4.
Kapitel
19.02.1993.
Für Lora habe ich das schönere Zimmer richtig nett eingerichtet. Die Wände sind
sauber, ein Teppich liegt da, frisch gewaschene Gardinen hängen an den
Fenstern. Sogar der Fernseher funktioniert.
Eine
Freundin hat Lora auch gefunden. Es ist Anna, Franks Tochter. Sie ist im
gleichen Alter wie Lora, ein quirliges kleines Pummelchen. Lora scheint mit ihr
Spaß zu haben. Sie tollen durch den Garten, als würden sie sich seit immer
kennen.
Paul
hat im Gruselkabinett geschlafen.
"War
das eine ruhige Nacht!"
Ich
habe mit Lora die ausziehbare Couch geteilt. Für uns war die Nacht genauso
ruhig. Man hört keine Geräusche. Selten fährt ein Auto vorbei.
20.2.1993.
Frank hat uns morgens frische Brötchen und eine Zeitung gebracht.
Später
fährt er uns mit seinem Trabant durch die Gegend. Zeigt uns das Rathaus, die
Krankenkasse, den Bahnhof. Er erklärt uns die Welt. Es ist schön zu wissen,
wohin man zu gehen hat, ohne sich zu verlaufen. Alle Ämter sind zu Fuß zu
erreichen. Was uns besonders freut.
Frank
ist ein Hauptgewinn für uns.
Im
hinteren Zimmer haben wir noch keinen Schrank. Hier liegt aus diesem Grund
alles durcheinander.
Ich
habe alle Hände voll zu tun, um im Haus Ordnung zu schaffen und es wohnlich zu
machen.
22.2.1993.
Habe Lora in der Schule angemeldet. Sie ist verzagt und unglücklich. Erst als
nachmittags zwei Mädels aus ihrer Klasse erscheinen, um ihr den Stundenplan zu
bringen und um sie kennen zu lernen, verfliegen ihre Bedenken. Schon hat sie
ihr fröhliches Lachen wieder.
23.2.1993.
Loras erster Schultag in Berlin. Ich bin gespannt, wie sie sich einleben wird.
Sie
kommt froh nach Hause. Morgen muss ich sie nicht mehr in die Schule begleiten,
verkündet sie. Die Mädels kommen sie abholen. Der Weg dahin ist ja nicht weit.
Kinder
scheinen das größere Anpassungsvermögen zu haben. Lora ist mittlerweile
selbstständig geworden. Ich würde sagen, sie hat Persönlichkeit.
Mir
fällt ein Stein vom Herzen, zu wissen, dass es ihr gut geht.
Paul
versucht zu reparieren, was zu reparieren ist. Werkzeuge fehlen ihm, von den
benötigten Materialien ganz zu schweigen.
26.2.1993.
Frank ist unbezahlbar. Der liebe Gott hat ihn uns geschickt, oder besser
gesagt, uns zu ihm geschickt. Er hilft, wo es nur geht. Solange er hier ist,
schleppt er immer wieder etwas an. Mal einen Hammer, mal Nägel, mal Tapeten
oder sonst was Nützliches.
Seine
Mutter ist auch eine nette.
Was
hätten wir bloß ohne diesen Menschen getan?
Nur
dieser Iwo ist ein Ekel. Warum muss es in meinem Leben immer ein Wesen geben,
das mir die Freude am Dasein stört? Dabei ist er hässlich, hat krumme Beine und
ein Gesicht wie ein vollgefressener Vampir. Und bissig ist er. Eben ein
Pekinese. Man darf ihm oder Frauchen nicht zu nahe kommen, schon schnappt er
nach dem Bein, das ihm am nächsten steht.
Halleluja!
Haben uns am Arbeitsamt angemeldet. Hat Stunden gedauert, aber ich bin
erleichtert. Jetzt müssen wir uns am Sozialamt melden (schon wieder brrr!). Ich
schäme mich, dahin zu gehen. Betteln ist das Letzte, das ich mir vorstellen
kann. Unser ganzes Vermögen sind leider nur 100 DM. Eine andere Möglichkeit
gibt es nicht.
27.0
2.1919. Kuhl hat den Schrank und die Couch von seinem Sohn gebracht. Jetzt
sieht es bei uns im Zimmer auch etwas freundlicher aus. Nur der Ofen im
hinteren Zimmer qualmt höllisch. Wir atmen mehr Rauch als Luft ein.
Berlin,
oder das, was für uns erstmals Berlin ist, ist jetzt, bei diesem ewigen Nieseln
deprimierend. Ich hoffe, dass es im Sommer schöner sein wird. Besonders auf den
Garten freue ich mich. Auf den schönen Rasen und die Blumen, die wir hier
pflanzen werden.
01.03.1993.
Lange hatte ich kein so schreckliches Gefühl von Abwehr und Entrüstung in mir.
Was man im Sozialamt erlebt, ist einfach unmöglich. Das Benehmen unserer
Landsleute ist niederschmetternd beschämend für uns. Romas, nicht Rumänen, wie so gerne veralgemeinert wird, die hier die Hände
derer küssen müssten, die ihnen Hilfe zukommen lassen, benehmen sich wie Wilde
aus dem Urwald es nicht tun würden. Ich wundere mich nicht, dass die
Sachbearbeiter uns wie Luft behandeln, wenn sie hören, dass wir aus Rumänien
kommen. Mir ist speiübel geworden. Für mich einer der schlimmsten Tage meines
Lebens.
Ein
Lichtblick trotzdem, als ich in der Schule höre, dass Lora bei den Kindern und
der Lehrerin gut ankommt.
02.03.1993.
Heute haben wir unsere Sozialhilfe bekommen. Kuhl hatte uns gesagt, wir würden
auch Hilfe für die Renovierung bekommen. Es ist aber seine Pflicht, das Haus in
Ordnung zu bringen, sagt man uns. Da hat er uns reingelegt. Dachte ich mir
doch, dass er nicht mit offenen Karten spielt und unsere Unwissenheit für sich
ausnutzt. Freie Marktwirtschaft nennt man das also, wo ich auf der Hut sein
muss, um nicht ausgenommen zu werden und wo ich auch frei bin, mich mit anderen
zu messen, wenn ich die nötigen Qualitäten dazu habe. Und das nötige Geld.
Egal. Irgendwie wird es weitergehen.
Robert
hat uns aus Italien geschrieben. Sie haben Geld gespart und wollen uns die
Reise bezahlen, wenn wir ihnen nur endlich ihre Tochter bringen. Seit zwei
Jahren haben er und meine Schwiegertochter Lora nicht gesehen. Da sie sich
illegal in Italien aufhalten, können sie Lora nicht behalten. Weil sie weit weg
von einer Ortschaft, mitten in einem Weinberg, wohnen und tagsüber arbeiten. In
die Schule könnten sie das Kind nicht bringen, weil sie dann auffliegen würden.
Ein Jammer.
Er
weiß nicht, wie er uns das Geld schicken könnte. Leider habe ich auch keine
Ahnung von solchen Dingen.
Paul
ist wieder in einer Phase, in der man an ihn nicht herankommt. Zerfahren,
nervös. Wenn ich bloß wüsste, was ihn bedrückt. Er konnte noch nie über seine
Gefühle sprechen. Das Einzige was er kann, mich anschreien, wenn ich es wage,
ihn irgendwie zu trösten.
