28.6.23

Koko



So, ich möchte jetzt die Geschichte von Koko erzählen. Eigentlich könnte ich in zwei, drei Sätzen Koko erklären, aber Koko verdient eine Geschichte. Ich muss aber etwas ausholen, um auf die Essenz der Geschichte hin zu weisen.

Der Weg hin zu allen meiner Erzählungen beginnt mit meiner Geburt. So weit gehe ich nun nicht zurück, nur bis zum 23. Februar 1959.

In der Schule sprachen wir grade mehr vom Abiball, als von Sachen, die Schüler vor dem Abitur, das bei uns Matura hieß, besprechen sollten. Danach ging es mit der Straßenbahn und zu Fuß über das schneebedeckte Feld nach Hause. Vater war arbeiten, Mama einkaufen oder sonst wo. Der Ofen war zu Hause geblieben, aber kalt.

Also ging ich Holz hacken, um dem Ofen mal richtig einzuheizen. Es war ja nicht das erste Mal.

Beim Holzhacken fallen die Scheite, der Erdanziehungskraft zuliebe, in kleinem Bogen nach rechts und links. Es gibt eben Naturgesetze, die auch ein Holzscheit zu respektieren hat.

Nur spielte das Schicksal an diesem Tag Schicksal. Ich hatte Holz genug und hätte damit aufhören können. Das Schicksal rieb sich aber schon die Hände mit hämischem Lächeln, legte noch ein Stück Holz auf den Holzklotz, ich schlug automatisch zu und das Schicksal zurück. Das rechte Scheit flog, physikalisch nicht gerecht, nicht im Bogen nach rechts, sondern vertikal nach oben, direkt auf das rechte Auge zu. 

Einzelheiten von diesem Tag an, bis viele Monate später, erspare ich dem Leser. Dann konnte ich erst feststellen, dass das rechte Auge erblindet war und dass ich mit dem linken Auge die Welt noch immer wahrnehme, wie sie vorher war, konnte aber niemals mehr als drei, vier Seiten eines Buches lesen. Sonst waren die Kopfschmerzen in immer wechselnder Intensität da.

Bücher waren für mich bis dahin das Wertvollste, das es auf dieser Welt überhaupt gab. Seit der zweiten Klasse bis zu diesem fast 18. Geburtstag las ich alles, was mir in die Hände fiel. Von den Romanheften meiner Mutter an, bis hin zu den medizinischen Fachbüchern aus der Bibliothek, die mein Vater in Fleißarbeit, mit einem Bleistift auf Papierbögen, kopierte. Ich las von den griechischen Philosophen an, bis hin zu (steinschweren Bänden) von Brehms Tierleben. Von der Bibel bis hin zu den Großen der Weltliteratur. Und plötzlich war es aus damit und ich konnte diesen Schlag kaum verkraften.

Später begann ich in einer Textilfabrik zu arbeiten, in einem Beruf, für den ich keine deutsche Benennung finde. Wurde aber bald in die Buchhaltung zwangsbefördert, ohne dass jemand meine Bitte erhört hätte, nicht dahin zu müssen. Kein Weinen, keine Argumentation half. Ich sollte mich nicht so gehen lassen...Raus zu fliegen, oder zu kündigen wäre fatal gewesen, denn Arbeitsplätze fand man nur schwer.

Dann kamen die 20 Jahre Finanz – und Lohnbuchhaltung, mit den zweiwöchigen Monatsbilanzen, zwölf bis vierzehnstündigen Überstunden, mit dem Ärger mit den ewig streikenden Olivetti Rechenmaschinen, den oft rasenden Kopfschmerzen, den massenhaften Schmerztabletten, den unzähligen Beruhigungstabletten.

Nach 20 Jahren sagten Körper und Seele, wir wollen nicht mehr. Heute weiß ich, dass es ein Burnout war. Doch damals hatte man von sowas keine Ahnung. Krank war man, wenn man Fieber hatte. Alles andere war eine Einbildung.

So stand ich eines Tages vor dem Tor unseres Hauses und ich konnte nicht durch das Tor gehen. Ich war festgetackert und ich konnte nicht mehr raus aus dem Haus. Jahre nicht mehr, bis mich die Geburt meiner Enkelin rettete.

Kein Mensch konnte verstehen, was mit mir los war. Auch ich nicht. Ich wurde als faul abgestempelt, eine, die, oh Schande, nicht mehr arbeiten will. Ich lebte damals im Haus meiner Schwiegereltern und im Haus nebenan wohnten die Großeltern meines Mannes und ein Teil seiner Verwandtschaft. Ich hatte damals Höllenqualen überstanden. Nicht arbeiten, war eine Schande und die Schuldgefühle erdrückten mich.

Mein Schwiegervater, der damals auch mein Betriebsleiter war, war der Einzige, der mich ernst genommen hatte und er schenkte mir einen Teil seines Gartens mit der Bemerkung, mach was draus, es wird dir gut tun.

