30.6.23

Lebensmut




Brichst du dir mal das eine Bein,
dann lerne eben fliegen.
Doch brichst du dir den Flügel auch,
bleibst du am Boden liegen.

Lisa Nicolis

29.6.23

An einem Faden


 Vor kurzem hingst du sorglos
an vielen bunten Fäden,
Hattest dran Spaß und zähltest
ganz selbstbewusst
nicht jeden.
Wurd’ einer schlapp,
hat’s Leben
`nen Neuen hochgeladen.
Doch heute hängst du nur noch
an einem einz’gen Faden.

© Lisa Nicolis

28.6.23

Koko



So, ich möchte jetzt die Geschichte von Koko erzählen. Eigentlich könnte ich in zwei, drei Sätzen Koko erklären, aber Koko verdient eine Geschichte. Ich muss aber etwas ausholen, um auf die Essenz der Geschichte hin zu weisen.

Der Weg hin zu allen meiner Erzählungen beginnt mit meiner Geburt. So weit gehe ich nun nicht zurück, nur bis zum 23. Februar 1959.

In der Schule sprachen wir grade mehr vom Abiball, als von Sachen, die Schüler vor dem Abitur, das bei uns Matura hieß, besprechen sollten. Danach ging es mit der Straßenbahn und zu Fuß über das schneebedeckte Feld nach Hause. Vater war arbeiten, Mama einkaufen oder sonst wo. Der Ofen war zu Hause geblieben, aber kalt.

Also ging ich Holz hacken, um dem Ofen mal richtig einzuheizen. Es war ja nicht das erste Mal.

Beim Holzhacken fallen die Scheite, der Erdanziehungskraft zuliebe, in kleinem Bogen nach rechts und links. Es gibt eben Naturgesetze, die auch ein Holzscheit zu respektieren hat.

Nur spielte das Schicksal an diesem Tag Schicksal. Ich hatte Holz genug und hätte damit aufhören können. Das Schicksal rieb sich aber schon die Hände mit hämischem Lächeln, legte noch ein Stück Holz auf den Holzklotz, ich schlug automatisch zu und das Schicksal zurück. Das rechte Scheit flog, physikalisch nicht gerecht, nicht im Bogen nach rechts, sondern vertikal nach oben, direkt auf das rechte Auge zu. 

Einzelheiten von diesem Tag an, bis viele Monate später, erspare ich dem Leser. Dann konnte ich erst feststellen, dass das rechte Auge erblindet war und dass ich mit dem linken Auge die Welt noch immer wahrnehme, wie sie vorher war, konnte aber niemals mehr als drei, vier Seiten eines Buches lesen. Sonst waren die Kopfschmerzen in immer wechselnder Intensität da.

Bücher waren für mich bis dahin das Wertvollste, das es auf dieser Welt überhaupt gab. Seit der zweiten Klasse bis zu diesem fast 18. Geburtstag las ich alles, was mir in die Hände fiel. Von den Romanheften meiner Mutter an, bis hin zu den medizinischen Fachbüchern aus der Bibliothek, die mein Vater in Fleißarbeit, mit einem Bleistift auf Papierbögen, kopierte. Ich las von den griechischen Philosophen an, bis hin zu (steinschweren Bänden) von Brehms Tierleben. Von der Bibel bis hin zu den Großen der Weltliteratur. Und plötzlich war es aus damit und ich konnte diesen Schlag kaum verkraften.

Später begann ich in einer Textilfabrik zu arbeiten, in einem Beruf, für den ich keine deutsche Benennung finde. Wurde aber bald in die Buchhaltung zwangsbefördert, ohne dass jemand meine Bitte erhört hätte, nicht dahin zu müssen. Kein Weinen, keine Argumentation half. Ich sollte mich nicht so gehen lassen...Raus zu fliegen, oder zu kündigen wäre fatal gewesen, denn Arbeitsplätze fand man nur schwer.

Dann kamen die 20 Jahre Finanz – und Lohnbuchhaltung, mit den zweiwöchigen Monatsbilanzen, zwölf bis vierzehnstündigen Überstunden, mit dem Ärger mit den ewig streikenden Olivetti Rechenmaschinen, den oft rasenden Kopfschmerzen, den massenhaften Schmerztabletten, den unzähligen Beruhigungstabletten.

Nach 20 Jahren sagten Körper und Seele, wir wollen nicht mehr. Heute weiß ich, dass es ein Burnout war. Doch damals hatte man von sowas keine Ahnung. Krank war man, wenn man Fieber hatte. Alles andere war eine Einbildung.