Ich
wünsche mir so sehr, dass mir endlich etwas passiert, das die Erdanziehung
entkräftet und mich einfach nur schwerelos schweben lässt.
03.03.1993.
Ach, ist das ärgerlich! Ich habe versucht, die Wand im Vorzimmer zu tapezieren.
Hab so was noch nie gemacht. In Rumänien streicht man die Wände einfach mit
Wandfarbe an.
Die
Wand sieht wie ein stürmisches Meer aus. Nur dass der Sturm auf dem Meer sich
irgendwann legt und die Wellen sich beruhigen. Meine Wellen werden das wohl
nie. Habe wahrscheinlich zu viel Kleister gespart.
Paul
arbeitet in der Küche. Die losen Platten müssen irgendwie an die Decke
angebracht werden. Doch wenn man einen Nagel in die Wand schlägt oder eine
Schraube einschrauben will, rieselt es hinter den Platten, als wären die Wände
nur aus Luft und Sand. Er flucht, er nörgelt und das Chaos um ihn herum macht
mir Gänsehaut. Nicht nur dieses Schlachtfeld. Auch die Kälte. Sie sitzt in
jeder Zelle meines Körpers.
Dann
fließt auch noch die alte Waschmaschine von Frank aus. Über den ohnehin
feuchten Boden der Küche plätschert es lustig. Das Gute daran ist, dass der
Großteil des Wassers irgendwo in den vielen Ritzen versickert. Ob es jetzt
einen unterirdischen See gibt, kann ich nicht wissen. Trockenlegen werde ich
ihn auch nicht können.
Ich
habe erstmals, seit wir hier sind, die Nase voll von unserem neuen Leben.
04.03.
1993. Bin heute schlecht gelaunt. Es liegt wohl an dem Rauchgeruch, der in der
Wohnung wie ein Albtraum liegt. Erinnert mich an die Kindheit. An die
elterliche Wohnung, an die Enge, an die Armut, an das Elend nach dem Krieg. Ich
fühle mich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Als hätte ich nie einen
Fortschritt erlebt. Bin nur Jahrzehnte älter geworden. Erreicht habe ich nichts.
Das bisschen Leben zwischen einst und jetzt war zwar etwas ausgefüllt mit
Wohlstand und seichtem Dahinvegetieren. Es fühlt sich an, wie nur geträumt. Ein
Traum, den ich nie träumen wollte. Ich musste ihn träumen, weil ich mich
willenlos tragen ließ, vom Willen der anderen, vom Schicksal, von was auch
immer. Zu schüchtern, um zu widerstehen, zu wenig selbstbewusst, um mich zu
behaupten. Mein Entschluss auszuwandern, war der Drang, mich loszulösen von
allem, was an mir fremd haftete.
Nun
bin ich in einem neuen Fremdsein verhaftet. Nur der Geschmack der Bitterkeit
ist derselbe.
07.03.1993.
Wir feiern Pauls Geburtstag. Franks Familie ist eingeladen. Die Oma, seine
Frau, Heike, die ältere Tochter und Anna, die jüngere.
Habe
viel investiert und vorbereitet. Die Stimmung ist gut. Bei den Kindern zu gut.
Es wird herumgetollt, dass es mir zu bunt wird. Wenn es Annas Eltern nicht
stört, dann muss es mir auch gut sein.
Paul
und Oma sind beschwipst. Frank isst mit einem Appetit, dass meine Bedenken, zu
viel auf den Tisch gepackt zu haben, verfliegen.
Für
einen kleinen Moment wünsche ich mir, jetzt mit den Gemeindemitgliedern aus
Kirchdorf in erlesener Runde zu sitzen.
Doch
ich weiß auch, dass in unserer Situation sicherlich diese einfachen Menschen
für uns wichtig sind. Es wird gelebt, wie es kommt. Es wird nichts hinterfragt
und analysiert. Nichts wird kompliziert. Für mich speziell eine Auszeit vom
vielen Philosophieren über Sein und Nichtsein.
08.03.1993.
Paul ist nervös wie nie zuvor. Teils kann ich ihn verstehe. Er möchte soviel
tun. Mal fehlen Werkzeuge, mal Material. Er möchte Erfolge sehen. Alles kommt
zu langsam voran.
Wir
haben kein Geld, um zu investieren. Das meiste kommt von Frank. Immer wieder
reicht er irgendein Brett, eine Schraube, eine Farbdose rüber.
Für
Paul trotzdem eine festgefahrene Situation. Oft schreit er mich an. Für mich
noch ungewohnt. In Rumänien hat er getrunken, doch dann war er eher
aufdringlich und enorm fröhlich. Das hier ist nicht schöner.
Ich
verkrieche mich im hinteren Zimmer und bemitleide mich selbst.
09.0
3.1993. Oma kommt täglich zum Kaffee. Sie fühlt sich wohl bei uns. Muss nicht
alleine zu Hause sitzen. Für mich ist es schwer, ein gemeinsames Gesprächsthema
zu finden. Sie ist eine einfache Frau. Wie lange kann man über das Wetter
sprechen? Tratschen kann ich nicht mit ihr, weil ich die Nachbarn nicht kenne.
War nie eine Klatschbase, aber hin und wieder wäre so ein Getratsche nicht
schlecht. Man könnte Frust abbauen. Von der hiesigen Politik versteh ich kaum
was, also kann ich auch über diese nicht lästern.
Wie
anders war es mit Frau Emsig, den andern…
Ich
bin wohl das undankbarste Geschöpft auf Gottes weiter Welt.
10.
03.1993. Habe mich als Hobbyarchäologin entpuppt. Vor der Haustür habe ich
unter einer handbreiten Erdschicht ausgelegte Steinplatten entdeckt. Die habe
ich alle freigelegt. Die Fliederbüsche vor der Tür sind zurechtgeschnitten.
Jetzt
haben wir eine schöne Terrasse vor dem Eingang. Dann streiche ich noch die
Fensterrahmen von außen mit brauner Farbe. Wenn es zu grünen und blühen
beginnt, wird es hier im Hof ein kleines Paradies geben. Ich freue mich darauf.
Bin
müde, aber auch zufrieden, dass ich ein Stück vorwärtsgekommen bin.
Habe
Kopfschmerzen und Brechreiz. Wohl von dem Einatmen der Farbdämpfe.
11.03.1993.
Habe den Rasen von Unkraut befreit, die Blumenbeete um die Zäune zu den rechten
und linken Nachbarn gelockert und von Steinen und Unkraut gesäubert.
Kann
mich kaum aufrecht halten.
Als
ich ins Haus gehe, falle ich fast in Ohnmacht. Die Ordnung ist dahin. Paul
repariert die Toilette. Vorzimmer und Küche stehen voll mit allerlei Sachen.
Werkzeuge überall verstreut.
Er
flucht schon wieder jämmerlich. Mag sein, dass das Entzugserscheinungen sind.
War doch früher die Flasche seine beste Freundin. Wenn es so wäre, könnte mich
das trösten. Ich würde mich nicht so beleidigt fühlen.
Wenn's
endlich schon Sommer wäre, dass ich mich raussetzen könnte. Weg von diesem
scheußlichen Innenleben des Hauses.
15.03.1993.
Habe viel zu waschen. Die alte DDR-Waschmaschine rumpelt ordentlich. Bin aber
froh, dass ich sie habe.
Die
Wegbauer drehen mir vor dem Haus das Wasser ab.