Irgendwann, in einem April, baute er dann in seiner Werkstatt eine Brutstätte für Küken mit allem Drum und Dran, Glühbirnen und dergleichen. Pardon, mein Schwiegervater baute nie etwas, er ließ bauen. Er war im Betrieb und zuhause der Chef. 

Er schlug mir vor, auch eine Glucke anzusetzen.
Für mich, die das jährlich beobachtet hatte, wie es gemacht wird, war das trotzdem eine Herausforderung. Ständig unter Beobachtung, entschloss ich mich dann dazu, eine Glucke anzusetzen. In der Küche, neben dem Stuhl am Ofen, fand sie ein ruhiges Plätzchen und hielt drei Wochen durch. Ist ein einziges Mal hysterisch gackernd vom Nest gesprungen, als Opa sich auf den Stuhl setzen wollte und sein Pups für die Ohren der Glucke die annehmbaren Dezibels überschritten hatte.

Nach drei Wochen hatte ich einen Karton voller piepsenden gelben Bällchen, die meine ganze Aufmerksamkeit benötigten.

Draußen war es mittlerweile warm geworden und ich umzäunte hinter dem Schuppen eine begraste Fläche, mit sonnigen und schattigen Plätzen, brachte den Karton mit den quirligen Wesen dahin und schüttete sie sanft in das Gras.

Die Oma war entsetzt. Sowas kann man mit Küken nicht tun, die werden alle eingehenden. Doch das Gegenteil war der Fall. Meine Hübschen blieben alle am Leben und die meines Schwiegervaters starben alle weg.

Wenn ich meine Arbeit im Haus erledigt hatte, brachte ich immer die Küken raus und setzte mich zu ihnen, stundenlang sogar. Ein Kopfschütteln allerseits. Diese Menschen waren auf dem Dorf groß geworden, hatten Tiere, die versorgt und geschlachtet wurden, mit denen man aber keine Konversationen führten, wie von mir behauptet wurde. 

Mit der Zeit wuchsen meine Süßen und ich merkte, wie das eine Küken immer wieder meine Nähe suchte. Ich nahm es oft hoch, streichelte und liebkoste es. Als ich dann später den Zaun entfernte, verstreuten sich meine Schützlinge im ganzen Garten. Nur der eine, der mittlerweile von mir Koko benannt wurde, lief nie weg, sondern war immer hinter mir her. Wenn ich im Hof war, konnte ich keinen Schritt tun, ohne dass Koko mir gefolgt wäre. Immer mit einem leisen Kokokoko.

Koko brachte mir sehr viel Seelenheil. Sie, es war eine sie, hatte mir so viel Schönes und Gutes geboten, wie kein Mensch um mich herum.

Nach paar Monaten begann sie Eier zu legen. Das erste Ei war riesengroß und als ich es aufschlug, waren zwei Dotter drin. Ich war mächtig stolz auf sie und hatte irgendwie eine große Genugtuung für „unsere“ Leistung.

Dann kamen aber die schlimmen Stunden für mich. Koko legte nicht nur morgens ein Ei, sie legte am späten Nachmittag noch ein Ei, das aber nur noch eine weiche Schale hatte. Ich bekam manchmal vier Eier am Tag und ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Ich sah und spürte, wie sie litt.  Schweren Herzens musste ich meine Schwiegermutter darum bitten, Koko zu schlachten. In der damaligen Zeit, als in Deutschland das Wirtschaftswunder regierte, waren bei uns die Fleischereien voller leerer Haken, ohne etwas drauf und ein Huhn war sehr kostbar.

Ich versteckte mich in meinem Zimmer und ging drei Tage lang nicht mehr essen. Auch wenn es für die anderen lächerlich war, ich kam ganz schwer über diesen Verlust hinweg.

Ihr zu Ehren hatte ich später meinen Wellensittich Koko genannt. Das war auch einer, der mir viel Freude schenkte. Er flog mir durch alle Zimmer nach, wenn ich staubsaugte oder anderes zu tun hatte. Im Bad setzte er sich auf den Rand der Wanne, wenn ich drin saß, oder versuchte es, sich auf dem rutschigen Rand festzuklammern. Ich legte dann ein Handtuch auf den Rand und er setzte sich drauf und putzte demonstrativ sein Gefieder. Wenn ich mich ins Bett legte, schlüpfte mir der Schlingel in meinem Ausschnitt, so dass ich mich kaum noch zu bewegen traute, weil ich ihn nicht stören wollte. Wollte ich ein Mittagsschläfchen machen, zog ich immer ein eher langärmeliges Etwas an, denn er schlüpfte gerne auch in einen Ärmel.

Im Sommer hing Kokos Käfig tagsüber draußen, neben der Eingangstür. Als ich dann eines Tages aus dem Garten kam, sagte mir die Oma, die Katze hätte Koko gefressen. 
Die Tür zum Käfig war offen, keine Spur von einer einzigen Feder und ich wusste, ich muss nicht die Katze hassen.

Lisa Nicolis

P.s: Meine Geschichten sind keine Klagen, kein Anklagen, kein Jammern. Ich erzähle nur.