So stand ich eines Tages vor dem Tor unseres Hauses und ich konnte nicht durch das Tor gehen. Ich war festgetackert und ich konnte nicht mehr raus aus dem Haus. Jahre nicht mehr, bis mich die Geburt meiner Enkelin rettete.

Kein Mensch konnte verstehen, was mit mir los war. Auch ich nicht. Ich wurde als faul abgestempelt, eine, die, oh Schande, nicht mehr arbeiten will. Ich lebte damals im Haus meiner Schwiegereltern und im Haus nebenan wohnten die Großeltern meines Mannes und ein Teil seiner Verwandtschaft. Ich hatte damals Höllenqualen überstanden. Nicht arbeiten, war eine Schande und die Schuldgefühle erdrückten mich.

Mein Schwiegervater, der damals auch mein Betriebsleiter war, war der Einzige, der mich ernst genommen hatte und er schenkte mir einen Teil seines Gartens mit der Bemerkung, mach was draus, es wird dir gut tun.

Irgendwann, in einem April, baute er dann in seiner Werkstatt eine Brutstätte für Küken mit allem Drum und Dran, Glühbirnen und dergleichen. Pardon, mein Schwiegervater baute nie etwas, er ließ bauen. Er war im Betrieb und zuhause der Chef. 

Er schlug mir vor, auch eine Glucke anzusetzen.
Für mich, die das jährlich beobachtet hatte, wie es gemacht wird, war das trotzdem eine Herausforderung. Ständig unter Beobachtung, entschloss ich mich dann dazu, eine Glucke anzusetzen. In der Küche, neben dem Stuhl am Ofen, fand sie ein ruhiges Plätzchen und hielt drei Wochen durch. Ist ein einziges Mal hysterisch gackernd vom Nest gesprungen, als Opa sich auf den Stuhl setzen wollte und sein Pups für die Ohren der Glucke die annehmbaren Dezibels überschritten hatte.

Nach drei Wochen hatte ich einen Karton voller piepsenden gelben Bällchen, die meine ganze Aufmerksamkeit benötigten.

Draußen war es mittlerweile warm geworden und ich umzäunte hinter dem Schuppen eine begraste Fläche, mit sonnigen und schattigen Plätzen, brachte den Karton mit den quirligen Wesen dahin und schüttete sie sanft in das Gras.

Die Oma war entsetzt. Sowas kann man mit Küken nicht tun, die werden alle eingehenden. Doch das Gegenteil war der Fall. Meine Hübschen blieben alle am Leben und die meines Schwiegervaters starben alle weg.

Wenn ich meine Arbeit im Haus erledigt hatte, brachte ich immer die Küken raus und setzte mich zu ihnen, stundenlang sogar. Ein Kopfschütteln allerseits. Diese Menschen waren auf dem Dorf groß geworden, hatten Tiere, die versorgt und geschlachtet wurden, mit denen man aber keine Konversationen führten, wie von mir behauptet wurde. 

Mit der Zeit wuchsen meine Süßen und ich merkte, wie das eine Küken immer wieder meine Nähe suchte. Ich nahm es oft hoch, streichelte und liebkoste es. Als ich dann später den Zaun entfernte, verstreuten sich meine Schützlinge im ganzen Garten. Nur der eine, der mittlerweile von mir Koko benannt wurde, lief nie weg, sondern war immer hinter mir her. Wenn ich im Hof war, konnte ich keinen Schritt tun, ohne dass Koko mir gefolgt wäre. Immer mit einem leisen Kokokoko.

Koko brachte mir sehr viel Seelenheil. Sie, es war eine sie, hatte mir so viel Schönes und Gutes geboten, wie kein Mensch um mich herum.

Nach paar Monaten begann sie Eier zu legen. Das erste Ei war riesengroß und als ich es aufschlug, waren zwei Dotter drin. Ich war mächtig stolz auf sie und hatte irgendwie eine große Genugtuung für „unsere“ Leistung.

Dann kamen aber die schlimmen Stunden für mich. Koko legte nicht nur morgens ein Ei, sie legte am späten Nachmittag noch ein Ei, das aber nur noch eine weiche Schale hatte. Ich bekam manchmal vier Eier am Tag und ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Ich sah und spürte, wie sie litt.  Schweren Herzens musste ich meine Schwiegermutter darum bitten, Koko zu schlachten. In der damaligen Zeit, als in Deutschland das Wirtschaftswunder regierte, waren bei uns die Fleischereien voller leerer Haken, ohne etwas drauf und ein Huhn war sehr kostbar.