Mein
Ärger verfliegt, als Frank mich einlädt, zum Einkaufen mitzufahren. Schön dass
er an mich gedacht hat. Wenigstens muss ich die weite Strecke nicht zu Fuß
laufen.
Dann
wird es mir doch zu bunt. Als er mir jedes Produkt erklärt. Dass ich dies nicht
kaufen soll, weil das andere billiger ist, dass es reicht, wenn ich dies und
nicht jenes kaufe. Bis mein Gesicht so brennt, dass mir die Lust am Einkaufen
vergangen ist.
Familie
Meder aus Bayern hat geschrieben. Wenn wir aus Italien zurückkommen, sollen wir
unbedingt bei ihnen vorbeischauen. Bin darüber erfreut. Kenne sie seit vier
Jahren, aber nur per Briefwechsel. Ihr Paket mit Kleidung und Süßigkeiten, das
sie vor Jahren an einen anonymen Empfänger nach Rumänien, durch die
Hilfsorganisation, bei der ich tätig war, geschickt hatten, war als
Weihnachtsgeschenk für Lora bei uns gelandet. Seitdem stehen wir in Kontakt
miteinander. Jetzt freue ich mich, sie persönlich kennenzulernen. Ein
Lichtblick.
17.03.1993.
Paul ist unerträglich. Er kann sich nicht zügeln. Ist nervös, ungeduldig. Noch
nie im Leben gab es so viel Streit. Das Schlimmste ist, dass ich nicht
angeschnauzt werde, weil ich etwas falsch gemacht habe. Er schmeißt einfach
seine schlechte Laune über Bord, ohne zu beachten, dass er mich damit schuldlos
trifft. Möchte mich am liebsten irgendwohin verkriechen.
18.
03.1993. Gelbsucht kriege ich vor Ekel. Wenn ich denke, es ist alles vorbei,
wimmelt es auf einmal wieder vor Käfern und Spinnen im Haus. Ich fühle mich,
als hätte man mich in einen Horrorfilm festgenagelt und ich kann nicht mehr
entkommen. Habe nur noch Gänsehaut.
19.03.1993.
Wunderschönes Wetter heute. Bin voller Freude. Besonders die Vorfreude auf
Bayern ist groß. Mehr als auf Italien.
20.03.1993.
Unser Vermieter hat uns zu sich nach Hause eingeladen. Wunderschöne Villa im
Westen. Nur, wenn ich soviel Geld hätte, würde ich mich ein wenig anders
einrichten.
Seine
Frau ist ein wenig komisch, wie sie das auch zugibt. Und eine nicht sehr gute
Hausfrau. Ich biete an, das Mittagessen selbst zu kochen. Sie ist sichtlich
erleichtert.
Ich
merke, dass diese Familie nicht in Eintracht lebt. Die Dame des Hauses scheint
auf den Rest ihrer Angehörigen keinen guten Einfluss zu haben. Aber wer weiß,
was hinter ihrer Fassade steckt. Vielleicht ist sie komisch, weil sie
unglücklich ist.
Ich
frage mich, ist es besser einen reichen Mann zu haben und unglücklich zu sein
oder einen armen Mann zu haben und unglücklich zu sein?
Trotzdem
habe ich den Tag als schön empfunden und der Ausflug in den Westen hat mir gut
getan. Ich weiß, dass ich ab jetzt alles tun werde, um an eine ordentliche
Wohnung zu kommen. Und es muss im Westen sein.
22.
03.1993. Ich denke heute viel an die Heimat. Ohne dass ich ein bedrückendes
Gefühl hätte. Kein Heimweh, keine Sehnsucht. Nur frage ich mich, wie jetzt zu
Hause wohl alles aussieht? Wer wird den großen Garten bearbeiten? Wer wird
meine wunderschönen Blumen hegen und pflegen?
Ich
merke, dass ich alles beiseite dränge, das mit den Angehörigen zusammenhängt.
Selbsterhaltungstrieb? Oder sind mir die Leute drüben momentan nicht so
wichtig, wie unser Weiterkommen hier? Eigentlich ist es mir egal, ich bin froh,
dass ich mich nicht mit Heimweh herumschlagen muss.
Bekomme
soviel Post, dass mir das Beantworten der Briefe schwer fällt. Sogar aus
Amerika, von einem Cousin meines Vaters, den bisher niemand kannte. Er betreibt
Ahnenforschung und ist auf uns gestoßen. Bin überrascht, als ich den Brief
öffne und mir das Gesicht meines Vaters entgegenstrahlt. Erst nach und nach
begreife ich, dass das gar nicht Vater ist. Diese Ähnlichkeit! Meine beiden
Brüder gleich meinem Vater kaum. Und dieser fremde Mann scheint das Abbild
meines geliebten alten Herren zu sein. Seine (Bobs) Großeltern sind vor dem
ersten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert und dort geblieben. Während mein
Großvater väterlicherseits, samt Familie, zurückkommen musste, weil er als
österreich-ungarischer Staatsangehöriger in den ersten Weltkrieg ziehen musste.
So
sitze ich also nicht in Amerika, sondern hier in Berlin. Besser gesagt- es
würde mich ja gar nicht geben, wenn mein Großvater in Amerika geblieben wäre,
Ich säße jetzt also nirgendwo. Verdanke ich mein Leben dem ersten Weltkrieg?
Makabere Vorstellung. Da bin ich aber froh, dass ich Köpenick erleben darf.
Nachmittags
sitze ich viel vor dem Fernseher. Es gibt Spannendes zu sehen. Alles, was neu
ist, sauge ich in mich auf wie ein Schwamm. Nur habe ich jetzt einen Kopf wie
mit Regenwasser gefüllt. Wie sich Regenwasser im Kopf anfühlt, weiß ich zwar
nicht, aber so stelle ich es mir vor…
Paul
versucht die feuchte Ecke in der Küche auszutäfeln. Da Schrauben, Kleber oder
Nägel an dieser butterweichen Wand scheitern, ist kaum was zu machen. Keine
gute Luft um uns. Spannung bis zum Bersten.
23.
03.1993. Ein Berg von Wäsche ist gebügelt und in sich zusammengeschrumpft. Ich
auch, vor Müdigkeit. Ist mir sogar gelungen, die Wäsche in den kleinen Schrank
komplett unterzubringen.
Oma
erscheint pünktlich zum Kaffee. Die angebotene Suppe und das Eis verschmäht sie
auch nicht. Ich weiß, das tut ihrem Zuckerspiegel nicht gut. Sie muss wohl
selbst entscheiden, ob sie den hoch und niedrig haben will.
Die
Küche ist mittlerweile künstlerisch mit allerlei Sperrplatten ausgetäfelt. So
hundertwassermäßig. Habe ein gespaltenes Verhältnis zu diesem Panorama. Da ich
aber keines Simsalabims mächtig bin, muss ich mich damit abfinden.
Auch
dem faustdicken Loch, das aus der Küche in den Garten guckte, wurde der Garaus
gemacht.
Ich
entwickle für dieses Hexenhäuschen langsam heimische Gefühle.
24.03.1993
Es
wäre so schön, wenn Ordnung Ordnung bliebe. Paul hat aber jeden Tag neue Ideen,
wie er mein heiles Weltbild zerstören könnte. Wenn er arbeitet, breitet er sich
im ganzen Haus wie eine Epidemie aus.
25.03.1993.
Oh, mein Gott! Musste heute ins Arbeitsamt. War's mir schlecht! Ich konnte mich
kaum auf den Beinen halten. Meine letzte Stunde wird nicht schlimmer werden.
