aus lauter Vorfreude, von der 4. Etage, wo sie wohnte, bis in den Keller, mit ihrem Stock in Bimbammodus an die Metallwände des Fahrstuhls. Das war ein Spektakel, dass sogar die Kellerasseln das Weite suchten.

Und dass Frau Richter wieder in ihrer Wohnung angekommen war, das konnte man dann an den Fahrstuhlwänden ablesen. Denn regelmäßig griff sie wohl mit nassen Fingern in die Waschpulverdose, um dann, auf dem Weg in ihr engeres Reich, mit ihnen über die Tür des Fahrstuhls zu streicheln. Ob sie die Fahrstuhltür so mochte, weiß ich nicht, aber die Fahrstuhltür und der Hauswart wünschten ihr regelmäßig die Pest an den Hals.

Andreas, der Hauswart, zündete am Tag als Frau Richter ins Altersheim kam, im Hohlen Zahn, der auch Gedächtniskirche genannt wird, eine Kerze an und lästerte nachher wieder, dass Frau Richter Gefängniswärterin in der DDR war. Dann sei sie nach Westberlin geflohen, aber sicherlich wäre das mit Honeckers Einverständnis gewesen, der dem Kapitalismus so eins auswischen wollte.

Und heute erzählt mir Andreas, Frau Richter sei auf dem Weg in die Hölle und er bemitleide den armen Teufel, der es bereuen wird, kein normaler Sterblicher geworden zu sein. Außerdem wird er, Andreas, ab heute alle seine Sünden beichten und bereuen und nie wieder etwas Böses tun, nur um Frau Richter nie wieder zu begegnen. Denn die wird sicherlich die Herrschaft über die Hölle schon am ersten Tag übernehmen.

Ich versuche übrigens das Gleiche wie Andreas zu tun und halte jetzt mal meine Klappe.

Obwohl, eieieieiei, was ich da noch alles erzählen könnte…

Nee, Friede sei mit ihr! Wenn sowas überhaupt möglich ist…

©Lisa Nicolis