Ich versteckte mich in meinem Zimmer und ging drei Tage lang nicht mehr essen. Auch wenn es für die anderen lächerlich war, ich kam ganz schwer über diesen Verlust hinweg.

Ihr zu Ehren hatte ich später meinen Wellensittich Koko genannt. Das war auch einer, der mir viel Freude schenkte. Er flog mir durch alle Zimmer nach, wenn ich staubsaugte oder anderes zu tun hatte. Im Bad setzte er sich auf den Rand der Wanne, wenn ich drin saß, oder versuchte es, sich auf dem rutschigen Rand festzuklammern. Ich legte dann ein Handtuch auf den Rand und er setzte sich drauf und putzte demonstrativ sein Gefieder. Wenn ich mich ins Bett legte, schlüpfte mir der Schlingel in meinem Ausschnitt, so dass ich mich kaum noch zu bewegen traute, weil ich ihn nicht stören wollte. Wollte ich ein Mittagsschläfchen machen, zog ich immer ein eher langärmeliges Etwas an, denn er schlüpfte gerne auch in einen Ärmel.

Im Sommer hing Kokos Käfig tagsüber draußen, neben der Eingangstür. Als ich dann eines Tages aus dem Garten kam, sagte mir die Oma, die Katze hätte Koko gefressen. 
Die Tür zum Käfig war offen, keine Spur von einer einzigen Feder und ich wusste, ich muss nicht die Katze hassen.

Lisa Nicolis

P.s: Meine Geschichten sind keine Klagen, kein Anklagen, kein Jammern. Ich erzähle nur.


27.6.23

Sprühregen


Heute Morgen um sechs ziehe ich die Rollos hoch und lege mich ins Bett zurück. Von da kann ich das Bermudadreieck am Himmel beobachten, wo sich vorgestern die Wolken in nichts aufgelöst hatten. Doch heute treibt der kalte Wind die Quellwolken im Laufschritt drüber und keine einzige Wolke hat das Bedürfnis. sich aufzulösen.
Da fällt mir eine Geschichte ein, eine wahre Geschichte. Denn alle Geschichten, die ich hier auf meinen Blogs erzähle, sind wahre Geschichten, nichts dazu gedichtet, nur der Wortwechsel ist halt nicht identisch, weil ich mir unmöglich merken kann, wie genau und wortwörtlich die Unterhaltung abgelaufen ist. Geschichten erfinden, das kann ich gar nicht.

Also, es war ein wunderschöner Sommernachmittag mit glasklarem Himmel. Ich saß auf der Bank in Hof, dem Hochbeet gegenüber, in dem drei prächtige Tannen, zwei immergrüne Eichen, namenlose Büsche, Hortensien und andere Blümchen das Auge erfreuten.
Meist saß ich alleine da, nur hin und wieder kam mein Mann dazu, oder eine Nachbarin, die ihren Müll in den Mülltonnen hinter den Büschen und Tannen entsorgt hatte.
Für mich waren das die schönsten Momente am Tag.
Eines Tages schien es mir, als würde 2-3m vor mir ein Sprühregen fallen. Meine Augen spielen mir öfters komische Sachen vor und ich dachte mir, wieder so eine Sehstörung.
Doch dann merkte ich, dass auf dem Gehweg die Platten Spuren von Tropfen aufweisen. Ich ging hin und fühlte den Sprühregen auf meiner Haut. Die Tropfen waren nur ganz fein zu sehen und dehnten sich in einem Radius von 4-5m aus. Darüber war der Himmel absolut wolkenlos. Es dauerte eine ganze Weile und ich dachte mir, irgendein Nachbar besprüht seine Blumen oder auf dem flachen Dach unseres Hauses war noch eine Pfütze vom vergangenen Regen und der Wind, der unten nicht zu spüren war, treibt diese paar Tropfen über das Beet. Damit war die Sache gegessen.