Das sicherlich des Kuchens wegen, den wir mit Oma gestern verputzt hatten. Mit
viel Schlagsahne drauf. So was gab's in Rumänien lange nicht. Da muss man sich
jetzt bei jeder Gelegenheit den Bauch vollschlagen. So macht man seine
Erfahrungen…
Paul
ist ein einziger nervöser Kotzbrocken. Ich weiß nicht mehr recht, wie ich das
noch ertragen kann. Vielleicht liegt es an diesen etlichen Liter Kaffee, die er
täglich in sich hineinschüttet. Ich denke, der ist gesundheitlich auch nicht
mehr oben. Oder oben nicht mehr gesund. Wie man's nimmt.
Komischerweise
kann er bei den Nachbarn immer nur seine liebenswürdige Seite hervorzaubern. In
mir sieht er wahrscheinlich noch die Verbindung zu einer Familie, der er nur
durch den Alkoholismus entfliehen konnte.
26.03.1993.
Heute konnten wir am Sozialamt nichts mehr erreichen. Weil wir gestern beim
Arbeitsamt nicht alle Unterlagen bekommen hatten. Bloß unseren Urlaubsantrag
haben wir erledigt. Damit wir während unserer Italienreise keine
Schwierigkeiten bekommen. Also müssen wir am nächsten Mittwoch wieder hin.
In
der Stadt habe ich mich heute wohl gefühlt. Alles mit ganz anderen Augen
gesehen. Ich bin fast euphorisch. Es scheint mir alles so wunderschön und
spannend zu sein. Und wert, das Leben hier neu zu entdecken.
29.03.1993.
Es schneit, als wäre es Januar. Auf dem Weg ins Arbeitsamt friere ich, wie ich
in diesen Winter nur auf der Landstraße von Kirchdorf nach Wohldorf gefroren
habe. Ich bin nur noch am Bibbern. Der Wind dringt mir bis in die Knochen.
Übermorgen
fahren wir nach Italien. Vielleicht wird es dort wärmer sein. Ich bin
gefühllos. Keine Erwartungen, keine Freude. Die letzten Monate haben aus mir
einen Eisblock geformt. Oder mir einen Eispanzer aufgestülpt. Im
Unterbewusstsein mag es brodeln. Was wenn der Panzer zu schmelzen beginnt? Was,
wenn wieder der schüchterne, scheue Pechvogel zum Vorschein kommt? Wie soll ich
den durch diese neue Situation retten?
30.03.1993.
Heute sind mir alle Nervenstränge durchgebrannt.
Ich
habe so viel zu tun. Und Paul bringt mir Oma und ihre Cousine rüber. Die beiden
sitzen seit Stunden hier, während Paul den perfekten Gastgeber spielt und ich
nichts tun kann. Meine Vorbereitungen für die Reise stagnieren.
Deswegen
hab ich ihm diesmal die Leviten gelesen, aber ordentlich. So lammfromm wie nach
diesem Donnerwetter habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Scheinbar
wäscht so ein Sturm seine Gehirnwinden frei von Gefühlsmüll und er wird
vernünftiger.
31.03.1993.
Frank ist der Größte. Er kennt uns kaum, hat sich aber sofort erklärt, uns 1000
DM vorzustrecken, damit wir uns Fahrscheine kaufen können. Am Geldautomaten hat
er mir gezeigt, wie alles funktioniert. Ich bin beeindruckt.
Bin
gespannt, mit welchen Gefühlen ich aus Italien nach Berlin zurückblicken werde.
Wie werde ich unser Leben hier mit dem Abstand von 2000 km sehen? Falls ich
Heimweh bekomme, welche Heimat wird die Oberhand haben?
Es
ist schön, dass wir das Haus noch vor der Abreise in Ordnung bringen konnten.
Es sieht jetzt gepflegt aus. Ich gehe beruhigt auf Abstand.
Ich
merke, wie gut ich mich hier eingelebt habe. Das gleiche kann ich von Lora
behaupten. Für Paul kann ich leider nicht sprechen.
1.4.1993.
Die meisten Menschen sind heimatverbunden, ob sie sich das eingestehen oder
nicht. Sie lieben das, wenn auch unbewusst, was man so Heimat nennt. Die Straße
vor dem Haus, das Weizenfeld hinter dem Haus. Den Ort, wo sie die ersten
Schritte gemacht, wo sie die erste schlechte Note bekommen haben. Da, wo sie
die erste Liebe, ja selbst die erste große Enttäuschung ihres Lebens erlebt
haben.
Die
meisten Menschen reisen auch gerne, weil irgendwann der vertraute Kreis zu eng
geworden ist. Oder man in diesem einzigen Leben ja auch etwas von der Welt
sehen möchte.
Ich
weiß nicht, wann bei mir der Wunsch gereift ist, nach Deutschland auszuwandern.
Natürlich
hat man schon in der Kindheit Heimatlieder gesungen, gesagt bekommen, dass
Deutschland das Mutterland ist. Und geträumt hat jeder von uns, Deutschland
erleben zu dürfen. Auswandern aber, das war nie so mein Ding.
Ich
versuche mir im Nachhinein ins Gedächtnis zu rufen, wann dieser Gedanke
erstmals da war. War es an jenem Morgen, als ich meine Enkelin in den
Kindergarten bringen sollte, ohne ihr Pausenbrot machen zu können, weil kein
Brot mehr im Hause war? In der Stadt ging ich in den Lebensmittelladen, um wie
eine Bettlerin um ein Stück Brot zu betteln. Die Verkäuferin verlangte meinen
Ausweis. Ich gab ihn ihr mit zitternden Händen.
"Sie
haben keinen Wohnsitz in der Stadt", sagte sie und gab mir den Ausweis
zurück. Ich bat mit Tränen in den Augen um eine Scheibe Brot für die Kleine.
Die Verkäuferin kehrte mir wortlos und selbstherrlich den Rücken zu.
Oder
war es an einem der vielen Tagen, als der Strom ausgeschaltet wurde, gerade als
mein Jüngster die Hausaufgaben machen musste oder die Waschmaschine mitten im
Waschgang stehen blieb?
Oder
war es der Moment, als ich erfahren hatte, dass meine Nachbarin, die
Millionärin, mit Mann und Kind in Deutschland gut angekommen ist und
Sozialhilfe bekommt?
Oder
war es der Tag, an dem ich erfahren hatte, dass unsere Ration an Mehl und Öl seit
monatelangem Warten, mal wieder ausgefallen ist?
Oder
waren es die vielen Tage, die ungezählten Tage, als mein Mann erst gegen Morgen
betrunken nach Hause kam?
Wahrscheinlich
haben all diese Momente und viele andere mehr den Grund ergeben, dass ich mich
entschlossen hatte, alles hinter mir zu lassen und irgendwo meine Zelte neu
aufzuschlagen.
Ich
bin losgezogen, ohne zu wissen, was mich erwarten wird. Ich war noch nie im
Ausland gewesen. Doch, doch! 1983 war ich in Wien bei meinem Onkel zu Besuch.
Damals war ich durch meine Krankheit arbeitslos geworden und durfte auf Reise
gehen. In den zwei Wochen hatten mich die Eindrücke einfach erschlagen und ich
konnte nichts so richtig genießen oder verarbeiten. Es war nur wie ein Traum.
Ich konnte nichtmal Erinnerungen richtig abspeichern.
Was
Deutschland bedeutet, davon hatte ich keinen Schimmer. Konkretes konnte ich
über Deutschland nicht wissen. Neckermann Kataloge waren der einzige
Anhaltspunkt, um mir ein Bild über Deutschland zu machen. Und ein paar euphorische
Berichte, der zu Besuch weilenden einstigen Kollegen, die wir offiziell gar
nicht hören durften. Ich muss sagen, das Bild, das ich mir von Deutschland
malte, war äußerst bunt und vielversprechend. Trotzdem waren es nicht die
Butterberge, sondern die Sehnsucht nach Selbstständigkeit, nach Abstand von
Korruption, Misere und Hoffnungslosigkeit, die mich in Bewegung gesetzt hatten.
Das
sind so meine Gedanken, während ich wie in einen Albtraum im Liegewagen nach
München leide. Ich habe mir den oberen Liegeplatz ausgewählt und so dicht unter
der Waggondecke, auf der harten, schmalen Liege, leide ich an Hitze und
Klaustrophobie. Erst nach und nach beruhige ich mich. Schlafen kann ich aber
nicht. Bei der Ankunft in München schmerzen mir alle Glieder, als hätte ich die
ganze Nacht hindurch Sandsäcke geschleppt.
Der
Bahnhof in München beeindruckt mich. Die Infrastruktur und das Treiben um mich
herum faszinieren. Das bisschen München, das wir sehen, ist schön und teuer.
Ich
spreche noch mit den Meders am Telefon. Sie freuen sich auf unsere Rückkehr.
Dann
geht es weiter nach Italien. Die Reise ist ermüdend. Doch der Weg in die ewige
Stadt ist einfach wunderschön. Die Landschaft ist malerisch, verträumt und
eigenartig. Anders als die Landschaft in Rumänien und Deutschland. Es ist
etwas, das ich bisher nur auf Bildern gesehen habe. Die Zypressen beeindrucken
mich am meisten, weil sie die Landschaft anders prägen als gewohnt.
Ankunft
abends in Rom.
Das
Wiedersehen ist unbeschreiblich. Wir haben uns alle verändert, besonders
natürlich Lora. Ihre Eltern können die Hände nicht von ihr lassen. Es wird
gelacht und geweint. Wir sind wieder eine Familie.
Robert
wohnt in einem kleinen schäbigen Häuschen, inmitten eines riesigen Weinbergs.
Wohin man auch sieht, alles nur Weingärten. Das Häuschen ist innen unfreundlich
und kalt. Überall, in der Küche, in den beiden Zimmern, sind Kacheln und
Fliesen gelegt. Die Wände sind mit dunkelblauer Ölfarbe bestrichen. Als wäre
man in einer Eisgrube gelandet. Der große Kamin in der Küche täuscht über
dieses Gefühl nicht hinweg. Mein Traum vom warmen Italien scheint sich nicht zu
erfüllen. Und meine Ohren sind noch immer taub von den vielen Tunnels, durch
die wir gerast sind.
02.04.1993.
Die ganze Nacht hindurch friere ich. Es regnet in Strömen. Ich hoffe, dass
dieses Sauwetter nicht alle zwei Wochen, die wir hier sind, anhält.
Die
Mädels aus Rumänien, die von unserem Hiersein erfahren, kommen erfreut und
erzählen, wie schwer sie es haben. Dass die Patronin sie unmenschlich und kalt
behandelt. Dass Italien ihnen zum Hals heraushängt. Alle wollen etwas Geld
verdienen, um wieder in die Heimat zurückzukehren
Robert,
der auf dem Bau arbeitet, hatte innerhalb eines Jahres einen einzigen freien
Sonntag gehabt. Ich weiß gar nicht, wie er das durchhält. Obwohl er am besten
dran ist. Man sucht und schätzt ihn und seine Arbeit. Trotzdem ist sein Leben
nicht leicht. Allerdings braucht er seinen Ingenieurtitel nicht. Hier werden
nur starke Arme gebraucht.
03.04.1993.
Ein ekelhafter Wind weht, als wir durch Rom ziehen. Es geht ja meist über den
Markt, weil Dominique für Lora Kleider kaufen will. Sie findet Loras Kleidung
scheußlich. Allerdings merkte auch ich, dass die Leute hier in Italien
eleganter gekleidet sind, als wir das in Deutschland gewohnt sind.
Das,
was ich von Rom sehe, gefällt mir außerordentlich gut. Und es ist nur ein
winziger Teil der Stadt, den wir durchlaufen. Auch der Dreck auf der Straße
stört mich nicht. Irgendwie gehört das alles zusammen, die unermessliche
Schönheit und die hässlichen Schattenseiten. Viel können wir nicht sehen, weil
die Kinder arbeiten müssen. So rasen wir an allem zu schnell vorbei, als dass
wir es näher betrachten könnten.
Alle
Rumänen aus der Umgebung sind zu Besuch. Ein freudiges Wiedersehen. Wieder ist
Lachen und Weinen zusammen. Zwischen diesen Leuten herrscht eine Hassliebe. Sie
brauchen sich und sind trotzdem alle Konkurrenten. Wer erhascht die bessere
Arbeit? Wer verdient besser? Wer hat die schönere Wohnung?
Ich
bekomme tatsächlich erstmals Sehnsucht nach Berlin.
Abends
gehen wir ins Manhattan, um eine köstliche Pizza zu essen. Dann sind wir zu
Besuch bei Adua, einer lautstarken, lustigen Italienerin. Ihre Wohnung ist
bezaubernd und so wunderschön eingerichtet, dass bei mir Neid aufkommt. Ihre
Tochter bringt uns mit ihren Wagen nach Hause.
05.04.1993.
Wir machen einen wunderschönen Ausflug nach Lago Gandolfo. Aduas Mann,
Gilberto, fährt uns in seinem Wagen dahin. Soviel Schönheit! Kein Wunder, das
alle Künstler der Welt nach Italien kommen. Es ist als hätte Italien die Farben
und Formen erfunden. Hier kann man für das künstlerische Schaffen Anregungen
bekommen. Hier kann man Augen und Sinne für das Schöne formen. Schade, dass
noch die Blumenpracht fehlt. Aber später, wenn es warm wird, hätte ich es hier
eh nicht ausgehalten. Gerne würde ich ganz alleine vor einem Gebäude, vor einer
Statue oder einfach vor dieser wunderschönen Landschaft Halt machen. Träumen.
Die anderen brauchen das aber nicht. Sie kennen alles schon und hetzen weiter.
Robert
arbeitet viel. Es tut mir leid, wenn ich sehe, wie müde und verhärmt er abends
nach Hause kommt. Dominique klagt, dass ihr die Hände an den Drähten, die
zwischen den Weinstöcken gespannt sind, anfrieren, wenn sie hier arbeitet.
06.04.1993.
Man fühlt die Nähe des Meeres. Ein kühler Wind bläst von früh bis spät. Noch
weiß ich nicht, aus welcher Richtung er kommt. Weiß nicht, wo Osten und Westen,
wo Süden und Norden ist. Aber meine Migräne schert das wenig, wo Süden oder
Norden ist. Der Wind scheint ihr nicht zu behagen.
Habe
einen Schwindelanfall. Backe aber trotzdem einen Apfelkuchen. Robert hat mir ja
schon bei der Ankunft gedroht:
"
So, jetzt musst du jeden Tag einen Kuchen backen. Seit zwei Jahren vermisse ich
den."