Ich weiß nicht mehr, ob es noch am nächsten Tag oder später war, dass dieses Phänomen sich wiederholte. Damals saß mein Mann neben mir und dachte sich auch nicht viel dabei.
Ich ging etwas weiter weg, um die Fenster zu beobachten. Einige standen offen, einige waren geschlossen, aber niemanden sah ich irgendwo im Fenster stehen und Blumen gießen.
Dieses Phänomen wiederholte sich an wolkenlosen Tagen, in verschiedenen Abständen, den ganzen Sommer hindurch. Außer meinem Mann und mir hatte niemand diesen Sprühregen wahrgenommen und ich hatte mich gehütet, über dieses komische Getröpfel zu sprechen. Genoss es nur und staunte.

Im nächsten Sommer kam mein Mann eines Tages hereingestürmt und sagte „es geht wieder los!“ Ich wusste nicht so recht, was er meinte und ging unschlüssig hinter ihm her. Er blieb am Fenster im Flur stehen und deutete hinaus. Ich stand da, guckte raus und wusste nicht genau, was los war. Erst nach einer Zeit ging mir ein Licht auf. Bei klarem Himmel wieder der Sprühregen.
Ich faste seine Hand und sagte „Komm wir gehen aufs Dach rauf. Ich will wissen, was da los ist“.
In der siebenten Etage zogen wir das Klapptor nach unten und stiegen die Treppen hoch.
Und -es regnete fein und unaufdringlich. Der Himmel war klar und mir war es auch klar, da passiert etwas, das nur ein Experte, oder vielleicht auch der nicht, hätte klären können.

Der Hof wird gerade und endlich, nach drei Jahren, nachdem die Tannen gefällt wurden und alles kaputtgemacht wurde, neu gepflastert. Ich weiß nicht, was da alles noch rein gebaut wird (vielleicht auch eine neue Bank) und ich weiß auch nicht, ob wir jemals wieder dieses Phänomen beobachten können. Vielleicht hatten ja unsere hohen Tannen eine besondere Kraft, oder die wunderschönen Hortensien, oder, wer weiß das schon, vielleicht waren wir ja diejenigen, die der Himmel beglücken wollte. Naja, Hirngespinste eben, die man sich so macht, wenn man keine Erklärung für etwas hat.


Wenn ich mich wieder in das Fenster lümmeln kann, ohne auf Schuttberge und Schutzgitter!  zu gucken (drei Jahre saß ich hinter Gittern und bin dankbar, dass es nicht lebenslänglich wurde) werde ich vielleicht feststellen können, ob der Himmel über uns tatsächlich seine Eigenheiten hat, oder die Stadt selbst den Himmel in Unsicherheit versetzt.
Mein Mann erzählt diese Geschichte immer wieder jedem, der sich mal einfindet bei uns. Ich nicke nur dazu, habe mich bis jetzt aber gehütet, davon zu sprechen, weil ich mir dachte, im Geiste zeigt mir jeder den Vogel.
Nachdem ich mir heute im Internet über dieses Phänomen vorlesen ließ, traue ich mich endlich, darüber zu sprechen. Juhuu! Wir sind nicht verrückt, denn wenn, dann sind es alle im Internet, die schon das Gleiche erlebt haben.

Meine Geschichten sind immer wahre Geschichten, denn ich kann ja gar keine Geschichten erfinden.

26.6.23

Naturzauber


Der Himmel trägt Wolken,
sie wallen schwer,
gebauschter Zeit gleich
und Meer.
Jetzt müsste ich gehen,
durch Tür und Tor
durch all meine Ängste davor.
Im Regen zuhause
das war ich seit eh,
die Sonne war mir nur Asyl.
Mein Heimweh macht Pause.
Die Sonne, der Regen
sind heute nichts mehr
als Gefühl.