Nach
dem Essen muss ich mich hinlegen. Fühle mich unwohl. Nach zwei Stunden Schlaf
bin ich wieder fit.
Leider
nur eine Stunde lang. Da kommt Adua mit Gilberto. Als Adua zu sprechen beginnt,
sind meine Kopfschmerzen wie auf Kommando wieder da. Eine Schmerztablette
bringt nichts. Erst nach der zweiten bin ich wieder etwas besser dran.
Und
habe riesige Sehnsucht nach Deutschland.
07.04.1993.
Bon giorno, Tagebuch!
Mein
Verhältnis zu Dominique ist unbeschreiblich.
Schwiegermutter-Schwiegertochterbeziehung?
So wie ich das kennen, weit gefehlt. Freundschaftliches Verhältnis? Vielleicht
passt so was wie knüppeldicke Kumpel eher.
Es
gibt nichts, was Dominique mir nicht anvertraut. Und wenn sie einen Rat
braucht, ruft sie nicht ihrer Mutter an. Sie wendet sich an mich.
An
den Abenden, als Ceausescu uns den Strom abdrehte, verharrten wir, bis zu dem
nach zwei Stunden später eintretenden Aufblitzen des Stromes, immer in der
gleichen Position. Ich saß auf der Couch, sie lag auf dem Rücken, den Kopf auf
meinem Schoß.
"Erzähl
mir was aus deinem Leben", war ihr liebster Spruch.
Nie
hatte sich jemand um das gekümmert, was in meinem Leben passiert ist. Dominique
zog mir mit Geschick alles aus der Nase. Und weil ich gut über mich selbst
lachen kann, schüttete sie sich während meiner Erzählungen vor Lachen aus.
Kerzen
zündeten wir keine an, weil unsere Kerzen furchtbar stanken und rauchten. So
blieb uns im Dunkeln nichts anderes übrig, als zu erzählen.
Die
Männer saßen in einer Ecke des Zimmers und quälten sich ab, das ständig
gestörte "Freies Europa" im Radio zu empfangen. Lora saß dann bei
ihrem Vater und Dominique und ich hatten uns viel zu erzählen.
So
sitzen wir auch an diesem Morgen beisammen. Dominique hat sich für den Rest des
Tages frei genommen. Lora spielt vor dem Haus mit Paul Fußball.
Und
wir quasseln wie in alten Zeiten.
Sie
fährt mir mit dem Zeigefinger über das Gesicht.
"Du
bist nicht gealtert. Du hast noch immer deine feinen Züge."
Ich
blicke auf sie herunter und sage ernst:
"Und
du bist viel älter und hässlicher geworden. Auch deine Nase ist größer."
Sie
sieht mich mit großen Augen an.
"Ist
das wirklich so?" fragt sie erschrocken.
Ich
nickte nur ernst und traurig.
Sie
sieht mich lange an und dann klingt es böse:
"Und
du hast Haare in der Nase!"
Wie
immer brechen wir in ein schallendes Gelächter aus. Als wären wir nie getrennt
gewesen und als läge nicht Trauer, Hoffnungslosigkeit, Demütigungen und ein
Meer von anderen Dingen zwischen Einst und Jetzt.
Ich
weiß, dass mir diese Nähe zu meiner Familie nur noch selten zuteil sein wird.
Und dass keine Reichtümer der Welt diese Zusammengehörigkeit ersetzen können.
Wir werden nur als Wrackteile eines Ganzen existieren. Sicherlich
unwiederbringlich.
Heute
ist es windstill und bewölkt. Rom winkt aus der Ferne zwischen den Hügeln. Zu
Ostern will Robert uns durch die Stadt führen, auch bis zum Vatikan.
Nachmittags
ist es wieder windig. Dominique geht mit Lora spazieren. Ich halte nicht mit.
Die gestrigen Kopfschmerzen reichen mir. Auch heute fühle ich, dass es wann
immer losgehen kann und ich habe nur noch eine einzige rettende Tablette. Gerne
möchte ich von hier ein wenig raus kommen, mehr sehen. Jetzt langweile ich
mich.
Es
ist 8 Uhr abends und ich lege mich schlafen. Fernsehen hat keinen Sinn, ich
verstehe nichts davon und meine Augen schmerzen von dem Flimmern.
08.04.1993.
Der gestrige Mittagsschlaf und das frühe Zubettgehen hat mir meine Nachtruhe
gestört. Schon morgens um drei Uhr bin ich wach um drehe mich von einer Seite
auf die andere. Dann ein brennender Schmerz im linken Oberschenkel und ich kann
mich nicht mehr bewegen. Paul muss mir meine Salbe zum Einreiben bringen und
erst gegen sechs Uhr morgens wirkt sie scheinbar. Erst dann schlafe ich wieder
ein. Um acht Uhr stehe ich mit Schwindelanfällen auf. Den ganzen Tag erhole ich
mich kaum. Obwohl ich wasche und koche, aufräume, in der Hoffnung, es wird
schon.
Italien
habe ich mir anders vorgestellt. Und ständig dieser Wind. Überall im Haus zieht
es. Obwohl heute die Sonne scheint, traue ich mich nicht so recht hinaus. Im
Haus ist es dunkel und kalt. Der Hof wimmelt von Eidechsen und man muss
aufpassen, dass sie nicht ins Haus schleichen
Morgen
wird nicht gearbeitet. Nur Robert muss arbeiten gehen. Die Mädels, die in
Rumänien alle gute Jobs hatten, haben es nicht leicht, hier diese
Knochenarbeit zu leisten und freuen sich auf den freien Tag.
09.04.1993.
Wind. Schwindel. Es scheint nicht mehr aufhören zu wollen. Mein Kopf hängt
zwischen meinen Schultern wie eine Bleikugel.
Habe
mir ein Kopftuch ungebundenen und sehe wie eine alte Baba aus Rumänien aus.
Aber es hilft. Nachmittags geht es mir schon besser.
Lora
spielt mit ihren Eltern vor dem Haus. Sie ist fröhlich und aufgelöst. Es ist
das, was wir ihr nicht geben können, Paul und ich. Dieses fröhliche Herumtollen
braucht jedes Kind. Dominique hat ihr ein Armband, eine Halskette und eine Uhr
gekauft. Vielleicht ein bisschen zu viel Gold für ein Kind. Doch sie hat die
Kleine so lange nicht gehabt, jetzt möchte sie ihr die halbe Welt schenken.
Morgen wollen wir nach Rom. Hoffentlich wird es nicht wieder so windig und
kalt.
10.04.1993-Ostersonntag.
Das Wetter ist wunderschön. Wie ein Geschenk Gottes.
Rom
ist jetzt tatsächlich das Schönste, das ich je gesehen habe. Die Spanische
Treppe, der Petersplatz, der Petersdom, das römische Forum, das Pantheon, das
Kolosseum- wie viele Wunder beieinander. Überwältigend auch die Trajanssäule.
Hier wird die ganze Geschichte des rumänischen Volkes erzählt. Die Geschichte
der Daker und Römer- die Vorfahren der Rumänen.
Habe
so viele Filme über Rom gesehen, Ansichtskarten, und so weiter, doch alles
selbst zu erleben, ist etwas ganz Besonderes. Ich muss oft meinen Atem
anhalten, so überwältigt bin ich. Wie viel Zauber und wie viel Kraft liegen in
diesen gewaltigen Bauten. Niederknien möchte ich und staunen. Der Petersdom ein
Grandiosum.
So
stehe ich dann auch vor Michelangelos Pieta. Die Welt um mich herum existiert
für einige Momente nicht mehr.
Als
ich mich wieder umdrehe, von meiner Familie keine Spur. Der Dom wimmelt von
Touristen. Die Menschenmenge löst in mir Panik aus. Meine Blicke suchen
verzweifelt nach meinen Lieben, aber ich bin allein auf der Welt, zwischen
hunderten Japanern und dunkelhäutigen Menschen. Ich bin so verzweifelt, dass
ich am ganzen Leib zitterte. Ich habe kein Geld dabei, kenne die Sprache nicht
und wüsste nicht, an wen ich mich wenden soll, um aus dieser Situation zu
entkommen. Ich flüchte panikartig aus dem Dom, stelle mich unten an die
Treppen, mit dem Rücken zur Wand und bin nicht mehr fähig zu denken. Nach
ungefähr zehn unendlich langen Minuten, oder war es ein Jahrtausend, entdecke
ich Dominiques dunklen Haarschopf. Ich rase auf sie zu, so gut es geht in
dieser Menge und als ich sie wieder habe, meine so vermisste Familie, stelle
ich fest, dass Robert kreidebleich ist. Er hält mir eine Strafpredigt, die ich
mir schuldbewusst anhöre. Obwohl ich noch immer nicht weiß, hatte ich sie
verloren oder sie mich.
Dann
geht es noch eine Weile durch die Stadt. Ich habe schon so viele Fotos
geschossen, dass Robert mir droht, keine Filme mehr zu kaufen. Ich bin wie in Trance.
Ich sehe mich im alten Rom, inmitten der Patrizier, Gladiatoren, der Cäsaren,
inmitten einer Welt, die längst versunken ist. Das ist leicht auf den Straßen,
wo es kaum Touristen gibt. Kommt man aber dahin, wo es eine auffällige
Sehenswürdigkeit gibt, dann holt einen das Geklicke der Fotoapparate, das Hupen
und Tuten in die Wirklichkeit zurück.
Dass
ich das noch erleben durfte! Veni, vidi, vici!
13.04.1993.
Es ist Zeit, dass wir gehen. Ich habe den Eindruck, dass wir den Kindern eine
zusätzliche Last sind. Obwohl sie sich bemühen, es nicht zu zeigen. Doch ich
weiß, wie anstrengend es sein kann, stundenlang zu schuften und dann nicht mal
zu Hause eine Oase der Ruhe zu haben.
Donnerstag
um 20 Uhr 40 haben wir den Zug in unsere Wirklichkeit zurück.
Italien
werde ich als Kleinod in meinem Herzen mit mir nehmen. Jetzt möchte ich nur
noch das Meer sehen. Und dann sind meine Batterien wohl für längere Zeit wieder
aufgeladen.
Mache
mir Sorgen. Lora hat plötzlich am ganzen Körper Bläschen. Wohl eine allergische
Reaktion auf etwas Ungewohntes.
14.04.1993.
Lora hat sich von dieser Allergie recht gut und schnell erholt. Ich bin beruhigt.
Heute
fahren wir mit dem Bus nach Torvaianica, ans Meer. Der Höhepunkt. Das
Tüpfelchen auf dem viel erwähnten i.
Ich
kann sogar mit den Füßen im Wasser stehen. Ich dachte, sie werden mir
einfrieren. Aber es ist angenehm und ich fühle mich wie neu geboren.
Eigentlich
ist es nur eine riesige Badewanne. Die sich scheinbar selbst säubern kann,
sonst würde sie zum Himmel stinken. Aber wenn ich diese Badewanne sehe, brauche
ich nichts weiter. Ich bin satt und zufrieden und könnte eine Ewigkeit am
Strand stehen.
Wissenschaftler
behaupten, dass der Ursprung des Lebens im Meer sein sollte. Ich kann mir zwar
nicht vorstellen, wie meine Urknallahnen so lange ohne Schwimmweste im Meer
ausgekommen sind, aber sicherlich machte es denen auch einen Riesenspaß mit dem
Bauch in der Sonne am Strand zu liegen. Oder diesem Perpetuum-mobile der Wellen
zuzusehen.
Ich
bin wie verzaubert.
15.04.1993
Vera
und Adua mit Tochter kommen zu Besuch. Die beiden Italienerinnen haben einen
gestörten Lautstärkeregler. Sie können nicht leiser sprechen. Wenn unsereins
schon heiser wäre, kommen die erst in Fahrt. Dann kommt Roberts Meister und
auch Dominiques Patron, der uns zum Bahnhof fahren will.
Ich
versuche mich zu beherrschen, aber mein Herz tut weh, wenn ich Dominiques
versteinertes Gesicht sehe. Sie muss sich wieder von ihrem Kind trennen. Für
wie lange Zeit? Ich empfinde tiefes Mitleid für alle.
Am
Bahnhof weint Lora bitterlich. Wir haben alle Tränen in den Augen.
Lora
und ich weinen ihm Zug weiter. Ich müsste mich beherrschen, das Kind trösten.
Es gelingt mir erst weit nach Mitternacht. Als ich mich endlich auch beruhigt
habe. Sie fragt mich, warum wir nicht alle zusammen sein können. Ich erklärte
ihr, dass ihre Eltern hier nicht gern gesehen sind und dass sie wann immer
abgeschoben werden können. Und warum kommen sie nicht nach Deutschland? Weil
sie da auch nicht leben dürfen, mein Kind.
Sie
fragt mir Löcher in den Kopf. Und ich muss auf alles eine Antwort parat haben.
In
meinen Armen schläft sie dann müde und sich fest an mich klammernd, ein.
16.4.1993.
Wir sind in Wolfsberg bei den Meders.
Elisabeth
hat uns vom Bahnhof abgeholt. Bilder vom Hof hab ich schon gesehen, aber diese
Dimensionen in der Wirklichkeit zu erleben, ist etwas ganz Neues. Ein so großes
Gut konnte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Es ist alles so
wunderschön. So gepflegt. So einmalig.
Das
einstöckige Gutshaus ist sehr geräumig und ich habe den Eindruck, dass ich hier
so frei atmen kann wie noch nie. Alle Räumlichkeiten sind traditionell
ausgestattet. Für uns etwas Neues. Vor allem unser Schlafzimmer, mit dem
schneeweißen, sauberen Bettzeug, ist wie ein lang ersehntes Geschenk, auf das
ich mich riesig freue. Wie auf ein Nachhausekommen in einen lang erträumten
Traum.
Das
Gut wird von Elisabeth und Herbert bewirtschaftet. Die beiden Söhne sind in
Lehre auf anderen Bauernhöfen und die kleine Kathrin, in Loras Alter, scheint sich
richtig auf unseren Besuch zu freuen.
Die
Ställe sind von riesigen Ausmaßen. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie zwei
Menschen das hier alleine bewältigen können. Allerdings ist alles mechanisiert
und auf dem höchsten Stand der Technik. Trotzdem gibt es keinen Stillstand.
Zwischen morgens fünf bis abends 20Uhr wird nur zur Mittagszeit und zur
Brotzeit eine Pause eingelegt. Ich bewundere diese Leute.