Lisa Nicolis


Naturzauber
So Quatschky, jetzt leg mal los und erzähle, was ich gestern erlebt habe.
Also, ich stehe gerne abends am Fenster, um bisschen frische Luft zu atmen und beobachte gerne das bisschen Himmel über mich, wo ich im Sommer auf den Saharasand warte, um bei Sonnenuntergang das herrlichste Farbenspiel zu erleben, das ich je vorher im Leben gesehen hatte.
So ca. 30- 40 m von meinem Fenster entfernt liegt im Hof das fünfstöckige Nachbarhaus. Die Sonne war vor einer Stunde hinter dem Haus eingetaucht in die Straßen dahinter und der Himmel war noch klar und strahlend.
Plötzlich sah ich, wie eine dicke schwarze Wolke heranzog und über dem Haus einfach inne hielt. Natürlich war sie sicherlich weiter entfernt als über dem Nachbarhaus, doch aus meiner Sicht stand sie über dem Dach des Hauses.
Ich dachte mir, ups, da kommt ein Gewitter auf. Doch die Wolke blieb stehen und zog nicht mehr weiter. Ich dachte, ich sehe nicht gut, was bei mir kein Wunder ist. Doch die Wolke hatte nicht im Sinn, weiter zu ziehen. Und ich hatte noch nie eine Wolke gesehen, die einfach nicht mehr weiter will, obwohl sie recht zügig bis auf eine gewisse Stelle geschwebt war.
Allmählich, bemerkte ich, wie sie sich langsam auflöste. Sie wurde immer heller und heller und dann war sie weg. Einfach nicht mehr da! Es dauerte ungefähr 20 Minuten, bis aus der Wolke nichts mehr da war. Bevor ich mich von meinem Staunen erholen konnte, kam schon die nächste Wolke. Sie blieb genau da stehen, wo vorher die erste Wolke stehen geblieben war. Und es passierte das Gleiche, sie zog nicht weiter sie löste sich auf. Bei der dritten Wolke konnte ich nicht mehr zusehen, weil die Augen und mein Nacken höllisch schmerzten. Erst im Nachhinein fiel mir ein, ich hätte das ganze Spektakel aufnehmen können und es wird mir ewig leid tun, dass ich das nicht getan habe. Denn wieviele "normale" Menschen, außer Meteorologen vielleicht, konnten schon so intensiv in den Himmel gucken, um solche Phänomene zu beobachten.
Mein Herz wurde weit und ich war so glücklich darüber, so ein Himmelsgeschenk bekommen zu haben, dass ich alles um mich herum vergaß. Wenigstens plaudere ich es jetzt aus, wenn ich die Welt schon nicht mit den Bildern beglücken kann.

25.6.23

Medusa



Morgens, düster und schwül, der 
Traum klammert in mir und 
ich träume ihn weiter mit offenen 
Augen, als wär ich noch immer 
in ihm gefangen. Kopfgeburt, 
im Haar der Medusa verirrt. 
Köpfe sie, Perseus, bevor sie 
den Schleier lüftet. Will raus 
aus den schlabbrigen Ketten. 
Ich brauch meine 
Blutdrucktabletten.

Lisa Nicolis

24.6.23

Spätheute


Dem Himmel war scheinbar nichts klar, 
die Sonne war längst nicht mehr drauf. 
Und als es dann Spätheute war, 
da fraßen die Wolken es auf. 
Paar Tröpfchen noch fallen ins Beet, 
die Erde verschlingt sie im Nu. 
Dann wird’s mir zu dumm und zu spät 
-ich geh heut bis morgen zur Ruh.

Lisa Nicolis

21.6.23

Du fehlst


 von hier
nach dort
nach irgendwo
reichten die Seelenbrücken

 Gedanken bauten sie gerne

von irgendwo

nach hier

von dort

die Schatten der Brücke mit den

Bogenpfeilern aus Herztönen

wo unsre Worte sich fanden

liegen nun im Fluss

der Zeit


 Lisa Nicolis

20.6.23

EinStein


Lag ein Stein auf einer Spitze.
Unter ihm der Berg vor Hitze,
und vor Kälte, Sturm und Wind
klimawandelte geschwind.

Eines Tags, ganz ohne Halt,
rollt er in 'ne Felsenspalt.
Endlich, sagt er, kann ich ruh'n,
hab nun gar nichts mehr zu tun.

Muss nicht frieren, muss nicht schwitzen,
muss nicht stehen, muss nicht sitzen.
Und mein Kismet war nicht dumm,
lieg jetzt nur noch faul herum.

Lisa Nicolis

19.6.23

Der Blick aus dem Fenster


Flugzeuge schneiden
den Himmel der Stadt
in Stücke
und ziehn eine Brücke
von da nach dort.

Immer ist überall
 ein anderer Ort,
nur hier
ist immer der Gleiche.

Lisa Nicolis

13.6.23

In der Natur


Ich werde
von all deinem Grünen gefangen,
von all deinen knorrigen Rinden bewacht,
geführt von Alleen, so oft schon begangen,
von all deinen Wipfeln dezent überdacht.

Besprühst mir
die Schmerzen mit wohliger Kühle,
die Unruh verhüllt in der Baumstille Hauch.
Ich löse mich auf in Atome und fühle,
wie ich mich verforme zu Blatt und zu Strauch.