Wir
wurden so freundlich empfangen und alles ist so familiär, als würden wir uns
seit ewigen Zeiten kennen. Es gibt überhaupt kein Gefühl von Fremdsein. Da die
Meders beschäftigt sind, sehe ich mich im Haus um. Während Paul versucht,
Herbert in den Ställen zur Hand zu gehen, Elisabeth sich ans Kochen macht,
mache ich mich im Haus nützlich. Natürlich kann Elisabeth nicht alles
hundertprozentig bewältigen. Ich mache mich ans Fensterputzen, reinige die
ultramodernen Bäder und Toilettenräume. In dieser Atmosphäre von Arbeit und
wunderschöner Umgebung macht das Putzen auch richtig Spaß.
Abends
habe ich schon wieder diese fürchterliche Kopfschmerzen und Brechreiz.
10.04.1993.
Wir sind bei Elisabeths Schwester, Rosie, zu Besuch. Franz, ihr Mann und die
beiden erwachsenen Kinder Florian und Elfriede sind genau so natürlich und
freundlich wie die Meders. Keine Spur von Hochnäsigkeit und Kälte, von der mich
alle, die mal in Deutschland waren, in Rumänien gewarnt hatten. Ich habe den
Eindruck, dass ich in einen schönen Traum gelandet bin.
11.04.1993.
Schon wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen und Übelkeit. Kann mit den
Meders leider nicht zum Gottesdienst gehen. Bin in dem riesigen Haus alleine.
Etwas mulmig ist mir schon zumute.
Um
14 Uhr gibt es wieder eine Andacht. Jetzt kann ich mit. Danach fühle ich mich
richtig wohl.
Elisabeth
fährt uns zu einem Volksfest. Hier bin ich etwas enttäuscht. Zwar habe ich so
was im Farbfernsehen schon mal gesehen, doch die Wirklichkeit ist bei weitem
nicht so strahlend. Lärm und Saufen waren nie meine Welt und erwecken
zusätzlich noch dunkle Erinnerungen an Pauls Alkoholexzessen.
Lora
und Kathrin fahren Karussell. Ich sehe die panische Angst in Loras Augen, als
sie durch die Luft gewirbelt wird. Ich kann ihr leider nicht helfen. Da muss
sie jetzt alleine durch.
Elisabeth
zeigt mir einen leibhaftigen Grafen. Es tut mir leid, Herr Graf, aber du siehst
wie dein eigener Schweinehirt aus. Auch als ich später sein mittelalterliches
Schloss sehe, bin ich von dem Geschmack seiner Vorväter nicht sehr begeistert.
Die
Menschenmasse macht es wahrscheinlich, dass ich plötzlich Sehnsucht nach Berlin
bekomme.
19.04.1993.
Bin wieder bei Rosie. Sie bringt mich zu einer Familie, die aus Rumänien
stammt. Sie wohnt seit 30 Jahren hier. Scheinen mir, trotz ihrer guten
finanziellen Lage, etwas verbittert zu sein. Werden wir nach zwanzig Jahren
Deutschland genauso traurige Gesichter haben, weil sich unsere Vergangenheit
darin verewigt hat?
Dann
sitzen wir eine Zeit lang noch bei Rosie zusammen, bis Florian mich nach Hause
fährt. Ein überaus netter und gut erzogener Junge, dieser Florian. Seinen
offenen Blick und die lachenden Augen empfinde ich wie einen Sonnenschein. Im
September will er mit seinem Vater zu uns nach Berlin kommen, weil da eine
Funkausstellung stattfindet. Ich freue mich schon darauf.
Nachher
fährt mich Elisabeth zu einem rumänischen Ehepaar, das mit zwei Kindern seit
fast drei Jahren hier wohnt. Beneidenswerte Leute. Die haben ein Glück gehabt,
das nicht alltäglich ist. Sie wohnten hier einige Zeit bei einer alten Frau.
Kurze Zeit darauf starb diese und hinterließ den beiden dieses schöne Haus mit
allem Drum und Dran. Sie fühlen sich hier sehr wohl und haben überhaupt kein
Heimweh. Genau wie ich. Dann bin ich also nicht so ungeartet.
20.04.1993.
Elisabeth hat uns in die nahe Stadt zu einem Bummel eingeladen. Viele
Geschäfte, ein toller Supermarkt. Sie zeigt uns Kathrins Schule. Die finde ich
recht komisch. Sieht nicht wie eine Schule aus. Eher wie ein Goldgräberlager in
Alaska.
Paul
arbeitet mit Herbert von früh bis spät auf dem Hof. Es macht ihm sichtliche
Freude und er ist so gut gelaunt wie seit langem nicht. Elisabeth schlägt uns
vor, hier zu bleiben, bis wir in der Stadt eine Bleibe gefunden haben. Die
Kellerräume sind wunderschön ausgebaut. Überall schöne Fliesen und Kacheln. Die
Räume hell und freundlich und eine bessere Wohnung könnte ich mir erstmals
nicht vorstellen.
Trotzdem.
Ich möchte mich nicht wieder in eine Abhängigkeit begeben. Dreißig Jahre haben
mir gereicht. Wieder Rücksicht auf andere nehmen, wieder nachfragen, ob man
dies oder jenes darf. Und wenn ich eine Flasche Wasser haben möchte, soll ich
Elisabeth bitten, ihre 80 Rinder im Stich zu lassen und mich in den Supermarkt
zu fahren?
Paul
wäre hier sicherlich glücklich. Ich kann und will aber meine Unabhängigkeit
nicht mehr aufgeben. Meine vorsichtige Absage treffen Elisabeth und Herbert
mehr, als ich es geahnt hätte. Es scheint, dass sie sich vielleicht schon seit
Monaten mit diesen Gedanken beschäftigt hatten, uns so entgegenzukommen. Das
macht mir ein schlechtes Gewissen. Aber ich will nicht wieder schwach werden,
mich wieder in den Hintergrund stellen, um anderen Menschen nicht weh zu tun.
21.04.1993.
Abschied von Wolfsberg. Elisabeth weint, als wir weggehen. Herbert bringt uns
zum Bahnhof und beim Abschied stehen uns allen die Tränen in den Augen. Nette
Leute, ist zu wenig gesagt. Sie waren wie Geschwister für uns.
Der
Weg führt "heim". Ich bin schon gespannt auf Berlin.
Wir
hätten eine Platzkarte kaufen müssen. Der Schaffner brummt vor sich hin, lässt
uns dann aber im Abteil sitzen. Die Gegend scheint nicht mehr so trostlos zu
sein, wie damals als wir aus A. gekommen sind. Es grünt und blüht überall.
Berlin sieht, wie die meisten Städte, vom Zug aus gesehen, nicht gut aus.
Am
Bahnsteig empfängt uns eine ekelhafte Schwüle. Es wird mir übel. Auch Paul ist
schlecht gelaunt. Wir sind alle müde.
Zuerst
gehen wir zur Oma rüber, um unseren Schlüssel zu holen. Sie reicht mir unsere
Post, erkundigt sich noch, wie es uns geht. Dann sind wir wieder zu Hause.
Die
Umgebung ist mir wieder fremd. Aber das ist immer so, wenn man aus dem Urlaub
zurückkommt. Nach unserer bayerischen Erfahrung kommt mir hier alles sehr trist
und ärmlich vor. Ich stürze mich auf die Post, beantworte Briefe und vergesse
bis Viertel vor Mitternacht, dass wir noch einen langen Weg bis an ein
akzeptables Ziel haben werden.