Bin klangsüß
das Vogelgezwitscher im Laube,
bin's Rauschen der zahllosen Blätter im Wind,
bin Wolkenverspieg'lung im Teich, Blütentraube,
bin wohlig geborgen in dir, wie ein Kind.

Lisa Nicolis


 

Blumengruß an dich


 

10.6.23

Blaue Orchideen



                So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
                sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
                hinter den Blütendolden, die ein Blau
                nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

                Sie spiegeln es verweint und ungenau,
                als wollten sie es wiederum verlieren,
                und wie in alten blauen Briefpapieren
                ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

                Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,
                Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
                wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

                Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
                in einer von den Dolden, und man sieht
                ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

Rainer Maria Rilke
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Damit schließe ich meine "Rilkeserie", weil ich ganz große Schwierigkeiten habe, ein Bild dazu zu basteln. Bild ist nicht wichtig bei solchen Texten, aber das Bilderbasteln ist hier zuhause und es ist mein Hobby, dem ich leider nur noch mit größter Mühe nachgehe, aber es hält mich wach, solange meine Augen noch offen zu halten sind. Und bis ich wieder ein Text aus eigener Produktion poste, schiebe ich jetzt paar Bilder dazwischen, damit der Vergleich mit Rilke nicht so auffällt.
😁

9.6.23

Sehnsucht


                Ich möchte jemanden einsingen,
                bei jemandem sitzen und sein.
                Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
                und begleiten schlafaus und schlafein.
                Ich möchte der Einzige sein im Haus,
                der wüßte: die Nacht war kalt.
                Und möchte horchen herein und hinaus
                in dich, in die Welt, in den Wald.
                Die Uhren rufen sich schlagend an,
                und man sieht der Zeit auf den Grund.
                Und unten geht noch ein fremder Mann
                und stört einen fremden Hund.
                Dahinter wird Stille. Ich habe groß
                die Augen auf dich gelegt;
                und sie halten dich sanft und lassen dich los,
                wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Rainer Maria Rilke
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8.6.23

Ich lebe mein Leben



                Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
                die sich über die Dinge ziehn.
                Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
                aber versuchen will ich ihn.

                Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
                und ich kreise jahrtausendelang;
                und ich weiß noch nicht: 
                bin ich ein Falke, ein Sturm
                oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke
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7.6.23

Du, Gott


                Du Gott, ich möchte viele Pilger sein,
                um so, ein langer Zug, zu dir zu gehn,
                und um ein großes Stück von dir zu sein:
                du Garten mit den lebenden Alleen.
                Wenn ich so gehe, wie ich bin, allein, –
                wer merkt es denn? Wer sieht mich zu dir gehn?
                Wen reißt es hin? Wen regt es auf, und wen
                bekehrt es dir?
                Als wäre nichts geschehn,
                –lachen sie weiter. Und da bin ich froh,
                dass ich so gehe, wie ich bin; denn so
                kann keiner von den Lachenden mich sehn.

Rainer Maria Rilke
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6.6.23

Lehnen im Abendgarten beide


                Lehnen im Abendgarten beide,
                lauschen lange nach irgendwo.
                "Du hast Hände wie weiße Seide..."
                Und da staunt sie: "Du sagst das so..."

                Etwas ist in den Garten getreten.
                und das Gitter hat nicht geknarrt,
                und die Rosen in allen Beeten
                beben vor seiner Gegenwart.

Rainer Maria Rilke
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5.6.23

Das Rosen-Innere


                Wo ist zu diesem Innen
                ein Außen? Auf welches Weh
                legt man solches Linnen ?
                Welche Himmel spiegeln sich drinnen
                in dem Binnensee
                dieser offenen Rosen,
                dieser sorglosen, sieh:
                wie sie lose im Losen
                liegen, als könnte nie
                eine zitternde Hand sie verschütten.
                Sie können sich selber kaum
                halten; viele ließen
                sich überfüllen und fließen
                über von Innenraum
                in die Tage, die immer
                voller und voller sich schließen,
                bis der ganze Sommer ein Zimmer
                wird, ein Zimmer in einem Traum.


Rainer Maria Rilke
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3.6.23

Weißt du


                Weißt du, ich will mich schleichen
                leise aus lautem Kreis,
                wenn ich erst die bleichen
                Sterne über den Eichen
                blühen weiß.

                Wege will ich erkiesen,
                die selten wer betritt
                in blassen Abendwiesen-
                und keinen Traum, als diesen:
                Du gehst mit.

Rainer Maria Rilke
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